Seit wann wussten Sie vom Rücktritt Marcel Hirschers?
Toni Giger: Es war ein fließender Prozess. Wir haben vereinbart, dass er mich anruft, wenn er etwas braucht. So haben wir in den letzten Wochen naturgemäß viel telefoniert. Da waren zwei Herzen in meiner Brust: Ich wollte neutral sein und ihn zu nichts überreden, denn das gebietet der Respekt. Aber ich wollte natürlich auch, dass er weiterfährt.
Philipp Schörghofer hat gemeint: Wenn früher ein Österreicher in Alta Badia Siebenter wurde, war das egal, weil Hirscher ohnedies vorne lag. Wenn im kommenden Winter der beste Österreicher Siebenter in Alta Badia wird, ist Feuer auf dem Dach. Wird es ein feuriger Winter?
Giger: Es wird auf jeden Fall ein herausfordernder Winter (lacht). Die Siege sind die eine Sache, die Überlegenheit der Mannschaft die andere. Ich habe berechnen lassen, wie es im letzten Winter ausgesehen hätte, wenn wir Hirscher aus den Wertungen nehmen und jeder Läufer entsprechend einen Platz nach vorne gerückt wäre. Das Ergebnis: Die Schweiz hätte 4888 Punkte gemacht, Österreich 4722, Frankreich 4561. Die Franzosen hätten am meisten profitiert und gleich 360 Punkte mehr gemacht. Es wird also ein heißer Dreikampf.
Der frühere norwegische Cheftrainer Christian Mitter hat in einem Interview gesagt: In Norwegen müsse man mit den Talenten viel behutsamer umgehen als in Österreich, weil es entsprechend weniger gebe. Verliert der ÖSV in den Qualifikationsmühlen zu früh zu viele Talente?
Giger: Dieses Thema wurde auch an mich öfters herangetragen und da hat jeder eine andere subjektive Wahrnehmung. Wir werden uns mit dem jetzt sehr intensiv beschäftigen. Zunächst werden wir die Kaderrichtlinien durcharbeiten. Warum sind Kaderrichtlinien so entscheidend? Weil die definieren, welche Leistung jemand bringen muss, um weiterhin gefördert zu werden. Danach richtet sich das ganze Training. Daher müssen wir fragen: Sind unsere Richtlinien überhaupt noch zeitgemäß? Dann müssen wir fragen, ob und warum wir zu viele Talente verlieren. Genau darum wird sich jetzt Jürgen Kriechbaum (zuletzt Damen-Cheftrainer, Anm.) kümmern. Das lassen wir uns richtig Geld kosten.
Der Rücktritt des Überfliegers wird mit dem ÖSV-Team in die eine oder andere Richtung etwas machen. Was wird jetzt passieren?
Das macht mit jedem Läufer etwas anderes. Zunächst ist es aber natürlich auch für jeden eine Chance. Aber: Jetzt heißt es auch Verantwortung übernehmen für alle. Wir bezeichnen uns als die Skination Nummer eins. Das müssen wir auf der Piste zeigen.
Was wird aus dem Team Hirscher, konkret aus Trainervater Ferdinand Hirscher und Coach Mike Pircher?
Giger: Ferdinand Hirscher wird seine Expertise, mit der er Marcel an die Weltspitze geführt hat, im ÖSV einbringen. Er hat ein unglaubliches Auge für das Wesentliche: Er sieht eine Fahrt und weiß, wo man jetzt ansetzen muss. Diese Gabe wollen wir nutzen. Er und Mike Pircher sollen an der Schnittstelle zwischen Europacup und Weltcup arbeiten und Talenten den nächsten Schritt ermöglichen, denn wir wissen, dass dort viele aussteigen. Zu dieser Zusammenarbeit gibt es ein Commitment, aber die Verträge sind noch nicht unterschrieben. Eines ist aber auch klar: Ferdl hat eine ganz klare Vorstellung von Disziplin und Einsatz und die orientiert sich an seiner erfolgreichen Arbeit mit Marcel. Jeden Tag das Optimum herauszuholen, das ist eine Grundvoraussetzung für ihn. Jetzt wird es für viele junge Läufer heißen: A...backen zusammenkneifen.
Im April ist Sportwart Hans Pum zurückgetreten, jetzt Marcel Hirscher und auch ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel spricht vom Abgang. Beginnt jetzt der große Umbau im ÖSV?
Giger: Zumindest was den Präsidenten betrifft, hoffe ich, dass er bleibt. Er könnte sich hinstellen und nur Erfolge kommentieren. Tatsächlich aber regelt er unangenehme Dinge ohne Rücksicht auf die eigenen Beliebtheitswerte. So hält er Trainern und Athleten den Rücken frei – der Verband braucht ihn. Er ist ein Präsident mit Seltenheitswert.
Michael Smejkal