Sie nehmen sich zur Zeit vieler Themen an, das Thema „Kinder & Bewegung“ liegt Ihnen besonders am Herzen. Warum?
FELIX NEUREUTHER: Weil Bewegungsmangel ein wesentliches Thema der Zukunft werden wird, ein Megatrend, wie man sagt. So wie Nachhaltigkeit. Dabei ist Bewegung auch nachhaltig von Bedeutung, es geht ja um Gesundheit. Bewegungsarmut hat nachhaltige Auswirkungen auf die Gesundheit, körperlich wie geistig. Es geht darum, Demenz, Diabetes, andere Krankheiten nicht zu begünstigen. Wenn man als Kind keinen Purzelbaum kann, wie soll man sich als Erwachsener richtig abrollen? Ich habe schon mit 23 Jahren das erste Jugendcamp veranstaltet, selbst finanziert. Weil es mir wichtig war, Kinder zu begeistern, Vorbild zu sein. Und jetzt bekomme ich den Wandel in der Gesellschaft mit.

Den Wandel?
Die Schere geht immer weiter auf. Die Kinder gehen nicht mehr in der Natur, der Drang zur Bewegung wird in den Schulen unterdrückt statt gefördert. Handy, Tablet, Bildschirm sind zum Spielplatz geworden. Warum? Weil man schnell einen Adrenalinschub bekommt. Aber da setzt mein Programm an.

„Ihr“ Programm?
Ja, ich habe mit meiner Stiftung und der TU München „Beweg dich schlau“ entwickelt. Viele Übungen erdacht, mit denen Kinder in kürzester Zeit Erfolgserlebnisse haben können. Du brauchst den wissenschaftlichen Zugang auch, um überhaupt an die Schulen zu kommen. Aber bei diesen Übungen bleiben die Kinder dann auch dabei. Denn im Normalfall hat der Sport das Problem, dass es dauert, um Ergebnisse zu erzielen, bis man die innere Zufriedenheit erlebt. Wir schaffen es, ähnlich wie in Videospielen schnelle Erfolge zu erzielen. Etwa so, wie wenn man im Spiel einen Level schafft.

Dieses Programm kommt nun auch nach Österreich?
Ja, mithilfe von ServusTV und Didi Mateschitz. Wir haben ein Programm gestartet, in dem es eine „Beweg dich schlau Championship“ gibt – Vereine, Schulen, Eltern sollen ihre Kinder motivieren. Wir bilden die Trainer oder Lehrer aus, dann gibt es den spielerischen Wettbewerb. Es geht darum, Übungen zu absolvieren, sie vorher nicht bis zur Perfektion zu trainieren. Es ist wichtig, zu handeln.

Weil?
Weil die Situation dramatisch ist, Corona war da ein Beschleuniger. Drei von zehn Kindern können keinen Purzelbaum (siehe Studie zum Download unten), während Corona wurde jedes dritte Kind psychisch auffällig, aggressiv. Woher das kommt? Vom Mangel an Bewegung, von fehlenden sozialen Kontakten. Diese Initiative hilft, in Wien haben schon 30 Kindergärten damit begonnen. Jetzt rufen wir alle dazu auf, mitzumachen. So kann es nicht weitergehen. Wir versuchen, das Thema anzugehen, Kinder zu bewegen und in Vereine zu bringen. Wir haben Zehntausende Übungen, das ist ja das tolle. Und im Finale wird es nicht darum gehen, dass man Übungen vorher schon perfekt eingeübt hat. Der, der sich am schlauesten bewegt, gewinnt!

Schwierige Frage: Was haben Sie denn davon?
Das alles läuft über meine Stiftung, finanziell habe ich also nicht einen Cent davon, das will ich gleich klarstellen. Ich hab als Kind in Garmisch einmal mein Idol Alberto Tomba treffen dürfen, der beste Tag meines Lebens bis dahin. Und deshalb war es mir wohl immer schon wichtig, Kinder zu begeistern. Und zuletzt habe ich natürlich die Veränderung in der Gesellschaft mitbekommen, als das alles begonnen hat, mit den sozialen Medien. Wenn ich so nachdenke: Ich hab' mein erstes Handy mit 15 bekommen, als ich vier Wochen nach Norwegen musste. Das hat dort aber gar nicht funktioniert, weil es fürs Ausland nicht zugelassen war. War auch egal. Und heute? Schauen die Kinder beim Abendessen ins iPad, ins Handy - die Eltern auch. Keiner redet und wenn es einer tut, kriegt er gleich eine Gabel in den Mund geschoben.

Wie läuft das Programm ab?
Vereine oder Schulen bewerben sich, wir bilden dann die Trainer oder Lehrerinnen und Lehrer aus. Alles geht spielerisch, man braucht nicht viel. Es ist wie beim Fußball - der ist so erfolgreich, weil er so einfach ist, ein Ball reicht aus. Und bei meinen Übungen reicht mitunter auch eine Papierkugel. Man muss den Leuten nur was in die Hand geben, damit sie etwas machen können. In Österreich haben wir das Ganze noch mit einer Challenge verbunden, mit einem Wettbewerb, als Motivation.

Hat das Programm Erfolg?
Wir haben in Wien gerade mit 30 Kindergärten eine Zusammenarbeit beschlossen, in Deutschland sind schon über 60 dabei. Und ich habe während des ersten Lockdowns schon viele Rückmeldungen bekommen, von dankbaren Lehrern, Eltern und sogar Firmen.

Haben wir hier nicht ein Problem mit der Bewegungskultur?
Definitiv! Unser System, auch in der Schule, ist so aufgebaut, dass Bewegung nicht an erster, sondern an letzter Stelle kommt. In Norwegen etwa, da gehen die Kinder raus in die Natur, lernen alles kennen und lernen dabei. Bei uns sucht man die Blume im Buch oder schon im Tablet. Riechen kann sie da aber nicht. Dabei wäre es so wichtig, Kinder zu emotionalisieren. Damit sie sehen, dass es sich lohnt, das Leben so zu führen, dass es für die Natur ertragbar ist. Das passiert in den Schulen nicht. Wir brauchen ein Fach für Umwelt und Natur ...

Skandinavien als Vorbild?
Definitiv, das beginnt dort schon bei der Ernährung. Da ist Palmöl etwa schon lange einfach verboten. Man sieht ganze Familien beim Langlaufen, in schwedischen Kindergärten passiert alles im Freien, außer es hat unter minus 25 Grad. Das ist eine Lebenseinstellung. Aber die Pisa-Studien zeigen ja, dass der Weg kein falscher sein kann. Man kann auch mit Bewegung lernen. Und zwar besser.

Das Motto?
Früher sind wir als Kinder von draußen rein gepfiffen worden, wenn es dunkel wurde. Jetzt muss man die Kinder rauspfeifen. Dabei hat jedes Kind Bewegungsdrang. Nur wird es bei uns in der Schule gezwungen, sechs, sieben Stunden ruhig zu sitzen. Das ist wider die Natur.

Sie sind selbst Vater  - wie geht es Ihnen mit den eigenen Kindern?
Es wäre nicht so, dass wir nicht einen Kampf hätten, dass sie ruhig sitzen beim Essen. Sie müssen wissen, dass es Grenzen gibt. Aber man muss ihnen auch die Bewegung lassen.

Wird man Ihre Kinder eher im Alpinsport sehen oder, ganz nach Ihrer Frau Miriam, im Biathlonsport?
Ich habe immer gescherzt: Wenn meine Kinder Ausdauersport machen, dann lass' ich einen Vaterschaftstest machen. Nein, damit hab ich gar nichts am Hut.

Sie machen sich zuletzt für viele Dinge stark  - von Bewegungsarmut über Nachhaltigkeit, Klimaschutz... Wäre der Gang in die Politik nicht auch Thema?
Nein, sicher nicht. Um als Politiker oder Funktionär in eine wichtige Funktion zu kommen, muss man soooo viele Klinken putzen. Da mach' ich das alles lieber als Privatmann, in der Politik würde ich durchdrehen. Ich bin Ex-Sportler.

Wenn wir dabei sind: Zuletzt war bei uns Impfung und Sport ein Thema. Wie stehen Sie zur Corona-Impfung?
Ja, ich habe von der Skifahrerin gehört, die sich nicht impfen lassen will und daher die Rennen in den USA auslassen musste. Für mich ist klar: Natürlich muss man sich impfen lassen! Diese Entscheidung triffst du ja nicht nur für dich. Es ist frustrierend, dass man dieses Virus nicht in den Griff bekommt. Es gibt nur eine Lösung! Oder nein, zwei: Entweder man macht die Welt lange komplett dicht - oder man lässt sich impfen.