„Die Stille vor dem Sturm!“, so könnte man die Stimmung beschreiben. Einige wenige Leute sind im Startzelt, oben am Patscherkofel. Tiefes, intensives Ein- und Ausatmen der ersten Fahrer, die bereit sind. Stille – und keine belanglosen Sprüche. Außer: die klare, bestimmte Stimme des Startrichters, der für die Nummer eins dieser Olympiaabfahrt die letzten fünf Sekunden herunterzählt. Ein lauter Kampfschrei und schon katapultiert sich René, mein Teamkollege, aus dem Startzelt. In zwei Minuten bin ich dran.
Video: Vom Holzkneckt zur Legende
Genau in diesem Augenblick kommt Franz Klammer ins Zelt gerannt, schnurgerade auf mich zu. Handschuh aus, er drückt meine Hand fest, schaut mir mit seinem bekannten, starken Blick in die Augen und sagt: „Viel Glück!“ – “Gleichfalls !“ höre ich mich flüstern. Dann war er wieder weg, und ich auch!
Zehn Minuten später saß ich im Zielraum auf einem Strohballen. Noch immer in Führung liegend. Die wohl aggressivste und verrückteste Fahrt meiner Skikarriere lag hinter mir. Die ab- und zu aufkeimenden Kurzanalysen riefen mir immer wieder meine Kampflinie, jenseits des Limits, aber auch die kleinen Fehler in Erinnerung.
Ich war froh, unten zu sein. Die Piste war schwer, eisig und wohl auch gefährlich. Mit jedem Fahrer der sich ins Ziel rettete und hinter mir war, steigerte sich meine Hoffnung auf den Gewinn einer Medaille bis hin zum Traum vom Sieg.
Franz startete mit der Nummer 15. Seine Zwischenzeiten sprachen für mich. Auch bei der letzten war Franz hinten. Der Patscherkofel zitterte. 60.000 schrien ihren Favoriten, ihren Helden, ihre Hoffnung den Berg hinunter.
Ich schloss die Augen und meine Gedanken verloren sich in einem Gemüts-Chaos. So nahe am Sieg. Ich wage es nicht zu träumen. So nahe am Glück….. Aber so darf das nicht geschehen. Franz darf nicht verlieren. Ja, aber ich auch nicht! Meine Gefühle waren auf einmal gespalten.
Ich spürte wieder seine starke Hand, sah seine kämpferischen Augen und überließ den Rest dem Schicksal. Als ich wieder hochschaute, auf die Linie der letzten 200 Meter, sah ich ihn nicht dort, wo unsere Spuren waren. Franz bretterte 20 Meter weiter links den Zielhang hinunter, dort wo sich der gefährliche Weg als Hindernis befand, auf der kürzestmöglichen Distanz der Ziellinie entgegen.
Wahnsinn! Wenn das nur gut geht! In diesem Moment wurde ich zum Franz-Klammer-Fan.
Im Video: Die Legende Franz Klammer
Bis dann die berühmten „1:45.73“ aufleuchteten auf und davor die „1“! Jetzt war alles klar. Die Welt war wieder in Ordnung. Der beste Abfahrer aller Zeiten war Olympiasieger. Innsbruck und Österreich hatte seine Goldmedaille. Und ich? Ich hatte Silber gewonnen und nicht Gold verloren. Ja, vielleicht ist es einfacher so zu denken, wenn zu Hause bereits eine Goldene liegt.
Ich bin stolz, bei diesem sportlichen Jahrhundertereignis eine „Mitfavoritenrolle“ gespielt haben zu dürfen, dieses Spektakel miterlebt zu haben. Mehr denn je, realisiere ich heute, was Franz damals geleistet hat. Diese unglaubliche Belastung, gewinnen zu müssen, weil er der Beste war. Weil alle von ihm diesen Sieg erwartet haben. Allen voran er von sich selbst.
Auch Franz hatte einen Plan, hatte Momente der Zuversicht, aber auch Momente des Zweifels. Aber während dieser 1:45.73 Minuten hat er all das ausgepackt, was ihn so stark gemacht hat. Seine Physis – eine Mischung aus Trapezkünstler und Schwergewichtsboxer. Seine Nähe zur Natur, zum Berg und zum Element Schnee. Sein unglaublich gutes Gefühl für Geschwindigkeit und Zeit.
Franz wusste immer, wo er war. Und er wusste immer, wie er war. Und je schwieriger die Situation, je größer die Herausforderung, desto klarer wurden diese Fähigkeiten. Deshalb konnte er den Schalter auch während einer wilden Fahrt noch einmal „extra“ umschalten.
Diesen Instinktschalter, den er auch in Innsbruck benutzte und im Schlussabschnitt eine Linie fuhr, die in keinem Plan für möglich, ja auch nur für vernünftig gehalten worden war. Pures Gefühl und Intuition. Eine Eigenschaft, die ihn auch sonst im Leben begleitet. Die ihm zeigt, wann er zum Jubelschrei ansetzen oder wann er ruhig auf dem Boden bleiben soll.
Der Händedruck im Startzelt war kein Plan. Genau so wie die herzliche Umarmung im Ziel nach dem Rennen es auch nicht war.
Ich bin stolz, heute sagen zu dürfen: Franz ist mein Freund. Franz Klammer, ein grossartiger Sportler und Skirennfahrer, aber noch ein größerer Mensch!
Alles Gute zum Geburtstag. Lass dich feiern!
Bernhard Russi, Olympiasieger 1972, Olympiazweiter 1976