Als Nina Ortlieb im Ziel abschwang und auf der Anzeigentafel Platz zwei und einen Rückstand von 0,04 Sekunden auf die Schweizerin Jasmine Flury erblickte, da war sie nicht wirklich begeistert. Kein Wunder, die vermeintlich Besten standen da ja noch am Start. Doch die Abfahrt der Frauen in Meribel entpuppte sich, wie schon manch anderes Rennen dieser WM, nicht unbedingt als Paradies für Favoriten. Zunächst entging Sofia Goggia nur knapp dem nächsten Sturzdrama, doch WM-Gold bleibt der Italienerin nach einem Einfädler in der Abfahrt weiter verwehrt.
Dann schien die Strecke vom Roc de Fer nicht wirklich schneller zu werden. Und so gewann die Zeit mehr und mehr an Wert – und hielt.
Österreichs "schnelle" Damen sorgten damit für die nächste Medaille – und die ist eine besondere Geschichte, ist Nina Ortlieb doch nicht nur Tochter des Olympiasiegers und Weltmeisters Patrick, der nun im ÖSV für Finanzen und den Alpinsport zuständig ist, sondern in gewisser Weise auch ein kleines Sportwunder. Denn kaum jemand musste so viele Operationen über sich ergehen lassen wie die Vorarlbergerin. Aber tatsächlich niemand stand so oft wieder auf wie sie.
"Ich kann so schlecht lügen", meinte die 26-Jährige auf die Frage, ob es wirklich 18 Operationen gewesen seien in ihrem Leben, und antwortete: "Es waren 19." Die letzte erst vor wenigen Tagen, nach dem Sturz in Cortina musste ein Hämatom an der Hüfte "durchgespült" werden, erst am Donnerstag wurden die Fäden entfernt. "Aber", sagte Ortlieb mit einem Lächeln, "es war die kürzeste Operation meines Lebens, in elf Minuten war alles vorbei."
Umso bewundernswerter, wie akribisch sie sich auf diese WM vorbereitete, Training für Training zulegte. "Und nach dem Videostudium habe ich schon gewusst, dass die Chance auf eine Medaille da ist, aber das dachten sich wohl mehrere", erklärte sie trocken. Denn, so gestand sie, mit Emotionen tut sie sich schwer. "Ich bin dann oft sehr nüchtern und kann das gut analysieren, was alles passiert ist." Doch der Moment, als die Medaille dann um den Hals hing, der war anders: "Da wird man schon einmal emotionaler und kann das Ganze realisieren." So oder so: "Es ist ein spezieller Moment für mich. Aber ich hoffe ja, dass es nicht das letzte Mal ist, dass ich da sitzen darf."
Erst vor einer Woche war klar, dass Ortlieb zur WM kann
Was wieder dazu führt, welch Sensation es ist, dass sie überhaupt bei der WM am Start ist. 2021 zog sie sich ein Totalschaden im rechten Knie zu – Kreuzband, Innenband, Außenmeniskus und Patellasehne waren gerissen. Diesen Winter begann sie mit einem zweiten Platz in Lake Louise, der ihr in Meribel die Qualifikation ersparte, doch dann stürzte sie in Cortina schwer, zog sich neben dem Hüfthämatom auch eine Gehirnerschütterung zu. "Es war lange nicht klar, ob ich hier dabei sein kann, wir haben erst vor einer Woche entschieden", erklärt sie.
Die Entscheidung war goldrichtig – Silber ist der Lohn. Eine gewisse Entschädigung? "Es ist Entschädigung, Belohnung und Bestätigung, dass es der richtige Weg ist und sich die Arbeit auszahlt", erklärt Ortlieb. Leicht sei ihr Weg nie gewesen, der Name sei zu Beginn Belastung gewesen ("Da hieß es immer, die Ortlieb hat schnellere Ski"), das habe sich aber im Internat erledigt: "Ich bin den normalen Weg gegangen."
Dass es just in Frankreich, dort, wo Papa Patrick 1992 Olympiasieger wurde, geklappt hat, ist besonderer Aspekt für die Viertelfranzösin.
"Mein Opa Guy ist aus dem Elsass, kam als Koch auf den Arlberg – wir haben bis heute Spezialitäten auf der Karte", erzählt Ortlieb auch vom heimatlichen Hotel in Lech, aber: "Mein Französisch ist leider eher schlecht, aber zum Bestellen im Lokal reicht es." Das größte Problem von Ortlieb ist es oft, lockerzulassen. "Ich würde mir wünschen, dass ich das manchmal ein bisschen leichter machen könnte", sagt sie – weiß aber, dass es beim Feiern dafür "Ersatz" gibt: "Das übernehmen dann meistens meine Schwester Laura und mein Servicemann – und das Team." Aber: "Heute werde ich versuchen, das alles zu genießen."