Lange Zeit muss die obligatorische München-Reise für den Tross aus Bremen wie der Besuch bei einem ganz besonders unbarmherzigen, bohrfreudigen Zahnarzt angemutet haben. Regelmäßig wurden die Nordlichter im Süden der Republik dermaßen traktiert, dass vermutlich schon der bloße Gedanke an die Allianz Arena zu Panikattacken hinsichtlich etwaiger (Abwehr-)Löcher führte.
An diesem Samstagnachmittag hatten die Hanseaten nur selten Anlass zur Sorge. Sie stopften die Löcher kurzerhand selbst, ließen die Peiniger aus den Vorjahren nicht zur Entfaltung kommen und fuhren schließlich mit einem wohligen Gefühl zurück in die Heimat. Vier Erkenntnisse zum 1:1 zwischen dem FC Bayern und Werder Bremen..
Kein Vergleich zur Vorsaison: Bremens Löcherstopfer mit "Langweiler-Rekord"
Der Begriff, der im Anschluss an die Begegnung vonseiten der Werder-Verantwortlichen besonders gerne bemüht wurde, war "mutig". Sportchef Frank Baumann hatte generell einen mutigen Auftritt gesehen, Florian Kohfeldt hob den spielerischen Mut bei eigenem Ballbesitz besonders hervor.
Dieser fiel mit 29,6 Prozent - wie erwartet - nicht besonders üppig aus, wenn die Gäste aber mal die Kugel in ihren Reihen hatten, wussten sie zumeist etwas Brauchbares damit anzustellen. Am Ende brachten die Grün-Weißen sogar mehr Schüsse aufs gegnerische Tor zustande als die Münchner (3:2, Quelle: Opta), was im Umkehrschluss für die vorzügliche Arbeit des Defensivverbundes sprach (Zweikampfbilanz: 50,4 zu 49,6 aus Bremer Sicht).
"Wir hatten einfach im Gegensatz zu anderen Spielen zu wenig gute Tormöglichkeiten", stellte Bayern-Keeper Manuel Neuer fest und sprach der Kohfeldt-Truppe indirekt ein Kompliment aus, Thomas Müller wollte die Tatsache, dass Bremen "mit fünf Mann in der Kette" verteidigt habe, nicht als Vorwurf verstanden wissen, sondern lobte das disziplinierte Verteidigen der unangenehmen Kontrahenten.
Auch Hansi Flick fand anerkennende Worte für den SVW. "Werder nimmt den Punkt verdient mit nach Bremen", sagte der Bayern-Coach und begründete: "Sie haben es gut gemacht und uns wenig Räume gelassen. Gerade dort, wo es im Fußball gefährlich wird." Diszipliniertes, Räume verengendes Verteidigen, Löcher stopfen - Qualitäten, die in der vergangenen Spielzeit nicht mit Werder Bremen in Verbindung gebracht wurden.
Kohfeldt ist es gelungen, aus quasi dem gleichen Spielermaterial der Vorsaison, ein bundesligataugliches Team zu formen. Der Vorsprung auf die Abstiegszone ist nach acht Spieltagen komfortabel, seit dem Liga-Auftakt verlor Werder kein Spiel mehr. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass das 1:1 in München das fünfte 1:1 in Serie war.
"Fünfmal 1:1 ist wahrscheinlich der langweiligste Rekord, den die Bundesliga zu bieten hat", mutmaßte Kohfeldt im Nachgang der Partie auf der Pressekonferenz. "Da bin ich jetzt nicht unbedingt stolz drauf", scherzte er weiter, um zu dem Schluss zu kommen, dass ein 1:1 in München doch ziemlich ordentlich sei - obwohl auch drei Zähler durchaus realistisch gewesen wären.
Dass die Überraschung "nur" handtellergroß und nicht faustdick ausfiel, lag besonders an einem gut aufgelegten Münchner.
Manuel Neuer schüttelt Spanien-Alptraum cool ab
"Ausgerechnet" ist im Fußball mittlerweile ein abgedroschener Begriff, der bei irgendwelchen x-beliebigen Zufälligkeiten stets Verwendung findet. Im Falle von Manuel Neuers Länderspiel am vergangenen Dienstag traf er allerdings zur Abwechslung einmal zu.
Ausgerechnet in jener Partie, in der er zum Torhüter mit den meisten Spielen für die deutsche Nationalmannschaft avancierte und damit DFB-Legende Sepp Maier endgültig auf Platz zwei verwies, setzte es eine Rekord-Klatsche für den 34-Jährigen. Noch nie seiner Karriere musste Neuer sechs Gegentreffer hinnehmen, selten wurde er mit seiner jeweiligen Mannschaft zuvor so sehr gedemütigt.
Bei einem durchschnittlichen Schlussmann hätte eine derartige Schmach sicherlich Spuren hinterlassen, nur ist Manuel Neuer bekanntlich kein durchschnittlicher Schlussmann, sondern einer der besten, den dieser Sport jemals hervorgebracht hat. Cool, nahezu lässig, schien der Gelsenkirchener das Sevilla-Debakel aus den Kleidern geschüttelt zu haben.
In der 16. Minute parierte Neuer zunächst einen Abschluss des hereingrätschenden Sargent, nur um einen Wimpernschlag später auch Augustinssons Abschluss mit einer noch sehenswerteren Tat abzuwehren. Kurz vor Schluss fand Sargent erneut seinen Meister in Neuer, der einen Versuch des US-Amerikaners mit einem Blitzreflex aus der kurzen Ecke fischte (87.).
"Manuel Neuer ist für mich der beste Torhüter in Deutschland und auf der Welt, den es je gegeben hat", adelte Kohfeldt den FCB-Keeper und ergänzte: "Das hat er heute gezeigt." Dem war nichts hinzuzufügen.
Flicks Sechserpuzzle: Kein Platz für Marc Roca
Hansi Flick ließ sich wie gewohnt vor dem Duell mit Werder nicht in die Karten schauen. Aufgrund des personellen Aderlasses, der sich vor allem im defensiven Mittelfeld mit den Ausfällen von Joshua Kimmich und Corentin Tolisso äußerte, hatten einige Experten mit Neuzugang Marc Roca in der Startelf gerechnet.
Genährt wurden die Mutmaßungen von Flick selbst, der Roca am Freitag attestierte: "Ich bin sehr zufrieden, er hat gut trainiert. Warten wir mal ab, was mit ihm morgen ist." Die Auflösung, was mit Roca war, folgte am Samstag um 14:30 - nichts, der Spanier musste auf der Bank Platz nehmen, weil Flick Rocas routiniertem Landsmann Javi Martinez das Vertrauen schenkte, diesen sogar als alleinigen Sechser aufbot.
Später, als Lucas Hernandez verletzt vom Platz musste, rückte Martinez in die Innenverteidigung und Leon Goretzka an die Stelle des 32-Jährigen. Warum er Roca keine Chance gegeben habe, immerhin habe er den Youngster doch tags zuvor noch gelobt, wurde Flick gefragt.
"Wenn ich mich positiv über einen Spieler äußere, heißt das nicht, dass er eine Stammplatzgarantie hat", antwortete Flick und gab sofort zu verstehen, warum seine Wahl zugunsten Martinez' ausfiel: "Javi ist schon länger im Verein und in der Mannschaft. Er weiß, was auf dieser Position erwartet wird. Wir haben nur mit einer Sechs gespielt, das war für Javi die optimale Position."
Rechtfertigungen, die den Schluss nahelegen, dass Roca eben noch nicht imstande ist, die Erwartungen zu erfüllen. Bereits nach Rocas Pflichtspieldebüt Mitte Oktober (gegen den 1. FC Düren) hatte Flick taktische Unzulänglichkeiten bei dem U21-Nationalspieler festgestellt und öffentlich moniert.
"Für den Sechser ist auch die Positionierung immer wieder entscheidend. In Ballbesitz, aber auch gegen den Ball. Und da war er im Ballbesitz oftmals einfach zu tief." Es gelte, dass Roca "die richtigen Positionen und richtigen Räume besetzt."
Flick wollte Roca eigenen Angaben zufolge gegen Bremen mit Einsatzminuten bedenken, allerdings habe der Spielverlauf dies nicht hergegeben. "Von daher war heute für Marc kein Platz", lautete das abschließende Urteil.
Jamal Musiala zahlt Lehrgeld bei mutigem Startelf-Debüt
Dass Jamal Musiala über herausragende Anlagen verfügt, hat der gebürtige Stuttgarter schon mehrfach bewiesen. Technisch beschlagen, wieselflink und grazil schlängelte er sich ein ums andere Mal durch gestandene Bundesliga-Spieler, zeigte dabei nicht den Hauch von Ehrfurcht.
Kein Wunder, dass derzeit sowohl der DFB als auch der englische Fußballverband intensiv um die Gunst des Juwels buhlen, das jüngst für die U21 der Three Lions debütierte und gegen Albanien sofort einen Treffer beisteuerte. Um die Debütwoche für den 17-Jährigen zu krönen, bot Flick ihn erstmals in einem Bundesligaspiel von Beginn an auf.
Etwas überraschend, wenn man einen Blick auf die Bank warf, die unter anderem mit Leon Goretzka, Serge Gnabry und Leroy Sane gespickt war. "Er hat enorme Qualitäten und hatte es verdient, von Anfang an zu spielen", erklärte Flick Musialas Einsatz auf entsprechende Nachfrage. Fünfmal war Bayerns Top-Talent bislang zu Kurzeinsätzen gekommen, in kumuliert 81 Spielminuten sprangen satte zwei Tore heraus.
Gegen Bremen zahlte der Tempodribbler erstmals merklich Lehrgeld, was mitnichten despektierlich gemeint ist, sondern lediglich zeigen soll, dass dies zur Entwicklung eines jungen Fußballes dazugehört. "Für ihn war es genauso schwierig wie für den Rest der Mannschaft", sagte Flick mit Blick auf Musialas Leistung. "Wenn der Ball in die Räume kam, in die wir reinwollten, hat Bremen gut Druck ausgeübt. Das hat Jamal auch zu spüren bekommen."
Tatsächlich hatte Musiala im offensiven Mittelfeld nur selten die Möglichkeit, den Ball in Ruhe zu verarbeiten. Blitzschnell stellten die Bremer zu, zwangen den Startelf-Debütanten häufig in aussichtslose Dribblings. Musiala traute sich, nahm das Risiko der Eins-gegen-Eins-Situationen mutig an, was sich auch in der Zweikampfbilanz widerspiegelte. Obwohl Musialas Arbeitstag nach 63 Minuten beendet war, hatte er am Ende die meisten Duelle aller Spieler verbucht (19).
Allerdings: Musiala blieb auch etliche Male in der vielbeinigen SVW-Abwehr hängen, 16-Mal verlor er die Kugel an den Gegner (Höchstwert bei Bayern hinter Alaba mit 19 Ballverlusten). Mit mehr Spielzeit wird Musiala gewisse Erfahrungswerte sammeln, wann er beispielsweise seinen besser postierten Nebenmann bedienen sollte, wann es sinnvoll ist, das Dribbling zu suchen oder einen Angriff abzubrechen.
Sein Trainer wird ihn dabei sicherlich unterstützen: "Im Großen und Ganzen hat er seine Sache gut gemacht", sagte Flick.