Toni Innauer hat sich auch in seiner Zeit als Weltklasse-Skispringer, ÖSV-Skisprung-Trainer und Sportdirektor im ÖSV nie ein Blatt vor den Mund genommen. Im Ö1-Interview äußerte er sich am Samstag zur aktuellen Diskussion um sexuellen Missbrauch, Pastern im ÖSV und darüber hinaus ebenso, wie über unsensible Reaktionen der ÖSV-Sportführung auf die Vorwürfe von Nicola Werdenigg.

Der Vorarlberger, der am 1. April seinen 60. Geburtstag feiert, hat den ÖSV 2010 verlassen. Innauer kennt den Verband von der Pieke auf, war nach seiner aktiven Zeit u.a. auch Lehrer am Skigymnasium Stams. Er selbst habe in seiner Zeit als Schüler dort nichts von derartigen Übergriffen mitbekommen. Aus Erzählungen habe er aber schon vor seinem Eintritt in Stams eine Geschichte über eine Pasteraktion im Vorarlberger Skiverband gehört. "Da wurden sogar Mädchen mit Schuhcreme am Hintern, im Genitalbereich eingeschmiert. Diese Sache wurde aber ruchbar und vom Vorarlberger Skiverband auch geahndet und Sportler wurden von Rennen und Trainings ausgeschlossen."

Zudem war auch ein Freund Innauers betroffen. "Einer meiner besten Freunde aus dem Skisprunglager hätte im Skigymnasium auch gepastert werden sollen. Er hat sich durch einen waghalsigen Sprung aus dem Fenster in Sicherheit gebracht", erzählte Innauer in der Ö1-Sendung "Im Journal zu Gast".

Pastern ist keine "Kinderei"

Das Pastern müsse man immer aus Sicht des Betroffenen sehen, so der Olympiasieger 1980 und ausgebildete Sportwissenschafter. "Oft wird der Fehler gemacht, dass das als Kinderei, als lustig zum Teil abgetan werden kann. Ein junger Mensch steht einer unentrinnbaren Situation gegenüber und weiß nicht, wie das ausgeht. Das kann als Folter, als Demütigung und als Brechen einer Persönlichkeit erlebt werden."

Auf der Suche nach einer Erklärung für diese Rituale unterscheidet Innauer zwischen den Worten Erklärung und Verständnis. "Verständnis habe ich nie dafür gehabt. Mir ist das immer als ekelhaftes, sinnentleertes Ritual vorgekommen, wenn über so etwas geredet worden ist. Die Erklärung liegt vielleicht darin, dass man das als Aufnahmeritual, als Gefügigmachen gesehen hat und vielleicht auch als Aufarbeitung der eigenen Schäden, die man aus diesem Ritual gezogen hat. Es hat ein gewisses Abstumpfen bewirkt, das natürlich auch gar nicht im Sinne einer späteren Persönlichkeitsentwicklung sein kann. Wenn man sich von seinen Gefühlen abspalten muss, um da drinnen existieren zu können, ist das sicher der falsche Weg."

Innauer selbst sei aus einer Schule, in der geschlagen worden war, nach Stams gekommen und für ihn war das Skigymnasium "eine ganz tolle Erfahrung". Er sei immer mit Respekt behandelt worden.

Metoo-Bewegung als Auslöser

Als Begründung für das Outing so vieler Menschen sieht er die "Metoo-Bewegung". "Da hat sich ein Zeitfenster und eine Zeitqualität geöffnet, in der man plötzlich ohne sofort in die Opfer-Täter-Umkehr hineingedrängt zu werden, Dinge loswerden kann, die einem ein Leben lang gedrückt haben", erklärte Innauer. Nicola Werdenigg, die im gleichen Jahrgang wie Innauer in Stams zur Schule ging, habe ihren Anteil daran, aber auch einige wenig einfühlsame Aussagen von Zuständigen. "Da haben manche gesagt: 'So, jetzt reicht es mir, jetzt melde ich mich.'"

Innauer meine damit nicht ausschließlich den ÖSV-Präsidenten Peter Schröcksnadel. "Aber er hat halt natürlich immer das Problem, auch in der Öffentlichkeit artikulieren zu müssen, und er hat das in diesem Falle aus meiner persönlichen Sicht nicht mit dem angemessenen Zugang, dem Ton gemacht, den ich mir dafür gewünscht hätte." Auch die später dementierte Klagsandrohung oder die geforderte Entschuldigung fand Innauer nicht richtig. "Ich hätte mir nicht nur von Peter Schröcksnadel, auch von einigen anderen einfach mehr Einfühlungsvermögen, Mitgefühl erwartet." Da sei es nicht nur um Werdenigg gegangen, sondern um Übergriffe von Autoritätspersonen, Vergewaltigung und dergleichen.

Den Konter Schröcksnadels auf einen Zeitungskommentar Innauers - der ÖSV-Präsident hatte den Ex-Funktionär, der selbst Teil des Systems gewesen sei, als "Pharisäer" bezeichnet - empfindet Innauer als "über das Ziel hinausgeschossen". "Peter Schröcksnadel selber weiß ganz genau, dass ich heikle Themen - und da sind wir nicht nur einmal aufeinander gekracht - auch angegangen bin, die auch nicht sehr beliebt waren und ich zum Teil sogar als Nestbeschmutzer bezeichnet worden bin, weil ich mich um Verletzungen, um Verletzungsproblematiken mit ihm in vielen Diskussionen gerade auch im Alpinbereich auseinandergesetzt habe." Innauer habe dies in seinem letzten Buch auch thematisiert. "Ich bin dafür fast geächtet worden vom Skiverband."

Macho-Attitüden

Die Kritik richtet sich auch an die Machtfülle, nicht nur im ÖSV allein, sondern überhaupt in lange gewachsene Strukturen wie auch in Firmen. "Es entsteht eine Machtfülle, die man eigentlich nur in Krisenfällen wirklich zu spüren kriegt." Die Strukturen seien zu wenig lebendig und nicht beweglich. "Sie reagieren wie ein Panzer auf bestimmte Problematiken. Unantastbar, aber eben auch mit zu wenig Empathie, zu wenig Einfühlungsvermögen für diejenigen, die nicht zum System gehören." Innauer ergänzte, dass sich in allen von Status, Macht, Unantastbarkeit und auch gewisser "Macho-Attitüde" geprägten Systemen das "Gespür für feinere Dinge" abspalte.

Er selbst habe das am Ende seiner ÖSV-Tätigkeit sogar im Skispringen gespürt. "Wenn es um sehr viel Geld und Macht geht, dann gibt es nur noch eine Kategorie: Dient es dem Gewinnen oder besteht dann eine Gefahr, dass ich mich schwäche? Wenn das die einzigen Auswahlkriterien sind, um die vordergründigen Entscheidungen zu treffen in einem Betrieb, in einer Sportinstitution, dann läuft sie Gefahr, dass sie verkarstet. Dieses Problem orte ich im Spitzensport. Auf Sportwissenschaftler, auf Sportpsychologen, die von außen kommen, wird kaum gehorcht. Die werden als Eindringlinge, als Fremdkörper wahrgenommen, weil sie die innere Ideologie nicht teilen, dass man alles dem Erfolg unterordnen muss. Und diese Macht-Apparate neigen eben dazu."

Falscher Ansatz

Innauer findet die Optik, die eine vom ÖSV selbst geschaffene Untersuchungskommission schafft, falsch. "Weil nicht eine unter Beobachtung stehende Institution eine eigene Untersuchungskommission in Auftrag geben kann." Am Beispiel Doping sehe man, dass erst die Einschaltung der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) als unabhängiger Institution für Aufdeckungen gesorgt habe. "Solange Sportverbände sich selber in der Einhaltung ihrer Dopingregeln kontrolliert haben, wurde das auch den Erfolgen, der Optimierung des eigenen Wachstums untergeordnet. Das kann nicht funktionieren."

Die Begehrlichkeiten der Öffentlichkeit nach Namen auf der Suche nach Tätern stellte Innauer einen anderen Gedanken gegenüber: "Es ist schonungslos gegenüber dem Gefühl des Betroffenen, der sich auch überlegt, dass ich da jemanden, der mittlerweile Vater ist, sein Leben, seine Einstellung mitunter auch geändert hat, 30, 40 Jahre später in ein Unglück stürze, und dann selbst als Opfer das Problem habe, dass ich keine Beweismöglichkeit mehr habe."