Gut möglich, dass Hansi Flick als erfolgreichster Trainer des FC Bayern München in die Geschichte eingehen wird; alleine die Ausbeute seiner nun 50 Spiele mit 45 Siegen, 2,74 Punkten im Schnitt und fünf Titeln ist so monströs, dass Flick sich ab sofort schon von einem schlecht programmierten Avatar ohne Fußballkenntnisse vertreten lassen müsste, um die Bilanz nachhaltig zu zerstören.
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Als experimentierfreudigster Trainer des deutschen Rekordmeisters wird Flick aber wohl eher nicht in die Geschichte eingehen. In der vergangenen Saison rotierte Flick nur sehr sparsam. In dieser Spielzeit setzt der Trainer zwar wegen der hohen Spieltaktung und diverser Verletzungen viele Spieler ein, doch erst beim 1:1 gegen Werder Bremen am Samstag schickte er seine Mannschaft im 14. Versuch zum ersten Mal mit einer veränderten Grundordnung auf den Platz. Weil der Coach das Gefühl hatte, keine Wahl zu haben. (Video: Die Highlights des 1:1 des FC Bayern gegen Bremen ).
Statt aus Flicks 4-2-3-1-Lieblingsformation mit zwei versetzt agierenden zentralen Mittelfeldspielern agierten die Bayern von Beginn an aus einer 4-1-4-1-Grundordnung mit Javi Martinez als einzigem Sechser (nach Lucas Hernandez' früher Verletzung rückte Martínez in die Viererkette und Leon Goretzka auf die Sechs). Jamal Musiala und Thomas Müller deckten davor die zentralen Halbräume ab. ( Video: Flick erklärt Folgen von Hernandez Auswechlung )
Das klappte bekanntlich höchstens semigut. Der deutsche Rekordmeister hätte das Spiel auch verlieren können. Die Münchner taten sich schwer, agierten umständlich und ohne die übliche Dominanz, konnten sich kaum freispielen, in der ersten Halbzeit gelang ihnen kein einziger Schuss aufs Tor - was in den vergangenen zehn Jahren zuvor ganze dreimal passiert war.
Flick: "Joshua Kimmich fehlt immer"
Und so taugte schon das erste komplette Spiel der Bayern ohne den verletzten Joshua Kimmich als Beleg für die von Rekordnationalspieler Lothar Matthäus stellvertretend unmittelbar nach Kimmichs Verletzung bei Sky ausgesprochene und ausnahmsweise gar nicht mal so steile These, dass Kimmich "unersetzbar" sei und er seinen Trainern Flick und Joachim Löw gleichermaßen fehlen würde.
Bundestrainer Löw hatte nach dem 0:6 gegen Spanien weiß Gott andere Sorgen, als sich auch noch über die Auswirkungen von Kimmichs Abwesenheit abstrakte Gedanken zu machen (vermutlich hätte Kimmich auf dem Platz wirklich nicht zugelassen, dass sich die DFB-Elf ihrem Schicksal ergibt). Flick aber sagte nach dem nicht ganz so traumatischen 1:1 gegen Bremen immerhin: "Joshua Kimmich fehlt immer."
Höchstwahrscheinlich so sehr wie kein anderer deutscher Spieler fehlen kann. Dessen Siegbilanz beim FC Bayern ist zwar nicht ganz so beängstigend wie die seines Trainers, aber Kimmich ist ja auch schon etwas länger dabei. Seit seinem Debüt in der Saison 2015/2016 gewann der FC Bayern, wenn Kimmich auf dem Platz stand, 77,6 Prozent seiner Bundesligaspiele. In der Champions League waren es 75,5 Prozent. Ohne Kimmich gewann Bayern in der Liga 69,2 Prozent seiner Spiele. In der Königsklasse ist der Kimmich-Siegfaktor noch größer, da gewann Bayern ohne ihn gerade mal 42,9 Prozent seiner Spiele.
Kein Wunder, dass Kimmich überhaupt nur 26 in dieser Zeit theoretisch mögliche Spiele in der Bundesliga und sieben in der Champions League verpasst hat.
Joshua Kimmich: So spielt Bayern mit und ohne ihn
FC Bayern mit und ohne Kimmich in der Bundesliga:
FC Bayern mit KimmichFC Bayern ohne Kimmich 152 Spiele 26 118 Siege 18 20 Unentschieden 5 14 Niederlagen 3 414 Tore 63 2.7 Tore pro Spiel 2.4 128 Gegentore 15 0.8 Gegentore pro Spiel 0.6 77.6% Siegquote 69.2% 2.5 Punkte pro Spiel 2.3 18.2 Torschüsse pro Spiel 17.9
Auch sonst sind die Daten eindeutig. Mit Kimmich auf dem Platz - egal, ob als Rechtsverteidiger oder im Mittelfeld - schießt Bayern im Schnitt mehr Tore (Bundesliga: 2,7 zu 2,4. CL: 2,9 zu 2,0), kreiert mehr Torchancen (Bundesliga 18,2 zu 17,9. CL: 19,5 zu 18,4), lässt aber auch mehr Gegentore zu (Bundesliga 0,8 zu 0,6. CL: 0,9 zu 1,7). Doch dazu später mehr.
Matthäus hatte als Hauptargument für seine Unverzichtbarkeits-These Kimmichs Führungsqualitäten und seine Mentalität genannt, auch das soweit erwartbar und keineswegs verkehrt. Kimmich "ist ein Mentalitätsmonster", sagte Flick auch erst vor dem fatalen Spiel in Dortmund.
Doch allein mit brüllen, motivieren, nerven, arbeiten, der Bereitschaft, über die Grenzen zu gehen und schierem Gewinnen-Wollen wird man nicht zum "Anführer einer Generation" , wie SPOX und Goal ihn schon vor dem Champions-League-Finalturnier in Lissabon bezeichneten.
FC Bayern mit und ohne Kimmich in der Champions League:
FC Bayern mit KimmichFC Bayern ohne Kimmich 49 Spiele 7 37 Siege 3 7 Unentschieden 0 5 Niederlagen 4 140 Tore 14 2.9 Tore pro Spiel 2.0 44 Gegentore 12 0.9 Gegentore pro Spiel 1.7 75.5% Siegquote 42.9% 2.4 Punkte pro Spiel 1.3 19.5 Schüsse pro Spiel 18.4
Joshua Kimmich: Weit mehr als Mentalität
Kimmich ist weit mehr als Mentalität, der gebürtige Schwarzwälder führt nicht nur mit Wille und Stimme, sondern schon auch mit seinen Füßen. Kimmich ist auf zwei Positionen auf seine Art ebenso komplett wie Weltklasse. Als Rechtsverteidiger zog er gerne in die Mitte und kurbelte in seinem Offensivdrang mit vielen flachen Pässen das Kombinationsspiel mit an. Im Lauf der Jahre perfektionierte er auch seine Flanken und Assistfähigkeiten.
Unheimlich pressingresistent, passsicher und scheinbar ähnlich wie sein früherer Mitspieler Xabi Alonso mit einem 360-Grad-Blick gesegnet war Kimmich dagegen schon immer.
Fähigkeiten, die ihn auf jeder Position zum geborenen Spielmacher machen - aber im zentralen Mittelfeld natürlich am besten zur Geltung kommen.
Kimmich ist quasi immer anspielbar, was seinen Mitspielern natürlich auch hilft, wenn sie mal unter Druck geraten. Mit ihm auf dem Platz ist Bayern pressingresistenter. Im Gegenzug fordert Kimmich den Ball aber auch immer ein. Er ist Tempo- und Rhythmusgeber seiner Mannschaften, er kann mit einem Pass die gegnerischen Schnittstellen aushebeln, kann Chancen kreieren, Tore vorbereiten und Tore schießen.
Von den sechs in dieser Saison im zentralen Mittelfeld der Bayern eingesetzten Spielern war Kimmich mit Abstand am häufigsten am Ball (BL: 518, CL: 268), spielte mit Abstand die meisten Pässe (BL 402, CL 204) und kreierte die meisten Chancen (BL: 12, CL: 10).
In der vergangenen Saison kreierte übrigens kein anderer Spieler in der Königsklasse so viele Chancen wie Kimmich: Auf 28 kam der Bayer, auf 27 Kevin de Bruyne, der mit Manchester City aber im Viertelfinale die Segel streichen musste. Thomas Müller auf Platz drei kreierte 25 Torchancen.
Diese Saison kreierte Kimmich auch schon wieder zehn Chancen, nur Lionel Messi mit 13 herausgespielten Torchancen ist in dieser Statistik erfolgreicher. In der vergangenen Saison kam Messi insgesamt nur auf 17 kreierte Chancen.
Über das gesamte Jahr 2020 gesehen konnte kein Spieler Kimmich das Wasser reichen. Er kommt auf 26 kreierte Chancen, de Bruyne auf 23, Müller auf 22, Messi auf 20.
Joshua Kimmich: Seine Daten 2020/2021 im Vergleich
Ballberührungen, Pässe, kreierte Chancen Bundesliga:
Name Spiele Pässe Erf. Pässe % Ballberührungen Chancen kreiert Goretzka, Leon 7 307 88.93 393 5 Kimmich, Joshua 6 402 89.8 518 12 Javi Martínez 6 208 91.35 252 1 Musiala, Jamal 6 73 84.93 125 0 Tolisso, Corentin 5 199 88.44 246 3 Roca, Marc 1 0 0 0
Ballberührungen, Pässe, kreierte Chancen Champions League:
Name Spiele Pässe Erf. Pässe % Ballberührungen Kreierte Chancen Kimmich, Joshua 3 204 87.25 268 10 Javi Martínez 3 47 89.36 60 2 Tolisso, Corentin 3 170 85.88 202 3 Goretzka, Leon 2 70 92.86 94 0 Musiala, Jamal 1 2 100 2 0 Roca, Marc 0 0 0 0
Joshua Kimmich: Mit ihm spielt Bayern riskanter
Doch Kimmich kreiert nicht nur mehr Torchancen, er spielt den Ball generell sehr häufig ins letzte Spieldrittel und in den Strafraum. Selbst da ist er deutlich auffälliger und aktiver als Leon Goretzka, dem nominellen, etwas offensiver agierenden Chefdynamiker im Kader des FC Bayern. Kimmich ist nicht nur Spielmacher, sondern auch offensiver Ideen- und Impulsgeber Nummer eins.
47-mal passte Kimmich in der Bundesliga in dieser Saison schon in den Strafraum, Goretzka kam da auf neun Pässe, Tolisso auf acht. In der Champions League sieht das Bild nicht minder eindeutig aus (Kimmich mit 28 Pässen in den Strafraum, Tolisso 6, Goretzka 4). Das zeigt, dass er weit mehr als ein Spielmacher aus der Tiefe ist und erklärt womöglich, wieso sich Flick gegen Bremen für eine Systemumstellung entschied. Da mit Tolisso der Spieler, der noch am ehesten an Kimmichs Werte herankommt und über ähnliche Charakteristiken verfügt, ebenfalls verletzt fehlte, wollte Flick die fehlenden offensiven Fähigkeiten wohl mit zwei Achtern auffangen.
Zumal Kimmich auch der torgefährlichste Mittelfeldspieler der Bayern ist. In dieser Saison kam er wettbewerbsübergreifend auf drei Tore und sieben Vorlagen. Leon Goretzka steht bei vier Toren und drei Vorlagen. Seine letzte - jene zu Comans 1:1 gegen Bremen - war, Zufall oder nicht, eine Art Kopie von Kimmichs Halbfeldflanke auf Coman im Champions-League-Finale von Lissabon.
Selbst wenn Kimmich nicht auf dem Rasen ist, ist er Vorbild.
Mit Kimmich auf dem Rasen agieren die Bayern aber auch riskanter. Denn Kimmich ist zwar ein exzellenter Balldieb, nur Goretzka erobert in der Bundesliga mehr Bälle als er (Kimmich 50, davon sehr gute acht im letzten Drittel, Goretzka 57, zehn im letzten Drittel), doch Kimmich verliert den Ball auch häufig (85). Die anderen im zentralen Mittelfeld eingesetzten Spieler können da nicht mal annähernd mithalten.
Auch daher war es an sich keine schlechte Idee von Flick, ohne Kimmich das Mittelfeld nominell etwas offensiver aufzustellen und in der Defensive auf den resoluten Martinez zu setzen. Doch spätestens nach der frühen Verletzung von Hernandez waren diese Überlegungen obsolet. Bayerns ohne Kimmich ohnehin schon fragile Achse brach endgültig.
Toraktionen, Ballbesitz Bundesliga:
Name Schüsse Vorlagen Tore Ballbesitz erlangt Ballbesitz verloren Ballbesitz erlangt letztes Drittel Goretzka, Leon 7 2 1 57 48 10 Kimmich, Joshua 4 4 1 50 85 8 Javi Martínez 1 0 0 15 22 2 Musiala, Jamal 4 0 2 11 34 3 Tolisso, Corentin 5 0 0 17 30 4 Roca, Marc 0 0 0 0 0 0
Toraktionen, Ballbesitz Champions League:
Name Schüsse Vorlagen Tore Ballbesitz erlangt Ballbesitz verloren Ballbesitz erlangt letztes Drittel Kimmich, Joshua 4 3 1 19 45 1 Tolisso, Corentin 4 0 1 13 32 3 Javi Martínez 1 2 0 5 6 0 Goretzka, Leon 2 0 2 5 12 0 Musiala, Jamal 0 0 0 1 0 1 Roca, Marc 0 0 0 0 0 0
Joshua Kimmich: Wie soll Flick sein Fehlen auffangen?
Kimmich hat sich in den vergangenen Jahren zum kompletten Spieler entwickelt, seine Handlungsschnelligkeit und außergewöhnliche Spielintelligenz sind einzigartig. Die Defizite (Schnelligkeit, Größe) sind nahezu ausradiert.
Durch Kimmichs Ausfall schmerz auch ein anderer Verlust noch mehr. Nämlich der von Ballstreichler Thiago, dessen Abgang nach Liverpool zwar bisher einigermaßen aufgefangen werden konnte, aber der eben schon fehlt. Jetzt mehr denn je, da mit Kimmich der Spielmacher aus der Tiefe nicht zur Verfügung steht.
Logischte Variante: Corentin Tolisso, sofern fit, übernimmt Kimmichs Planstelle als Quarterback. Oder Flick versucht es doch mal mit Marc Roca als alleinigem Sechser und fängt dessen fehlenden Offensivmut, den Flick bemängelte, mit Tolisso und Goretzka auf den Achtern auf. Vor allem, sollte Hernandez weiter ausfallen und Martinez wieder in der Viererkette aushelfen müssen.
Erste Chance: Mittwoch in der Champions League gegen Red Bull Salzburg. Mit einem Sieg können die Münchner bereits am vierten Spieltag den Sieg in der Gruppe A einfahren. Beim lange mühsamen und viel zu hoch ausgefallenen 6:2 im Hinspiel waren Kimmichs Vorlagen zum 3:2 und 4:2 der Öffner zum Kantersieg.
Nun müssen sie es ohne ihn richten. Mindestens acht Spiele lang. So viele Spiele stehen bis zum Jahreswechsel an, so lange wird Kimmich wohl mindestens fehlen, was auch bedeutet: Mindestens acht Spiele Ernstfall.
Kimmich wäre zwar zuzutrauen, dass er selbst einem kaputten Meniskus durch Training und Willenskraft zur schnelleren Heilung zwingen kann, doch die Bayern haben angekündigt, ihm die branchenübliche Zeit zur Genesung zu geben. Er soll ja auch dauerhaft wieder fit werden. Dafür brauchen sie ihn zu dringend.