Am 29. Dezember hebt die Vierschanzentournee in Oberstdorf in ihre 70. Auflage ab. Wie fühlt es sich an, erstmals kein Teil des Ganzen zu sein?
Gregor Schlierenzauer: Es fühlt sich eigentlich ganz normal an, weil ich ja diesen Schritt bewusst für mich gewählt habe. Es ist jetzt eben ein anderer Lebensrhythmus, wenn man aus diesem Radl aussteigt. Und die Weihnachtszeit ohne die Tournee und den ganzen Rummel und Stress ist auch etwas Schönes. Ich werde die Tournee bestimmt verfolgen, aber eben anders.

Werden Sie bei einer der Stationen live dabei sein?
Ich bin vom ZDF für das Neujahrsspringen in Garmisch eingeladen worden. Dort ist während den beiden Durchgängen ein Talk mit anderen ehemaligen Skispringern geplant. Ob ich sonst noch wo vorbeischauen werde, weiß ich noch nicht.

Vermissen Sie das Skispringen bereits? Und wenn ja, was davon am meisten?
Vermissen tu ich zurzeit noch nichts, abgesehen vielleicht vom Adrenalinschub. Aber es geht mir gut dabei, ich regeneriere derzeit noch körperlich und geistig. Ich blicke dankbar zurück, es war eine tolle Reise und geile Zeit, mit tollen Fights sowie emotionalen Höhen und Tiefen. Doch dieses Buch schließt sich gerade für mich und das kann ich für mein weiteres Leben mitnehmen.

Viele ehemalige Spitzensportler sagen, dass der Schritt ins "normale Leben" schwierig ist. Wie geht es Ihnen dabei?
Das normale Leben ist etwas Unbekanntes und man muss sich erst daran gewöhnen. Aber es ist noch nie ein Meister vom Himmel gefallen. Aber ich nehme es wie im Sport an und lerne viel dazu. Der Tag ist nicht mehr so durchgetaktet und ich muss erst meinen Rhythmus finden. Mein Glück ist, dass ich nicht von heute auf morgen Geld verdienen muss. Ich mache derzeit eine Immobilien-Ausbildung und die fordert mich genug. Ich möchte Schritt für Schritt ins Berufsleben finden. Ich habe aber keinen Bammel davor, habe lange überlegt, was mich reizt. Ich fühle mich gut aufgehoben und bin gespannt, wohin die Reise geht.

Sie haben in den letzten Jahren immer betont, Sie würden gerne noch einmal das Gefühl des Siegens erleben. Das ist Ihnen aber verwehrt geblieben.
Es ist mir nicht ums Siegen gegangen, sondern um die Herausforderung. Der habe ich mich mit all den Veränderungen bei den Regeln und beim Material gestellt. Und ich würde es wieder so machen. Auch wenn ich nicht mehr so erfolgreich war, waren die letzten Jahre vielleicht sogar meine erfolgreichsten, weil ich in dieser Phase extrem viel gelernt und an meiner Persönlichkeit gearbeitet habe. Das hat mir als Mensch sehr gutgetan. Und aufgeben tut man gleich einmal, durchhalten ist viel schwerer.

Vermissen Sie bereits das Gefühl des Fliegens? Marcel Hirscher kann jederzeit auf eine Piste gehen und skifahren - als ehemaliger Skispringer ist das ja nicht so einfach.
Das stimmt. Skispringen ist eine dieser Sportarten, die diese Herausforderung nach dem Karriereende mit sich bringt - man kann nicht einfach so einmal skispringen gehen. Aber ich habe auf meiner Habenseite viele tolle Erinnerungen, Gefühle, Momente. Ich weiß noch nicht, ob ich jemals wieder eine Schanze hinunterspringen werde.

Ihr Stern am Skisprung-Himmel ist bereits mit 16 Jahren aufgegangen. Ist man in diesem Alter noch zu jung für all das, was da auf einen niederprasselt?
Zu früh war es bei mir nicht, sonst wäre es nicht passiert. Es ist schön, dass man im Springen schon als junger Athlet vorne mitmischen kann. Aber in jedem Prozess gibt es eine Kehrseite der Medaille. Es ist schon enorm, wenn man als 16-Jähriger voll dabei ist, immer in der Öffentlichkeit steht und bewertet wird. Auf das kann man sich nur schwer vorbereiten und es führt zu einem Entwicklungsprozess der Persönlichkeit. Da gibt es kein Patentrezept, man muss für sich selbst den richtigen Weg finden. Aber es gibt Tools und Menschen, die einem helfen können. So gesehen ist der Sport schon eine große Lebensschule.

Haben Sie zu Hause die oft zitierte Vitrine, wo Sie all Ihre Pokale aufbewahren? Und welche ist Ihre wichtigste Trophäe?
Ich habe einen kleinen Schrank, wo meine wichtigsten Pokale und Medaillen sind. Aber das hat für mich nicht die Oberbedeutung. Die Dinge, die man zwischen den Erfolgen erreicht hat, zählen eigentlich mehr. Es gibt Tage, an denen ich stolz und dankbar für das Erreichte bin, und dann spielt es wieder keine große Rolle. Man darf sich auf alle Fälle nicht zu wichtig nehmen. Ich wurde einmal gefragt, wenn ich mit Fotos meine Karriere bewerten würde, welches das Schönste wäre. Aber für mich ist meine Karriere mehr wie ein Film mit mehreren Stationen, die farblich unterschiedlich untermalt sind. Und jeder Moment war auf seine Art etwas Besonderes.

Einige ehemalige Skispringer sind dem Fliegen treu geblieben und haben eine Pilotenausbildung gemacht. Ist das für Sie kein Thema?
Ich habe zweimal kurz darüber nachgedacht, doch es war bisher nie so richtig reizvoll für mich. Ich folge lieber meinen neuen Leidenschaften - da sind Architektur und Design.

Haben Sie durch Ihre erfolgreiche Karriere finanziell ausgesorgt?
Darauf antworte ich immer, dass das auf den Lebensstil ankommt. Ich bin dankbar für meine privilegierte Situation, dass ich erfolgreich sein und Geld verdienen konnte. Ich hatte immer tolle Partner und darf mich nicht beklagen. Aber wir reden hier von einem Skispringer und nicht von einem Tennisspieler, Golfer oder Formel-1-Fahrer. Das sind schon noch einmal ganz andere Dimensionen.

Können Sie sich vorstellen, in Zukunft auch im Skisprung-Bereich zu arbeiten?
Jetzt ist es für mich wichtig, Abstand von dem Ganzen zu halten. Aber der Sport wird immer einen Platz in meinem Herzen haben. Als künftigen Trainer sehe ich mich nicht, aber ich kann mir schon vorstellen, da zu helfen oder in irgendeiner Form mitzuwirken.

Welchen großen Traum wollen Sie sich noch erfüllen?
Für mich ist wichtig, dass ich gesund bleibe und weiterhin das Leben führen kann, das mir Spaß macht und mich erfüllt. Schön wäre es auch, wenn meine Familie irgendwann wachsen würde.

Apropos Gesundheit - wie erleben Sie die Corona-Pandemie?
Es ist definitiv eine große Herausforderung. Als Athlet war es mitunter sehr mühsam. Eigentlich hätte ich jetzt die Zeit für die Familie, meine Freunde und das Reisen, aber das kommt jetzt nicht infrage. Aber diese Herausforderung hat jeder und ich hoffe, dass wir bald aus dem Schneider sind. Derzeit können wir nur das tun, was uns die Experten sagen. Ich nütze die Zeit für meine Ausbildung, aber es fehlt eben die Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Das vermisse ich sehr.