Dieser Artikel erschien erstmals am 25. September 2016. Alle weiteren Geschichten zu den Legenden der NBA gibt es hier in unserem Archiv!
Karl Malone marschiert an die Linie. Wahrscheinlich hat er gerade nicht im Kopf, welcher Tag gerade ist (Sonntag, übrigens). Das interessiert in diesem Moment aber eigentlich auch nicht im Geringsten. Schließlich befinden wir uns Sekunden vor Ende von Spiel eins der 1997er Finals. Es steht 82:82. Trifft Malone beide Freiwürfe, stehen die Zeichen auf Überraschung, auf einen Auftaktsieg der Utah Jazz beim amtierenden Meister aus Chicago.
Also Konzentration. Wie immer murmelt der Power Forward etwas vor sich hin, vernimmt von der Seite jedoch plötzlich Scottie Pippens sonore Stimme. "Karl, der Mailman stellt sonntags nicht zu", sagt er - und setzt damit einen kleinen Floh in des Mailmans Ohr. Ob Pippens Worte wirklich Wirkung zeigen, ist natürlich nicht klar. Fakt ist jedoch, dass Malone tatsächlich nicht abliefert. Beide Freiwürfe klatschen auf den Ring.
Den Bulls bleiben damit gut sieben Sekunden, das Spiel noch zu ihren Gunsten zu entscheiden. Und nachdem man sich in solchen Momenten nun mal auf Michael Jordan verlassen kann, kommt es, wie es eben kommen muss. His Airness schüttelt Bryon Russell ab, als bestritte dieser gerade sein allererstes NBA-Spiel, steigt hoch - Stille. Buzzer. Swish! Die Bulls gewinnen. Dank Jordan. Mal wieder. MJ steht im Mittelpunkt, den Weg bereitete Pippen.
Eines der besten Duos der Geschichte
So war es eigentlich immer, wenn eines der besten Duos der NBA-Geschichte gemeinsam auf dem Court stand. Michael Jeffrey Jordan und Scottie Maurice Pippen ergänzten sich während ihrer knapp 10 gemeinsamen Jahre in Chicago nahe am Optimum. Mit der Nummer 23 der Ausnahmescorer, der personifizierte Siegeswille, der Spiele endgültig erst nach der Schlusssirene verloren gab. Mit der 33 der Defense-Spezialist, der nicht minder gierig nach Siegen und Titeln war, sich stets für das Team aufopferte und all die kleinen Dinge tat, die die Großtaten des Großmeisters erst möglich machten.
Das bedingte allerdings auch, dass Pip Zeit seiner Karriere irgendwie in MJs Schatten stand, dass man seine Erfolge stets mit His Airness in Verbindung brachte, während Jordan ein Spiel gerne auch mal allein gewann.
"Selbst die positiven Dinge, die Pippen tat, waren eher die kleinen, die im Schatten liegen und die nur das erfahrene Auge erkennt", schrieb Jack McCallum in seinem Buch über das 1992er Dream Team. "Seit er 1987 nach Chicago kam, spielte sich seine Realität immer innerhalb des Rahmens von Jordans alles vereinnahmender Strahlkraft ab. Egal, mit wem ich sprach, ob GM's oder Spieler, wir konnten das Thema Scottie Pippen nicht diskutieren, ohne den Namen Jordan zu erwähnen."
Pippen bringt ersten Playoff-Sieg für Jordan
Pippen ohne Jordan? Unvorstellbar! Auf der anderen Seite wird manchmal vergessen, wir sehr auch MJ von seinem Flügelpartner profitierte. So galt Jordan zu Beginn seiner Karriere lange als herausragender Scorer, als Ausnahmeathlet - allerdings nicht als Winner.
Tatsächlich gewann His Airness während seiner ersten dreieinhalb Jahre in der Liga keine Playoffserie. Nicht eine einzige. Es bedurfte schon einer, nun ja, speziellen Doug Collins'schen Maßnahme, dass Chicago 1988 in Runde eins Spiel fünf gegen die Cleveland Cavaliers gewann und damit erstmals seit 1981 wieder in die Conference Semi-Finals einzog.
Der Coach stellte einen Rookie, der zuvor nicht einen einzigen NBA-Tip-Off auf dem Parkett erlebt hatte, in die Starting Five. Unter größtmöglichem Druck musste, sollte, durfte sich Scottie Pippen beweisen. Und er tat es. Pippen attackierte, spielte Defense und legte am Ende starke 24 Punkte, 6 Rebounds und 5 Assists auf.
Pippen, der High-School-Point-Guard
Chicago gewann und durfte sich schon mal gratulieren, im Anschluss an den 1987er Draft Olden Polynice plus zukünftige Draft-Optionen für den an fünfter Stelle gezogenen Pippen zu den Seattle SuperSonics getradet zu haben. Sie hatten das Ausnahmetalent des ehemals schmächtigen, nur 1,85 Meter großen Point Guards der Hamburg High School erkannt.
Hätte ein Wachstumsschub Pippen während seiner Zeit an der kleinen University of Central Arkansas allerdings nicht auf gut 2 Meter in die Höhe schießen lassen, Chicago wäre wohl nicht in Versuchung geraten - und hätte uns damit eine der gewinnbringendsten Partnerschaften der Basketball-Geschichte vorenthalten.
Eine Ära
Seite an Seite prägten MJ und Pip eine ganze Ära. Sie setzten ihrem langjährigen Albtraum Detroit Pistons 1991 endlich ein Ende, zerlegten Magics Lakers in ihre Einzelteile und feierten schließlich ihren Premierentitel. Fünf weitere sollten folgen. Mit Jordan als Anführer, Scorer und Closer und Pippen als treuem Adjutanten.
"Manchmal ist die größte Herausforderung eines Spielers, sich an seine Rolle im Team zu gewöhnen", sagte Pip einst und verdeutlichte damit, dass er verstanden hatte. Verstanden, wie er seinem Team am besten helfen, seine herausragenden körperlichen Voraussetzungen gewinnbringend einsetzen konnte.
"Ich bin überzeugt, Pippen wäre ein Weltklasseleichtathlet geworden, hätte er sich darauf konzentriert", beschrieb Jack McCallum Pippens athletische Fähigkeiten. Nun konzentrierte sich Pippen allerdings auf den Basketball. Zum Glück. Für ihn. Für die Bulls. Für jeden einzelnen, der eine mehr oder weniger innige Liebe zum orangefarbenen Leder pflegt. Hätte sich Chicagos Nummer 33 nämlich anders entschieden, die Basketballwelt wäre um einen der besten Perimeter-Verteidiger der Geschichte betrogen worden.
Defense, Defense, Defense
Denn nichts anderes war, ist und wird Scottie Pippen auch bleiben. Er rieb sich für das Team auf, gab am hinteren Ende des Courts stets alles und perfektionierte dazu die Kunst des Offensiv-Foul-Annehmens. Dazu besaß Pip die Fähigkeit, den Gegner vor sich zu halten, gleichzeitig aber unglaublichen Druck auszuüben und entnervte damit reihenweise Superstars und Scorer.
Wohl bekanntestes Opfer: Magic Johnson. L.A.'s Point Guard hatte Michael Jordan während Spiel eins und zu Beginn von Spiel zwei der 1991er Finals vor handfeste Probleme gestellt. Gegen den größeren, kräftigeren Magic musste sich MJ hinten derart aufreiben, dass schlussendlich die Kraft für die Offense fehlte.
Also entschied Coach Phil Jackson, Johnson ein wenig mehr Kraft und Größe entgegenzustellen. Pippen übernahm. Und Pippen hatte Erfolg. Er bekam Magic in den Griff, drehte so das Momentum des Spiels und schlussendlich der gesamten Serie, die die Bulls nach der Auftaktniederlage noch klar mit 4:1 gewannen. "Er ist ein Ein-Mann-Abrissunternehmen", sagte Jackson einst über seinen Forward.
Und tatsächlich verteidigte Pippen, noch ehe LeBron James überhaupt daran gedacht hatte, die Eins bis zur Fünf zu verteidigen, alles, was sich ihm auf dem Parkett entgegenstellte. Egal, ob Guard, Forward oder Big Man. Kraft, Athletik und seine unglaubliche Spannweite von 2,18 Metern machten es möglich.
© imago images / Hasenkopf
Meister des Steals
Selbiges Trio begünstigte zudem Pippens einzigartiges Gespür für den Steal. 395 gelangen ihm während seiner gesamten Karriere in den Playoffs. Nur LeBron James klaute in der Postseason häufiger den Ball. Zudem gehört er zum erlauchten Kreis derer, denen in einer Saison 200 Steals und 100 Blocks gelangen. Acht Mal stand er deshalb im All-Defensive First, zwei Mal im Second Team.
Nun spräche im Falle des Scottie Pippen jedoch niemand über einen der besten Allrounder der NBA-Geschichte, hätten sich seine Fähigkeit allein auf das hintere Ende des Courts beschränkt. Einerseits wusste er seine Athletik auch offensiv bestens einzusetzen. Nachzufragen bei Patrick Ewing, dem Pippen anno 1994 einen Dunk derart vehement ins Gesicht drückte, dass Reggie Miller besagtes Play später mit Muhammad Alis Knockout gegen Joe Frazier verglich.
Andererseits war Pippen zwar kein herausragender Scorer (16,1 Punkte Karriereschnitt), benötigte Jordan eine Pause, war Nummer 33 allerdings stets zur Stelle. So zum Beispiel, als er mit seinem Gamewinner-Dreier über Dikembe Mutombo (!) Spiel eins der 1997er Conference Semi-Finals gegen die Atlanta Hawks entschied.
Rücktritt als Chance
Dennoch bleibt es dabei: Erst kam Jordan, dann - irgendwann - Pippen. Vielleicht war Pip deshalb nicht einmal traurig, als MJ 1993 sein Baseball-Intermezzo startete und die Bulls in die Hände seines kongenialen Kollegen legte. Endlich konnte er aus dem Schatten heraustreten. Endlich konnte er beweisen, dass er mehr war als nur Batmans Robin.
Es ließ sich auch gut an. Kein Bulle scorte mehr als Pippen (22 Punkte), keiner verteilte mehr Assists (5,6), keiner blockte mehr Würfe (0,8). Die Reguläre Saison schloss der amtierende Champ mit 55 Siegen ab. Ohne Michael Jordan wohlgemerkt.
Der Blackout
Doch dann kamen die Playoffs - und mit ihnen Spiel 3 der Conference Semi-Finals gegen die New York Knicks. Die Bulls hatten soeben erfolgreich einen 20-Punkte-Vorsprung verspielt, aber immer noch 1,8 Sekunden Zeit, doch noch den ersten Sieg der Serie zu landen. Und was macht Phil Jackson? Er designet das letzte Play für Toni Kukoc. Ausgerechnet jenen Kukoc, in dem Pippen eine Bedrohung für den eigenen Status sah. Dabei war er doch nun der Star, der Go-to-Guy, der Franchise Player.
Zu viel. Pippen weigerte sich, aufs Parkett zurückzukehren. Ein Riesenaffront. "Ich denke, Scottie verspürte Druck, Michael zu ersetzen, was natürlich niemand kann", erinnert sich sein damaliger Teamkollege Steve Kerr. "Man muss aber auch bedenken, dass er ein MVP-Jahr hatte. Das ist schade, weil es Scotties Reputation ruiniert hat. Leute, die ihn nicht kennen und an dieses Play denken, sagen vielleicht 'Der Junge ist selbstsüchtig'. Dabei war er einer der beliebtesten Mitspieler."
Pippen fehlte Pippen
Tatsächlich bestärken dieses eine Spiel und Chicagos späteres Aus Kritiker bis heute. Pip sei kein echter Winner, heißt es hin und wieder. Trotz 6 Titeln. Trotz 72 Siegen in einer Saison. Trotz Olympia-Gold, drei All-NBA-First-Team-Nominierungen und der Wahl zu einem der besten 50 Spieler aller Zeiten. Die enttäuschenden Auftritte für die Rockets und Blazers tun ihr Übriges.
Dabei wird häufig vergessen, dass Pippen schlicht Pippen fehlte. Jordan hatte Pippen, LeBron hat Dwyane Wade und Chris Bosh, Kobe hatte Shaq oder Pau Gasol. Pips bester Mitspieler war Toni Kukoc. Auch Michael Jordans Triumphe wären ohne Pippen zumindest einmal schwerer möglich gewesen.
Doch fragwürdiges Bocken in entscheidenden Sekunden hin, angeblich schwache Clutch-Performances her, am Spieler Pippen zweifeln nur die wenigsten. Coach Chuck Daly krönte ihn sogar zum zweitbesten Akteur des Dream Teams. Natürlich abermals hinter Jordan, aber daran hatte sich Scottie Pippen mittlerweile ja gewöhnt.