Als dann die Hymne gespielt wurde, konnte man die Bewegung der Lippen unter der roten Schutzmaske nur erahnen. Das Lachen, die innere Zufriedenheit, die erkannte man aber. Genauso wie die Emotionen, die Vincent Kriechmayr in diesem Moment durchströmten. Der Oberösterreicher, Sohn eines Landwirts und Skilehrers, kostete das Gefühl des Sieges aus. Zu Recht, schließlich hatte er gerade für einen goldenen WM-Auftakt für Österreichs Ski-Herren gesorgt.
Mit einem Sieg in einem Super-G, der alles forderte, viele überforderte. Auf einer Strecke, die keiner der Beteiligten wirklich kannte – und das zeigte sich schon zu Beginn. Christian Walder, mit Nummer eins gestartet, scheiterte an der ersten Schlüsselstelle, dem Sprung mit Steilhang. Auch die Nummer zwei, die Nummer drei. „Da war einmal Alarm“, sagte Abfahrtstrainer Sepp Brunner nach dem Rennen. Die Funkgeräte liefen heiß – und Vincent Kriechmayr auch. „Ich hab mich das erste Mal so richtig ang’schwitzt“, sagte er, „weil ich einfach nicht gewusst hab, wie ich tun soll.“
Der 29-Jährige verließ sich dann auf das, was im Super-G oft das beste Rezept ist: den Instinkt. „Als die Ersten raus waren, habe ich einen anderen Plan entworfen; da war mir egal, was die Trainer sagen.“ Als er seine Fahrt dann im Ziel sah, schüttelte er den Kopf: „Ein 200-Meter-Drift, das habe ich noch nie getan.“ Er fand Fehler um Fehler – doch machte er offenbar weniger als alle anderen.
Kommentar: Warum dieses Gold besonders wertvoll ist
Nur bei der Fahrt von Romed Baumann schwitzte er ein zweites Mal, dann war der Sieg klar. „Dass ich in die Fußstapfen von Hannes Trinkl als Weltmeister aus Oberösterreich treten darf, ist toll. Auch wenn es nicht Gold in der Abfahrt ist. Aber eines weiß ich: Ich fahre jedenfalls mit einem Lachen aus Cortina heim.“ Er, sagte Kriechmayr, habe seine Favoritenrolle als „nicht so groß“ gesehen, zu knapp seien die Siege gewesen. Aber: „Den echten Druck mache ich mir ja ohnehin selbst. Die Erwartungshaltung in mir ist viel höher als die, die von außen kommt.“ Dass er nun bei dem „würdigen WM-Rennen“ ganz oben stehe, „das ist eine Genugtuung“.
Da wurde sogar der nach dem Maler Vincent van Gogh benannte Kriechmayr, der sonst eher trocken ist, ein wenig emotional. Und offenbarte, dass er bei der Hymne natürlich mitsingt. „Aber nicht laut. Weil wenn man mich hört, dann wird’s kritisch. Das haben Mothe (Matthias Mayer, Anm.) und ich in Garmisch auch schon gemacht, da hatten wir eine gute Performance. Und dann hat uns Marco Odermatt, der Dritter war, ziemlich ausgelacht. Aber deswegen höre ich nicht auf, mitzusingen“, meinte er lachend. Die Familie? „Hab ich noch nicht gehört. Das Handy ist am Renntag am Zimmer, ich schau eh viel zu viel hinein.“ Die Zukunft bei der WM? „Schauen wir, ob der Sieg eine Befreiung war für die Abfahrt am Sonntag.“
Für das Team war es jedenfalls eine. Denn Matthias Mayer verbremste die Schlüsselpassage und wurde Sechster. Walder war mit Nummer eins gescheitert, Max Franz meisterte den Sprung besser als viele andere, schied aber kurz darauf aus. Doch Gold für Kriechmayr überdeckte alles.
Michael Schuen aus Cortina d'Ampezzo