Der Paragraph zwölf gehört wohl zu den wichtigeren Abschnitten eines NBA-Vertrags. "Prohibited Activities" steht dort auf Seite 11 in Großbuchstaben geschrieben, in genau 30 Zeilen ist zusammengefasst, was alles unter diese verbotenen Tätigkeiten, die ein NBA-Spieler vornehmlich aus Gründen des Verletzungsrisikos in seiner Freizeit zu unterlassen hat, fällt.
Fallschirmspringen und Skifahren werden beispielsweise direkt unter Ziffer eins geführt, gefolgt von unter anderem Boxen und Wrestling, Motorradfahren, Flugzeugfliegen sowie das Spielen von Basketball (in Exhibitions außerhalb der Teamaktivitäten), Football, Baseball, Hockey, Lacrosse oder anderen Teamsportarten.
Bowling ist in dieser Liste der verbotenen Aktivitäten nicht explizit geführt. Das könnte Andrew Bynum zum Verhängnis geworden sein.
Andrew Bynum: "Hätte besser nicht bowlen gehen sollen"
Es ist der 18. November 2012, als sich Bynum vor dem Spiel seiner Philadelphia 76ers gegen die Cleveland Cavaliers einer kleinen Reportertraube in den Katakomben des Wells Fargo Centers stellt. Die Fragen drehen sich nicht um das anstehende Spiel, Bynum wird ohnehin nicht auf dem Parkett stehen. Es geht vielmehr um den Verlauf der Reha des verletzungsgeplagten Centers. Und um Bowling.
Erst gut eine Woche zuvor hatten die Sixers die frohe Kunde verbreitet, dass Bynum nach langwierigen Knieproblemen langsam aber sicher wieder in leichte Workouts zum Start der Reha einsteigen könne. Nun steht ebenjener Big Man jedoch vor den Reportern und muss zugeben: "Rückblickend schätze ich, dass ich nicht hätte bowlen gehen sollen."
Damit bestätigt der damals 25-Jährige einen kurz zuvor veröffentlichten Bericht von ESPN . Demnach habe Bynum zusätzlich zu seinen Problemen in seinem rechten Knie, die ihn bis Anfang Januar außer Gefecht setzen sollen, vor wenigen Tagen auch noch einen Rückschlag bei der Genesung seines linken Knies wegstecken müssen. Und das bei einer Partie Bowling.
"Ich glaube, keiner hätte mir sagen können, dass ich das nicht machen darf", versucht Bynum seine Freizeitaktivität zu rechtfertigen. "Ich habe Kniebeugen und leichtes Training gemacht. [Das Bowling] war nicht mehr als das, was ich in meiner Reha gemacht habe." Beruhigen kann er die aufgebrachten Sixers-Fans damit aber nicht.
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Andrew Bynum: Das Laster der zweiten Leidenschaft
Bynums Affinität zum Bowlen ist schon vor dieser Episode bekannt, dennoch halten viele die Aktion für einen schlechten Scherz. Ein NBA-Star mit kaputten Knien, der während seiner Reha Bowling spielt? Auch wenn dieses Szenario nicht in Paragraph zwölf der NBA-Verträge festgehalten ist, der gesunde Menschenverstand sollte ausreichen, um zu erkennen, dass das keine gute Idee ist.
"Ich habe nichts gemacht. Ich habe [mein Knie] nicht verdreht, ich bin nicht gefallen oder irgendwas", beteuert Bynum. "Es wurde einfach der Knorpel beschädigt und das hat die Knochenprellung nur noch schlimmer gemacht."
"Wenn das beim Bowling schon passiert, was wäre passiert, wenn ich gedunkt hätte?", fragt Bynum sich selbst. Doch genau aus diesem Grund wird der Big Man eigentlich vom Parkett ferngehalten. Die Sixers wollen ihren gerade erst verpflichteten Center erst zurück in Form bringen, eine überhastete Rückkehr soll in Anbetracht dessen Verletzungshistorie unbedingt vermieden werden.
Bowling steht da sicherlich nicht im Reha-Programm.
Andrew Bynum: Der neue Franchise-Star der Sixers?
Im Sommer 2012 gilt Bynum als einer der besten Center der Association. Als Teil des Blockbuster-Trades um Dwight Howard sichern sich die Sixers seine Dienste, dafür tritt die Franchise bereitwillig Andre Iguodala an die Nuggets sowie Nikola Vucevic, Maurice Harkless und einen zukünftigen Erstrundenpick (2018 wurde damit Landry Shamet gezogen) an die Magic ab. Der aufstrebende Center-Star soll Philly aus dem Mittelmaß befreien.
In der Vorsaison erreicht das Team zwar die zweite Playoff-Runde, profitiert dabei allerdings von der schweren Verletzung von Derrick Rose im Erstrundenduell gegen die Chicago Bulls. In den Conference Semifinals ist dann gegen Boston Schluss, dennoch stellt das Playoff-Abschneiden das beste seit 2001 dar, als Allen Iverson die Sixers in die Finals führte.
Bei der Vorstellung von Bynum als neuesten Star in der Stadt der brüderlichen Liebe strömen hunderte Fans ins eigens angemietete National Constitution Center , unweit der Liberty Bell. Dort wird der Big Man mit Sprechchören gefeiert, als das neue Flaggschiff einer hoffentlich glorreichen Zukunft.
Andrew Bynum: Die Knie, immer wieder die Knie
In seiner letzten Saison im Lakers-Trikot legt Bynum Karrierebestwerte bei den Punkten (18,7) und Rebounds (11,8) auf, er sammelt die zweitmeisten Defensiv-Rebounds in der Liga, die viertmeisten Rebounds und die sechstmeisten Blocks. Gerade seine Defense und sein Rebounding sind seine großen Stärken, offensiv strahlt er zudem als Post-Spieler Gefahr aus.
Der 2,13-Meter-Hüne aus Plainsboro, New Jersey, überspringt 2005 als einer der letzten High Schooler das College und wagt den sofortigen Sprung in die NBA. Im Draft 2005, der vorerst letzte, in dem High Schooler zugelassen sind, schlagen die Los Angeles Lakers an zehnter Position zu. In L.A. avanciert Bynum zum jüngsten NBA-Spieler aller Zeiten (Debüt im Alter von 18 Jahren und 6 Tagen), zum Starter auf der Fünf, zum zweimaligen NBA-Champion und 2011/12 schließlich zum All-Star.
Doch schon damals machen ihm immer wieder Knieprobleme zu schaffen. Bereits im Alter von zwölf Jahren soll er seine erste Knie-OP gehabt haben, in seinen sieben Jahren mit den Lakers absolviert er nur in einer Saison alle 82 Spiele. Insgesamt verpasst er in dieser Zeitspanne 166 Partien.
Nach seinem Trade zu den Sixers folgt das nächste Kapitel in seiner schier unglaublichen Verletzungshistorie. Im September 2012 reist Bynum nach Deutschland, um sich einer sogenannte Orthokin-Therapie zu unterziehen, ähnlich wie es auch Kobe Bryant vor ihm tat. Dabei wird aus dem Blut des Patienten ein entzündungshemmendes Protein gewonnen und ins Knie gespritzt, was gegen die fortgeschrittene Arthritis Bynums helfen soll. Der Center lässt den Eingriff in beiden Knien vornehmen.
Im Oktober vermelden die Sixers jedoch eine Prellung im rechten Knie, Bynum verpasst den Saisonstart, als mögliches Datum für ein Comeback wird Ende Dezember oder Anfang Januar genannt. Daran hält das Team auch nach Bynums Bowling-Ausflug und den neuerlichen Schmerzen im anderen Knie fest.
Doch das geplante Comeback wird immer weiter nach hinten verschoben, bevor im März 2013 die Hiobsbotschaft folgt: Bynum wird sich in beiden Knien einer Arthroskopie unterziehen lassen müssen. Die Nachricht ist gleichbedeutend mit dem Saisonaus. Der gefeierte Heilsbringer läuft kein einziges Mal im Trikot der Sixers auf.
Die Karrierestatistiken von Andrew Bynum
Team Saisons G / MIN Punkte Rebounds Assists Blocks FG% Lakers 2005 - 2012 392 / 26,0 11,7 7,8 1,2 1,6 56,6 Sixers 2012/13 - - - - - - Cavaliers 2013/14 24 / 20,0 8,4 5,3 1,1 1,2 41,9 Pacers 2013/14 2 / 18,0 11,5 9,5 1,0 0,5 40,9 Karriere 8 Spielzeiten 418 / 25,6 11,5 7,7 1,2 1,6 55,6
Philadelphia 76ers: Das Bynum-Aus führt zum "Process"
Letztlich endet die Sixers-Karriere des Centers nach nur einem Jahr. Der auslaufende Vertrag des Big Man wird nicht verlängert, zu groß sind die Sorgen, ob die Knie den Anforderungen einer NBA-Saison standhalten können. So sind vier Assets aus dem Howard-Bynum-Trade sowie der erhoffte Hauptpreis dahin, genau wie die Jobs von General Manager Tony DiLeo und Head Coach Doug Collins.
Mit der Berufung von Sam Hinkie als neuen starken Mann läutet Philly die "Process"-Ära ein, die ihnen immerhin Ben Simmons, Joel Embiid und kurzzeitig Markelle Fultz (und dessen Krankenakte) einbringt. Auf Playoff-Erfolge wartet man aber weiterhin vergebens.
Von Bynum bleibt in Philadelphia in erster Linie eine Menge Enttäuschung zurück, dazu die Erinnerung an dessen Bowling-Ausflug und gleich mehrere - nun ja - bemerkenswerte Frisuren für das Fotoalbum . Der Big Man kann im Anschluss seine Karriere nicht mehr umbiegen, nach kurzen Stationen bei den Cavaliers und Pacers ist das NBA-Kapitel für den heute 33-Jährigen beendet.
Andrew Bynum: Kein Bock auf Basketball?
Es sind allerdings nicht nur die vielen Verletzungen, die zum frühen Karrierende beisteuern. Schon seit frühen Lakers-Tagen an sorgt Bynum immer wieder für Negativ-Schlagzeilen, die ihn über die Jahre zu einer Lachnummer werden lassen. So wollte Kobe seinen Center angeblich mehrfach getradet sehen, von Lakers-Coach Mike Brown wird er einmal auf die Bank geschickt, weil er anfängt, Dreier zu werfen (insgesamt 1/9 in seiner Karriere). Im Sommer 2010 verschiebt er eine Knie-OP zugunsten eines Europa-Urlaubs, dadurch verpasst er den Saisonstart.
In den Playoffs 2011 fliegt Bynum dann in Spiel 4 gegen die Dallas Mavericks, in dem die Lakers vorgeführt und schließlich gesweept werden, mit einem Flagrant II vom Parkett, nachdem er J.J. Barea übel aus dem Weg checkt . Zudem soll er einmal mit seinem BMW nicht nur einen, sondern gleich zwei Behindertenparkplätze auf einmal vor einem Supermarkt belegt haben.
In Cleveland, wo er nach dem Sixers-Debakel einen ungarantierten Vertrag unterschreibt, soll er einem Bericht von Adrian Wojnarowski ( ESPN ) zufolge in einer Trainingseinheit jedes Mal abgedrückt haben, wenn er den Ball in die Finger bekam. Egal, wo er gerade auf dem Feld stand. Kurz darauf wird er aus dem Training geschmissen und nach nur 24 Einsätzen suspendiert.
Über all dem schweben zudem Spekulationen, dass sich Bynums Begeisterung für den Sport mit dem orangefarbenen Leder ohnehin in Grenzen hält. Nach dessen Aus in Cleveland berichtet eine anonyme Quelle gegenüber Woj: "Er will nicht mehr Basketball spielen. Er hat es eigentlich nie so richtig gemocht." Und Tzvi Twersky vom SLAM Magazine erfährt von einem ehemaligen Mitspieler Bynums, er habe noch nie einen NBA-Spieler getroffen, der Basketball weniger mochte.
Andrew Bynum: Was wäre, wenn ...?
Gegen diese Annahme spricht, dass sich Bynum 2018 noch einmal an einem Comeback in der NBA versucht, das Interesse der 30 Teams hält sich jedoch in Grenzen. Allerdings wäre es nur allzu verständlich, wenn der Big Man keinen Spaß am Basketball gehabt hätte, blickt man auf dessen vielen Verletzungen, die Schmerzen und die Monate der Reha zurück.
Schon im Sommer 2013 nach seinem Abschied aus Philadelphia habe er über ein Karriereende nachgedacht, so Bynum gegenüber ESPN : "Es ist schwierig, dieses Spiel zu genießen, so körperlich limitiert wie ich bin. Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst auf dem Court."
Die Frage nach dem "Was wäre, wenn ...?" liegt auch über Bynums viel zu kurzer Karriere. Hätte er die Liga ohne seine Knieprobleme womöglich auf Jahre hinaus dominieren können? Hätten die Sixers vielleicht niemals oder erst deutlich später den "Process" eingeleitet? Oder hätten Bynums Knie so oder so eher früher als später nachgegeben?
Diese Fragen werden für immer offenbleiben. Vielleicht auch deshalb, weil Andrew Bynum eben viel lieber Bowling spielte als Basketball.