Eines ist klar: Der internationale Ski-Verband FIS bekommt einen neuen Präsidenten. Unklar ist, wann das passiert und wer es ist, denn der Kongress, für Mai dieses Jahres in Thailand geplant, musste verschoben werden. Corona. Urs Lehmann, 1983 selbst Abfahrtsweltmeister, dann als studierter Betriebswirt auch CEO und Unternehmer, will die Nachfolge von Gianfranco Kasper antreten. Spox gab er ein ausführliches Interview.
Herr Lehmann, wofür braucht es überhaupt einen FIS-Präsidenten?
Urs Lehmann: Es gibt viel mehr zu tun, als man sich vorstellt. Die FIS ist der Dachverband von über 100 nationalen Verbänden. Sie erstellt die Gesamtstrategie und stellt sich viele Fragen: Wo wollen wir mit dem Skisport hin? Wie soll der Sport etwa im Jahr 2030 ausschauen? Welche Formate und Disziplinen wollen wir? Die FIS erstellt für ihre acht Sportarten Wettkampf-Kalender und vergibt Rechte an die Länder, Rennen auszutragen. Die nationalen Verbände vergeben wiederum ihre Rennen dann an bestimmte Skigebiete. Die FIS beschäftigt wohl ungefähr 30 bis 40 Angestellte, einen Präsidenten nimmt man als Spitze des Verbandes besonders wahr.
Mit Gianfranco Kaspar tritt ein Schweizer demnächst als FIS-Präsident ab. Muss es wieder ein Schweizer werden?
Urs Lehmann: Diese Frage hat der aktuelle Präsident auch gestellt. Diejenigen, die mich nicht wollen, werden das als Argument bringen. Die FIS ist in der Schweiz etabliert, deshalb meinen manche, es wäre gut. Die Nationalität darf eigentlich keine Rolle spielen. Die bestverfügbare Person soll es werden. Es geht um viel zu viel. Meine Mission bei Swiss Ski ist erfüllt. Ich sehe großes Potenzial, wie man die FIS weiterentwickeln könnte. Das reizt mich.
Wie funktioniert die Wahl operativ?
Urs Lehmann: Es gibt einen Kongress, zu dem alle FIS-Mitglieder eingeladen sind. Der Prozess ist nicht ganz basisdemokratisch. Je nach Wichtigkeit und Größe des Verbandes gibt es unterschiedlich viele Stimmen. Österreich, Deutschland oder die Schweiz haben etwa drei Stimmen, Liechtenstein hat nur eine. 74 Länder sind stimmberechtigt, man braucht unter rund 120 Stimmen eine einfache Mehrheit, um Präsident zu werden.
Welchen Stellenwert hat der alpine Skirennsport unter den acht FIS-Disziplinen?
Urs Lehmann: Es gibt zwei Dimensionen. Rein sportlich müssen alle acht Sportarten gleichwertig sein. Es sind alles Wahnsinnsleistungen, egal, ob Mann oder Frau sie erbringen. Auf der anderen Seite steht das Kommerzielle. Mit Ski Alpin generiert die FIS den größten Wert, gefolgt vom Skispringen - insbesondere aufgrund der Vierschanzentournee. Langlauf liegt auf Platz drei.
Wie schätzen Sie den Status von Ski Alpin aktuell ein?
Urs Lehmann: Ich bin überzeugt, dass wir ein attraktives Produkt haben. Das zeigen mir die Einschaltquoten in den Alpenländern. Wir dürfen damit aber nicht zufrieden sein. Beim Schritt in die digitale Welt könnte man mehr machen. Unsere Zuschauer werden älter, weil wir verpasst haben, die jüngere Generation abzuholen.
Im Gegensatz zu anderen Sportarten wie Skispringen oder Biathlon ist der alpine Skirennsport stark vom Klimawandel betroffen. Wie muss sich die Szene darauf einstellen?
Urs Lehmann: Vorweg: Es gab ja Aussagen in der Vergangenheit, dass es den Klimawandel nicht gäbe. Dieser Meinung bin ich nicht, da gibt es nichts zu diskutieren. Wenn wir einen Weltcup wollen, müssen wir reisen. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld. Wir müssen uns darin optimal bewegen. Soll heißen: Der Kalender soll so konzipiert sein, um die Reisen zu optimieren. Es sollte mehr Acht gegeben werden. Vielleicht schaffen wir es auch, einmal gemeinsam mit Bussen oder gar per Zug zu den Weltcuporten zu reisen. Wir müssen unser Bestes tun, Werbung für die Natur machen, gute Bilder zu erzeugen und uns nachhaltig verhalten.
Für eine Abfahrt benötigt es die größten Aufwendungen. Für ein einziges Rennen müssen viele Pistenkilometer präpariert werden. Könnte sie dem Klimawandel zum Opfer fallen, indem auf verkürzten Strecken in zwei Durchgängen gefahren wird?
Urs Lehmann: Bei dieser Idee stehen mir die Haare zu Berge. Wenn Sie die Einschaltquoten ansehen, liefern Abfahrten in Kitzbühel, Wengen oder Garmisch-Partenkirchen die besten Werte. Sport und Kommerz gehen Hand in Hand. Wir brauchen Produkte, die sich gut verkaufen. Bei diesen Events funktioniert das am besten. An der Abfahrt zu rütteln, dafür hätte ich überhaupt kein Verständnis.
In der kommenden Saison sollen nur noch sechs Super-Gs gefahren werden. Will man sich zunehmend von dieser Disziplin verabschieden?
Urs Lehmann: Der Super-G hat eine Berechtigung, wenn die Rennen attraktiv sind. Das war im vergangenen Jahr der Fall. Wer mir etwas anderes sagt, hat vermutlich den Super-G in Saalbach nicht gesehen. Sie haben mit Ihrer Fragestellung schon Recht: Wir brauchen einen ausgewogenen Kalender. Ich kann Ihnen das gerne vorrechnen.
Sehr gerne!
Urs Lehmann: Nehmen wir 44 Rennen pro Saison. Je vier sind Parallel-Rennen und Kombinationen. Das ist ein Minimum, damit die Athleten diese Disziplinen ernst nehmen und auch dafür trainieren. Der Rest wird aufgeteilt auf je neun Abfahrten, Super-Gs, Riesenslaloms und Slaloms. Wo ist das Problem?
Die Verbände sollen diese Idee nicht unterstützen, hört man.
Urs Lehmann: Vielleicht ist es auch eine Schwäche der FIS, dass die Entscheidungsfindung aufgrund der Abstimmungsprozesse in den Arbeitsgruppen lange dauert. Durch Partikularinteressen wird gewieft lobbyiert. Dadurch entstehen Entscheidungen, die nicht immer im Sinne des Sports sind. Da liegt der Hund begraben.
Der Umgang mit der alpinen Kombination war umstritten. Wie stehen Sie zu dem Format?
Urs Lehmann: Der Innovationsgedanke ist ja grundsätzlich richtig. Die Kombination ist eine traditionsreiche Disziplin. Aber interessiert das den Zuschauer noch? Falls nicht, hat sie keine Berechtigung mehr. Ich möchte eine saubere Analyse bis 2021.
Was stellen Sie sich vor?
Urs Lehmann: Dass man Äpfel auch wirklich mit Äpfeln vergleicht. Die Kombination von Wengen findet etwa an einem Freitag statt. Am Vormittag läuft der Speed-Durchgang, wenn nur die wenigsten Zeit haben, sich das anzuschauen. Da kriegt man nicht denselben Wert hin. Die neue Startreihenfolge war eine gute Idee. Bei den Herren hat es einigermaßen funktioniert, bei den Damen war die Luft aber zu früh draußen. Da hat man danebengeschossen. Der Ursprungsgedanke war, eine dritte Disziplin für Speed-Fahrer zu schaffen. Denn mit Parallel-Events gibt es ja ein unbestritten technik-lastiges Event.
Wie stehen Sie zu Parallel-Rennen?
Urs Lehmann: Sie müssen einfach, verständlich und fair sein. Mit City-Events, Parallel-Riesenslaloms und Parallel-Slaloms gibt es drei verschiedene Formate. Das versteht kein Mensch. Selbst meine eigenen Trainer haben mich in St. Moritz nach dem Format befragt. Der Parallel-Riesenslalom ist zu gefährlich, das kann nicht die Zukunft sein. Der Parallel-Slalom kann funktionieren. Es hat sich beim Team-Event gut etabliert. Bei Einzel-Rennen braucht es zwei Läufe. Wenn die Zuschauer merken, dass der blaue Kurs schneller ist, ist der Event tot. Keiner schaut mehr weiter, das Produkt ist geschädigt und unattraktiv für Fernsehen und Sponsoren. Das neue Format ist noch nicht ausgereift.
Warum heißt die Disziplin Parallel-Slalom, obwohl mit Riesenslalom-Toren gefahren wird?
Urs Lehmann: Definiert wird die Disziplin über den Radius zwischen den Toren. Beim Parallel-Slalom sind das 15 bis 18 Meter. Sie haben Recht, Slalomstangen wären eine clevere Idee.
Beim Skispringen gibt es ein kleineres Starterfeld, die Dauer zwischen den zwei Durchgängen ist deutlich kürzer. Braucht es im alpinen Skirennsport zeitlich kürzere Formate?
Urs Lehmann: Man könnte ja den ersten Durchgang medial auch als Quali-Lauf interpretieren. Beim Skispringen werden auch nicht alle Qualifikationen gezeigt. Die ideale Länge für TV-Formate liegt bei 75 bis 90 Minuten. Das werden wir bei Disziplinen mit zwei Durchgängen nicht schaffen. Eine gewisse Kompaktheit ist aber zu begrüßen.
Kitzbühel, Adelboden, Wengen: Beinahe alle Klassiker im Weltcup sind Rennen für Männer. Ich vermisse solche Klassiker bei den Frauen. Werden die Austragungsorte bei den Damen zu häufig gewechselt?
Urs Lehmann: Da möchte ich widersprechen. Auch bei den Herren sind Wechsel vorhanden, ich denke an Bansko oder die Rennen in Japan. Es braucht einen Kern an Klassikern, der wohl etwas weniger als die Hälfte beinhaltet. Bei den Damen sind Cortina, St. Moritz oder Garmisch-Partenkirchen Traditionsrennen. Sind es Klassiker? Da bin ich bei Ihnen: Gefühlt nicht.
Warum ist das so?
Urs Lehmann: Wir bekommen bei diesen Rennen nicht dieselben Ratings hin. Ob ein Traditionsrennen zum Klassiker wird, entscheiden die Zuschauer. In der Schweiz sprechen wir ab der Benchmark von einer Million TV-Zuseher von einem Klassiker. Diese Zahlen erreichen wir in Kitzbühel und Wengen, leider aber nicht in St. Moritz.
Wie kann man dem entgegnen?
Urs Lehmann: Vermutlich braucht es mehrere Ikonen, wie es Mikaela Shiffrin schon ist und etwa eine Maria Scharapowa im Tennis verkörpert. Man müsste den Event-Charakter stärken. Kitzbühel ist ein Drei-Tages-Event mit einem Programm rund um die Uhr. Hier gibt es noch einiges zu tun.
Sie gelten als Befürworter von Rennen in Asien. Warum?
Urs Lehmann: Der Sport ist stark Zentraleuropa-lastig. Etwa 60 Prozent der Athleten kommen aus der DACH-Region, Italien oder Frankreich. Wenn wir eine Weltsportart sein wollen, reicht das nicht. Dann müssen wir es verstehen, dass Nordamerika und Asien dazugehören. Insbesondere China möchte die Anzahl an Skisportlern anheben. Das sind Wachstumsmärkte für die Skiindustrie, die wir integrieren müssen. Dazu gibt es eine bezeichnende Kennzahl.
Welche?
Urs Lehmann: 1990 wurden weltweit jährlich sechs Millionen Paar Ski verkauft. Heute sind es derer nur noch drei Millionen. Der Markt hat sich auf ein Verleih-Modell konzentriert. Mit Olympia in China hat man die einmalige Chance. Es gibt dort mittlerweile mehr Skigebiete als in der Schweiz. Man muss den Skisport dort etablieren, das wäre ein wichtiger Schritt zu einer Weltsportart. Die FIS soll eine Vordenker-Rolle einnehmen.
Hinweis:Das gesamte Interview gibt es bei Après Ski - Der Alpin-Podcast zu hören.