Vor einem Jahr lag der norwegische Skispringer Daniel Andre Tande im Zielraum von Planica, rund um ihn Hektik. Nach einem Horrorsturz war die Rettungskette angelaufen – Wiederbelebungsmaßnahmen, Intubation, Lungenpunktion. Der 28-Jährige lag mit Hirnblutungen im künstlichen Koma. Und sein Trainer rang selbst um Luft. In Momenten wie diesen stellt man alles infrage. Auch der Tiroler Alex Stöckl, der die Norweger seit Jahren an der Weltspitze hält. „Das war ein extrem schwieriger Moment. In der ersten halben Stunde war nicht klar, ob er es überlebt. Und plötzlich machen sich Zweifel breit. An diesem Tag bin ich an meine Grenzen gekommen“, verdeutlicht Stöckl das Dilemma. Vor zwei Wochen lösten sich alle Sorgen und Strapazen endgültig in Luft auf: Tande siegte just daheim am Holmenkollen, Planica lässt er aber diesmal aus. „Unglaublich. Kaum zu glauben, was er leistet. Und auch, dass er überhaupt noch Spaß am Skispringen hat“, sagt Stöckl, der seit elf Jahren die Norweger zu Stars formt.
Der Tiroler steht ungern selbst im Rampenlicht. Sein Erfolgsgeheimnis klingt allerdings einleuchtend: „Mir geht es um das Gemeinsame.“ Er selbst kann „von allem etwas, aber perfekt bin ich nirgends“. Die Lösung: „Wir haben Spezialisten in allen Bereichen. Das Wichtige ist, ihnen Verantwortung zu geben, sie machen zu lassen. Gemeinsam Dinge zu erarbeiten und zu entscheiden, das macht ein starkes Team aus.“ Der 48-Jährige ist introvertiert, wird nie laut, „aber direkt. Man muss Dinge kritisch betrachten, doch sollte niemals persönlich werden.“ Seine Prämisse: Flexibel bleiben, um nicht zu schubladisieren, „aber sich und das System pausenlos hinterfragen. Das Schlimmste wäre, stehen zu bleiben.“
"Es gibt viele, die was ganz Spezielles haben"
Einen „Paradeathleten“ im Team gebe es nicht. "Jeder hat seine Vorzüge. Marius Lindvik, Olympiasieger und Skiflug-Weltmeister 2022, besitzt die Fähigkeit, sich perfekt zu fokussieren. Johann Forfang ist der gefühlsbetonte Springer. Tande strahlt positive Energie aus, Robert Johansson ist mit seiner Erfahrung „Vaterfigur“ im Team, emotionaler Ausgleich. Dazu kommt Halvor Granerud, ein akribischer Arbeiter. „Er kann sehr kritisch sein, was ich äußerst spannend finde. Wer will auch nur Ja-Sager?“ Zusammengefasst: "Es gibt keinen, der alles hat, aber viele, die was ganz Spezielles haben.
Höhepunkte gab es zahlreiche. Zu viele, um sie zu nennen, zu reihen. „Letztlich ist es für mich das Schönste, wenn ein Sportler etwas erreicht, dass er sich im Traum nicht erhofft hätte. Da geht es eben nicht nur um Siege.“ Skispringen liegt in der Familie. Stöckls Vater etwa arbeitet an der Entwicklung eines speziellen Skisprungschuhs. „Wir wollen mit einem Karbonschuh springen, der viel länger hält und stabiler ist. Ein langwieriger, aufwendiger Prozess. Aber enorm interessant.“
"Es geht um den mündigen Athleten"
Ein häufig verdrängtes Thema bei Skispringern ist die körperliche Komponente. Vor Jahren bekam man den Gedanken nicht aus dem Kopf, der ein oder andere gleicht einem Zündholzstaberl. Stöckl zufolge habe sich die Problematik gebessert. „Die Athleten sind grundsätzlich sehr leicht. Das Körpergewicht beeinflusst die Leistung und das Leistungsgewicht ist individuell unterschiedlich. Auch die Genetik spielt eine Rolle. Ich bin der Meinung, dass es uns die Wissenschaft ermöglicht, dass wir die optimale Lösung eines jeden Einzelnen finden. Die Springer müssen das Verständnis dafür bekommen und erkennen, was ihren Körper guttut. Es geht letztlich um den mündigen Athleten.“
Vor elf Jahren kam der Ruf aus Norwegen
Der Traum von der eigenen Karriere war für den St. Johanner mit 21 beendet. „Ich war nicht stark genug. Ich bin aus dem Kader geflogen, musste alles selbst finanzieren. Irgendwann ging die Motivation flöten“, erklärt Stöckl, der ein Sportwissenschaft/Management-Studium abschloss. Seine erste Trainerstation: Kindertrainer in Kitzbühel: „Da habe ich gemerkt, dass mir das Coachen irrsinnig Spaß macht. Es gibt nichts Schöneres, als wenn sich Kinder entwickeln.“ Über den Landesverband und den Job als Co-Trainer im A-Team (1996) landete er für zehn Jahre in der „Skispringer-Schmiede“ Stams. Dann kam der Ruf aus Norwegen, wo er seit elf Jahren werkt - erfolgreich. „Eine lange Zeit mit ständig neuen Herausforderungen. Ich habe versucht, einen Teil der österreichischen Philosophie zu implementieren.“ Mittlerweile ist er vom Trainer zum „Dirigenten“ des Teams geworden.
Ein „völlig normales“ Familienleben ist aufgrund des Jobs schwierig, die Familie ist trotzdem Ankerpunkt. „Meine Frau Ina und ich haben unseren Lebensmittelpunkt nach Oslo verlegt, auch unsere Tochter Isabell (6) wurde hier geboren. Und ohne die Unterstützung meiner Frau hätte es ohnehin nie so lange geklappt“, erzählt der 48-Jährige und gesteht: „Ich habe mir vorgenommen, ein ‚besserer’ Familienvater zu werden. Mir fällt es schwerer als früher, mich zu verabschieden. Dafür ist die Freude, wenn ich heimkomme, umso größer.“ Apropos Heimkommen: Die Rückkehr nach Österreich scheint unwahrscheinlich, auch wenn sein Vertrag in Norwegen im Mai ausläuft. „Denn die Tendenz in Richtung Verlängerung sieht gut aus.“