Mexiko 1986: Ich war nicht dabei. Neapel 1987: Ich war nicht dabei. Selbst Anfang der Neunziger, als vieles, aber noch nicht alles bergabging: Ich war nicht dabei. Der Diego Armando Maradona, mit dem ich in meiner Kindheit konfrontiert wurde, war einzig ein von Skandalen zerfressener Ex-Fußballer. Ein besonderer Ex-Fußballer, ja. Aber mit Sicherheit kein Held.

Alle Infos zu Maradona in der Übersicht

Da gab es andere. Wenn meine Freunde und ich auf dem Bolzplatz kickten, war einer Zidane, einer Beckham, einer Ronaldinho. Ab und zu auch mal Ronaldo, also der echte. An manchen Tagen konnte es, so paradox es klingen mag, sogar mal vorkommen, dass einer von uns Kevin Kuranyi war, weil Kevin Kuranyi halt so oft in der Nutella-Werbung zu sehen war und wir Nutella gerne mochten. Maradona? Nein, der war zu weit weg, mit dem konnten wir kaum etwas anfangen.

Wenn sein Name in den Medien auftauchte, dann sowieso nur im negativen Sinne. Wir lasen und hörten nur von einem kokainabhängigen Fettleibigen. Einem, der sich permanent mit irgendjemandem bekriegte, ob mit der Polizei, der Presse oder seiner eigenen Familie. Er galt als schlechtes Vorbild.

Maradona: Einmaliges Talent, besondere Mentalität

Das war er auch. Mit mehr Wissen über ihn und seine Geschichte bin ich heute, als Erwachsener, aber sehr traurig darüber, damals auf dem Bolzplatz nicht ab und zu auch mal Diego Armando Maradona gewesen zu sein. Immer, wenn ich mir Videos von ihm ansehe, in denen er auf matschigen Trainingsplätzen alles kurz und klein spielt, den Ball gefühlvoller streichelt als jeder Brasilianer und seine Gegenspieler wie Hobbykicker aus der Kreisklasse aussehen lässt, erblasse ich vor Neid. Neid auf diejenigen, die das Privileg hatten, ihn wahrhaftig zu sehen, zu erleben, zu genießen. Nämlich einen der Größten, wenn nicht sogar den Größten aller Zeiten.

Der, der es von ganz unten, einem Elendsviertel von Buenos Aires, nach ganz oben, in den Olymp des Fußballs, schaffte. Dank seines einmaligen Talents. Aber auch dank seiner besonderen Mentalität. Denn wenn Maradona den Rasen betrat, vergaß er alles, was sich gerade in seinem Leben abspielte. Er wollte nur Spaß an dem haben, was er so sehr liebte. Seine Definition von Spaß war, das Spiel zu dominieren.

Eins-gegen-Eins-Duelle gingen für ihn nur als Aufwärmübungen durch. Am liebsten nahm er es mit vier, fünf oder sechs Gegenspielern auf, wie in Mexiko 1986, als er Englands halbe Mannschaft samt Torwart austanzte und Argentinien unter dem Gejauchze von 115.000 Menschen im legendären Aztekenstadion ins WM-Halbfinale schoss. Das "Jahrhunderttor" war das eine Gesicht Maradonas. Das des unvergleichlichen Genies. Dass er in jenem Spiel auch regelwidrig mit seiner linken Hand traf, war sein anderes Gesicht. Das des gerissenen Ganoven.

Neapel: Verliebt in Maradona

So war Diego Armando Maradona nun einmal. Der perfekte Unperfekte. In Barcelona, wo ihn die Boca Juniors 1982 als neuen Superstar Südamerikas hin transferierten, kamen sie mit seiner Art nicht klar. In Neapel, wo er zwei Jahre später für die heute als lächerlich anmutende Rekordsumme von umgerechnet etwa zwölf Millionen Euro aufschlug, fanden sie sich alle in ihm wieder. Und er sich in ihnen. Weil ihn dort auch vieles an Buenos Aires erinnerte - von der Armut und den kriminellen Machenschaften in der Stadt bis hin zu den herzlichen Umgangsformen der Menschen.

Aus jener besonderen Verbindung entstand Liebe. Und aus jener Liebe entstand Erfolg. Er führte die im Kampf mit den Großmächten Juventus und Milan als "Kloake Italiens" verunglimpften Neapolitaner praktisch im Alleingang zu zwei Scudetti. Und nicht nur die Mädchen im San Paolo sangen: "Oh Mama, oh Mama! Ich habe Maradona gesehen und mich verliebt."

Diego Armando Maradona befreite eine ganze Stadt - und sperrte sich dadurch selbst ein. Der Druck, den ihm Verein, Fans und Medien gleichermaßen auferlegten und über die Jahre kontinuierlich erhöhten, war für einen Menschen nicht zu verkraften. Und Maradona war abgesehen von 90 Minuten pro Woche nun einmal ein Mensch, auch wenn viele seiner Anhänger das nicht einsehen wollten. Anderenfalls hätte er ein weniger skandalbehaftetes und vermutlich auch längeres Leben führen können.

"Ich möchte wieder Diego Maradona sein"

Ob das in seinem Sinne gewesen wäre? Während viele Fußballstars heutzutage zurückgezogen in ihrer Blase leben, war Diego Armando Maradona ein Mann des Volkes, der sich während seiner aktiven Laufbahn nicht gegen den ungesunden Hype um seine Person wehren konnte - und es danach offensichtlich nicht wollte.

Auch als Trainer stellte er sich immer wieder ins Rampenlicht und sammelte Eskapade um Eskapade. Wenige Jahre vor seinem Tod am 25. November 2020 sagte er: "Wenn ich sterbe, möchte ich wiedergeboren werden und Fußballer werden. Und ich möchte wieder Diego Armando Maradona sein. Ich bin ein Spieler, der den Menschen Freude bereitet hat, und das reicht mir."

Persönlichkeiten wie er gehen nie ganz. Egal, ob man 1986 oder 1987 nun dabei war oder nicht. Egal, ob man mit anderen Helden aufwächst. Ruhe in Frieden, Diego.