Auch Kitzbühels Bürgermeister befürchtet, dass diesmal nur „die Besseren, die Promis, die VIP’s“ Platz finden werden. Klaus Winkler kann nicht in vollem Schuss für das Hahnenkamm-Spektakel werben. Er übt vorsichtig den Slalom zwischen Pandemie-Bestimmungen und Kommunalwahlen. Vor 18 Jahren hat der Steuerberater den Rechtsanwalt Horst Wendling (FPÖ) in einer Stichwahl abgelöst. In fünf Wochen verteidigt er seine Position und die absolute ÖVP-Mehrheit. Doch der Wahlkampf läuft so untertourig wie das Weltcup-Wochenende. Maskenpflicht in der Innenstadt, Verbot von Außengastronomie, zahlreiche geschlossene Lokale: Bonsoir Tristesse statt Hully-Gully – hätte da nicht ein Video von hemmungslosem Après-Ski für Aufregung gesorgt. Ein Einzelfall. Was sonst?
Ruhe ist der natürliche Feind von Kitzbühel in der zweiten Jänner-Hälfte. Aber es entscheidet weniger das öffentliche als das veröffentlichte Spektakel rund um die Abfahrten und den Slalom vor jeweils 1000 Zuschauern auf zugewiesenen Plätzen. Ob durchwegs Promis oder nicht: Das wird ein starker Kontrast zu den Skirennen mit zehnmal mehr Publikum in der Schweiz. Tourismusobmann Christian Harisch prophezeit deshalb die sicherste Veranstaltung in der Hahnenkamm-Geschichte. Der Bürgermeister erinnert sich aber noch mit Schaudern: „Im Vorjahr war es totenstill in der Stadt“. Die Geisterrennen lockten dennoch fast drei Millionen Zuschauer allein zu den drei ORF-Übertragungen – obwohl ausgerechnet der klassische Kitzbühel-Abfahrtssamstag dem Wetter zum Opfer gefallen war.
Schnee ist ein Segen. Aber Gott ist kein Tiroler. Der vorletzte Samstag im Jänner taugt nur ohne Niederschlag zum Hochamt. Die aktuelle Wetter-Prognose wirkt wie eine Höchststrafe für Kitzbühel und „alles richtig gemacht“. Der Hahnenkamm droht im Schnee zu ersticken. Ausgerechnet die Grundlage des Wohlstands bremst den Turbo seines Erfolgs. Der Tausch von Slalom und Abfahrt am Wochenende soll das Gesamtprogramm retten. Überragende Fernsehquoten für die Rennen auf Streif und Ganslernhang sind die Basis für den Mythos der Kleinstadt und des gleichnamigen Bezirks.
In Kitzbühel gibt es schon seit 55 Jahren Weltcuprennen. Rückblick auf den 21. Jänner 1967. Das neue Rundfunkgesetz war schon in Kraft, Gerd Bacher aber noch nicht General des ORF. Der neue Fernseher von Minerva flimmerte, Karl Schranz stürzte sich als erster die Streif hinab. Der neue Skiweltcup war erstmals in Kitzbühel, wo die Idee zu ihm entstanden ist. Auf der Seidlalm, direkt neben der Piste. Der Franzose Jean-Claude Killy gewann Abfahrt und Slalom. Wie bei den Olympischen Spielen in Grenoble – 1968, als Minerva an die deutsche Grundig verkauft wurde.
Das 27. Hahnenkammrennen vor 55 Jahren ist ein Markstein dafür, warum die Gamsstadt anders ist, sie sogar im Land außertirolisch wirkt und Schladming nie Kitzbühel sein kann. Obwohl der nächste Woche zum 25. Mal ausgetragene steirische Nachtslalom längst höhere Fernsehreichweiten erzielt, gilt er hier bloß als Halbstarker aus dem Patschenkino-Contest. Hier, wo die Kluft von Stadt und Land allwinterlich mit mehr Geld zugeschüttet wird, als es der Region und dem Zusammenleben ihrer Menschen guttut. Keine zwei Autofahrstunden von München, weniger weit als vom Arlberg entfernt. Wien-Versteher mit der größten „Krone“-Leserquote im Land, 2,5 Mal so hoch wie in Innsbruck. Ein Netzknoten zwischen Danubiern und Bajuwaren – weitab von der innerälplerischen Normalität der sich ständig verengenden V-Täler. Als 1963 in Ischgl die erste Seilbahn errichtet wurde, war Kitzbühel schon eine der weltweit besten Winteradressen. Münchner und Briten hatten den Ruf begründet, sportliche Aushängeschilder wie der legendäre Toni Sailer, der dreifache Olympiasieger von 1956, festigten ihn.
Während die Mitbewerber in ihren Sackgassen eine grausige Vergangenheit vom Kinderverschicker bis zum Wegelagerer kultivieren, war und ist Kitzbühel ein Durchhaus – diesseits des deutschen Ecks, auf dem intra-austriakischen Landweg von Nordtirol nach Restösterreich. In Corona-Kontrollzeiten lebt er auf. Die Inntalautobahn wurde erst ab 1968 bis Innsbruck ausgebaut, die A93 führte schon länger gleich schnell nach München. Kitzbühel ist Bayern und Salzburg in vielem näher als Tirol. Es hat die Chance von Internationalität früher genutzt. Es wurde von den Pferdefüßen der finanziellen Kolonialisierung schneller getroffen. Es ist zerrissen zwischen dem wachsenden Reichtum und der schwindenden Originalität seiner Bevölkerung. Die offiziell 16 Prozent Freizeitwohnsitze von 7216 Wohnungen vermögen das nur unvollständig auszudrücken. Die Zweitwohnsitzquote in der Stadt beträgt fast 60, im Bezirk 36,5 Prozent. Während Tirol insgesamt während der Pandemie einen Zuwachs der österreichischen, aber einen Rückgang der ausländischen Zweitwohnsitze verzeichnet, sind sie in Kitzbühel weiter gestiegen. Und zwar nicht durch das touristische Personal, das andernorts für den Schwund sorgt. Wer kann, der leistet sich Kitzbühel mehr denn je. Die ausländische Nachfrage treibt die Quadratmeterpreise auf durchschnittlich über 13.000 Euro – in Toplagen auch 25.000.
Dies alles braucht das Hahnenkamm-Spektakel für sein Bestehen längst nicht mehr. Sonn- und Schattenseiten sind hier schon verteilt. Doch das Bündnis mit dem Fern-Sehen hat den Mythos nicht bloß geschaffen, es prolongiert die Scheinwelt weit über die Realität hinaus. Das gilt durchaus beidseitig. Nirgends war die Arroganz eines Monopolisten spürbarer als hier. Wenn das Rennen nahte, stülpte der ORF sich über Kitzbühel, als wäre es seine Stadt. Nirgends hält sich länger der Wahn von der Großartigkeit mangels vermeintlicher Konkurrenzlosigkeit. Ein Spaltkeil zwischen Stadt und Land, Ost und West, allein schon wegen der Wiener Sportreporter über das Tiroler Skifahren. Doch was Gesinnungsskeptiker stört, nutzen die Situationselastischen. Nicht nur der Wirt profitiert vom Gast. Die Immobilien-Maklerfamilie Hagsteiner ist ein Musterbeispiel für die hiesige Variante des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär. Vom Promi-Friseur zum Wohnraum-Händler, nun bereits in dritter Generation. Schon der Zweiten diente ein Rolls Royce als Statussymbol.
„Kitzophrenie“ hat der heimgekehrte Weltenbummler Horst Ebersberg den latenten Größenwahn seiner Heimatstadt einmal genannt. Dazu gesellt sich ein gerüttelt Maß an Saturiertheit. Man spielt kaum mit im Tiroler Rekordwettlauf um Pistenkilometer und Nächtigungszahlen. So wie die Arlberger ins Ländle genießen die Kitzbüheler den Verbindungsvorteil nach Salzburg – Skifahren ohne Ende. In der Nächtigungsstatistik lag die Gemeinde schon vor der Pandemie bloß auf Rang 14; mit 830.000 nur rund halb so viel wie der Dritte in Ischgl. 2021 lief es umgekehrt. Dank ihrer Sommersaison, die vor der Krise 45 Prozent ausmachte, blieben sie zumindest 19. Doppelt so stark wie der Paznauner Aufsteiger auf Rang 43 mit 140.000 Übernachtungen. Die rural legend, dass Kitzbühel Österreichs Bezirk mit der höchsten Porsche-, BMW- und Mercedes-Dichte sei, lässt sich nicht bestätigen, aber acht Golfplätze auf 65.000 Einwohner sind auch Merkmal für eine andere Normalität am Rande des Wilden Kaisers.
Letztlich entzieht sich das Faszinosum Kitzbühel einer rationalen Erklärung. Alles, was hier attraktiv wirkt, gibt es woanders auch; einzeln auch jeweils besser. Aber nirgends sonst können sie ihr Gesamtbild besser verkaufen. Während der Ischgler Tourismus-Protagonist Günther Aloys seit jeher polarisiert, ist sein Kitzbüheler Langhaar-Pendant Hansi Hinterseer bis heute Everybodys Darling. Wo die Täler weiter werden, läuft der bessere Skilehrer-Schmäh. Er und das Fernsehen haben Kitzbühel reich und die Streif zur berühmtesten Abfahrt der Welt gemacht. Weder Pandemie noch zu viel Schnee können das ändern.