"Hier zu sterben, kann ich mir vorstellen, denn ich fühle mich hier glücklich", sagt Alexander. Der 67-Jährige ist seit 13 Jahren Bewohner des Vinzidorfes in Graz. In seinem roten Container hat er auf sieben Quadratmeter alles, was er zu seinem Leben braucht – unter anderem seinen Kräuterlikör. "Ja, ich bin schwerer Alkoholiker. Das hat mir mein Leben zerstört." Früher war Alexander Ingenieur, arbeitete bei Siemens. Nach der Scheidung ging "alles den Bach runter". Konkreter möchte er nicht werden. Jetzt ist er Bewohner des Vinzidorfes in St. Leonhard. Dort bekommt er Verpflegung, Betreuung und hat eine neue Heimat und Freunde gefunden. Wo er ohne das Vinzidorf wäre, möchte er sich wohl nicht ausmalen. Jeder der derzeit 38 Bewohner im Vinizidorf hat seine eigene Geschichte.
Viele Geschichten, eine Konstante: Alkohol
Doch eines eint sie: Sie haben sonst keinen Platz, wo sie bleiben können. Ausgelöst von persönlichen Umständen, hat es sie oftmals in psychische Probleme, die Alkoholsucht oder beides getrieben. So auch bei Karel. Der gebürtige Niederländer ist vor 24 Jahren nach Österreich gekommen – für die große Liebe. In der Coronazeit verlor der Sales- und Marketingmanager, der fünf Sprachen spricht, seinen Job, die Firma ging Konkurs. Mit fast 60 Jahren schaffte er es aus eigenem Antrieb nicht mehr, beruflich Fuß zu fassen. Dann kam der Alkohol dazu.
Die Beziehung zerbrach, Karel landete auf der Straße. Er schlief wochenlang auf einer Parkbank hinter der Kirche St. Vinzenz in Eggenberg. Dort entdeckte ihn Pfarrer Wolfgang Pucher und bot ihm einen Platz im Vinzidorf an. "Der Pfarrer meinte, so könne es nicht mehr weitergehen." Zehn Bier trank Karel zu dieser Zeit, um den Schmerz und die Leere zu ertragen. Heute ist es besser, Karel trinkt noch immer Alkohol, doch reduziert er die Menge zunehmend. "Ich möchte wieder ein eigenständiges Leben führen. Das ist mein ganz großes Ziel", erklärt Karel, der demnächst seinen 60. Geburtstag feiert.
Zu Beginn gab es Anfeindungen, Drohungen und Kritik
30 Jahre ist es her, dass der kürzlich verstorbene Pfarrer Pucher, der Armenpfarrer von Graz, das Vinzidorf ins Leben rief. Mit einem Container im Rücken und einer Menge Widerstand konfrontiert, begann er, seine Vision eines Zufluchtsorts für Obdachlose in die Tat umzusetzen. Dabei verzichtete er auf ein Alkoholverbot, da die Männer ansonsten die Einladung nicht angenommen hätten. Einen geeigneten Platz zu finden, stellte sich dabei als fast unmöglich heraus. Heftige Kritik, Drohungen und Beschimpfungen der besorgten Grazer Bevölkerung brachen auf den Pfarrer herein. "Ich will sehen, wie sie den Pfarrer blutig heraustragen", soll ein Teilnehmer vor einer Bezirksversammlung gesagt haben, bei der Pfarrer Pucher sein Projekt vorstellte. Ein Obdachlosendorf in der Nachbarschaft, das wollte niemand. Die Angst vor Gewalt und Eskalation war groß. Innerhalb der Mauern des Friedhofs St. Leonhard wurde man fündig.
Heute wird gefeiert
Am 1. Dezember 1993 eröffnete dort das erste Containerdorf für schwer alkoholkranke obdachlose Männer in Österreich. Und es wurde zum Erfolg: 332.500 Nächtigungen gab es seitdem, die Ehrenamtlichen (derzeit rund 80) leisteten 275.000 Stunden und 520 Bewohner lebten im Vinzidorf. Zahlreiche Leben konnten verlängert und in ihrer Qualität aufgewertet werden. Viele Bewohner verbringen hier ihren Lebensabend.
Die Horrorszenarien sollten sich nicht bewahrheiten. "Es gibt Tage, die schwieriger sind als andere. Aber wenn uns Menschen besuchen kommen, sind sie oft überrascht und ihr Bild verändert sich zum Positiven", erzählt Sabine Steinacher, die seit 2010 das Vinzidorf leitet.
Heute besteht die Möglichkeit, mehr über das Vinzidorf zu erfahren. Ab 13 Uhr gehen die Tore zum Tag der offenen Tür auf und 30 Jahre Vinzidorf wird gefeiert.