Außerdem erklärt O'Shannessy, welche Statistik die dümmste im Tennis ist und welchen Fehler viele Spieler zu häufig machen.

Craig, Sie gelten als Herr der Zahlen im Tennis, Sie werden auch als Strategie-Guru bezeichnet. Wie würden Sie denn selbst beschreiben, was Sie machen?

Craig O'Shannessy: Ich bin ein Coach. Ganz einfach. Coaching ist das, was ich mein ganzes Leben lang gemacht habe. Bis 2013 hatte ich in Austin in Texas meine eigene Akademie. Am Anfang habe ich auch wie alle Coaches mit Spielern an ihrer Technik oder Fitness gearbeitet, aber irgendwann bin ich tiefer in die Materie eingestiegen und habe versucht, herauszufinden, warum Matches wirklich gewonnen oder verloren werden. Und wie ich Spielern damit helfen kann. So bin ich in die Strategie-Schiene hereingerutscht und habe da meine Nische gefunden. Es ist wichtig, wie du den Ball schlägst. Aber es ist noch wichtiger, wohin du ihn schlägst. Das fasst es ganz gut zusammen. Es geht darum, Muster im Spiel des Gegners zu erkennen. Was mir besonders am analytischen und zahlenbasierten Ansatz gefällt, ist, dass es subjektive Meinungen aus dem Spiel nimmt. Ich versuche, mit meinen Analysen Spielern dabei zu helfen, auf dem Court klügere Entscheidungen zu treffen.

Jetzt könnte man auf die Idee gekommen, dass Sie ein totaler Mathe-Nerd sein müssen.

O'Shannessy: (lacht) Um Gottes Willen, das ich bin ich überhaupt nicht. Mathe war mein schlechtestes Fach in der Schule. Mein Hintergrund ist eher ein journalistischer, ich habe am Anfang auch einige Zeit als Reporter gearbeitet. Ich brauche für meine Arbeit aber auch keine komplizierten Formeln zu kennen oder zu verstehen. In vielen Fällen geht es um simple Prozentrechnungen. Ich schaue mir gerade das Match von Jan-Lennard Struff und Karen Khachanov in Hamburg an. Struff hat den ersten Satz 6:7 verloren. Und wissen Sie warum? Weil seine Quote an ersten Aufschlägen bei 44 Prozent liegt. Es ist fast unmöglich, auf der Tour mit solch einer Quote einen Satz zu gewinnen. Würde sie bei 60 Prozent liegen, hätte er den Satz ziemlich sicher gewonnen.

Craig O'Shannessy: "Es ist eine schlechte, dumme und irreführende Statistik"

Wenn wir uns anschauen, welche Rolle die Statistiken im Tennis spielen, sehen wir aber doch, dass andere Sportarten viel weiter sind. Die Tennis-Statistiken sind seit Ewigkeiten die gleichen. Wo steht Tennis in dieser Hinsicht?

O'Shannessy: Tennis kratzt bislang nur an der Oberfläche, es wäre so viel mehr möglich. Aber in den nächsten fünf Jahren werden wir einen großen Boom erleben, es wird viel mehr Daten geben, da bin ich sicher. Wir werden in fünf Jahren ganz anders über Tennis sprechen und durch mehr Daten ganz andere und vor allem bessere Geschichten erzählen können. Wie Sie richtig sagen, seit Jahrzehnten erheben wir die gleichen Statistiken. Wissen Sie, was mich wirklich aufregt?

Nein, aber schießen Sie los.

O'Shannessy: Unforced Errors. Überall werden die Unforced Errors thematisiert, dabei ist das eine schlechte, dumme und vor allem irreführende Statistik. Sie ergibt überhaupt keinen Sinn und führt uns bei der Analyse von Matches auf die falsche Fährte. Es gibt drei Wege, wie ein Punkt enden kann. Ein Winner, ein Unforced Error und ein Forced Error. Die meisten Punkte enden mit einem erzwungenen Fehler. Aber als ich mir jetzt nach den US Open die Turnierstatistiken angeschaut habe, waren die erzwungenen Fehler überhaupt nicht aufgelistet. Nennen Sie mir einen anderen Sport, bei dem die wichtigste Statistik nicht mal aufgeführt wird. Das ist völlig absurd.

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Aber es ist fest in den Köpfen aller Tennisfreaks verankert nach leichten Fehlern zu schauen und so Matches zu bewerten.

O'Shannessy: Ja, weil wir alle es so gelernt haben und so erzogen wurden. Das Verrückte ist, dass selbst wir Tennis-Coaches einen erzwungenen nicht von einem unerzwungenen Fehler unterscheiden können, weil der Graubereich so stark ist. Ich habe einmal einen Vortrag bei einer Trainertagung gehalten und 300 Coaches einen Punkt aus einem US-Open-Match zwischen Rafael Nadal und John Millman gezeigt. Alle sollten aufstehen und die Aufgabe war es dann, dem Sitznachbarn zu sagen, ob es ein erzwungener Fehler war oder nicht. Wer richtig lag, durfte stehen bleiben. Wer falsch lag, musste sich wieder hinsetzen. Nach dem ersten Punkt saß die Hälfte des Raums schon wieder und nach dem zweiten stand fast niemand mehr. Wenn selbst wir Trainer es schon nicht verstehen, wie sollen es dann andere Menschen verstehen. Das ist ein Desaster.

Craig O'Shannessy: "Ich habe es organisiertes Chaos genannt"

Sie sollen einmal gesagt haben, dass Roger Federer eine positive Bilanz gegen Rafael Nadal haben könnte, wenn er mit Ihnen zusammengearbeitet hätte. Stimmt das?

O'Shannessy: Also ich gebe ja zu, dass ich es mag, kühn und mutig zu sein, aber das geht definitiv zu weit. (lacht) Es stand so geschrieben, aber so habe ich das nicht gesagt. Es sind natürlich immer noch die Jungs auf dem Platz, die die Matches gewinnen oder verlieren. Was ich in dem Zusammenhang meinte: Federer hat über ein Jahrzehnt lang überhaupt kein Land gesehen gegen Nadal. Die Bilanz lautete 9-23. Aber seit 2015 steht die Bilanz plötzlich bei 7-1 für ihn. Er hat also ganz offensichtlich etwas herausgefunden und weiß jetzt besser, wie er gegen Nadal spielen muss. Weil sich Rafas Spiel sicher nicht verändert hat. Seine Muster sind unglaublich rigide, er spielt immer und immer wieder nach dem genau gleichen Schema, auch bei bestimmten Spielständen zum Beispiel. Roger mag es, sein Spiel beim Return über den Slice aufzubauen, in die Rally zu kommen und seine Vorhand zu finden. Das funktioniert gegen praktisch jeden hervorragend, aber es funktioniert überhaupt nicht gegen Nadal. Gegen ihn muss er anders spielen. Wenn er das früher erkannt hätte, könnte die Rivalität und die Bilanz der beiden heute anders aussehen.

Aber Federer hatte immer Top-Coaches, vor allem mit Severin Lüthi. Warum hat es trotzdem so lange gedauert?

O'Shannessy: Severin Lüthi und Ivan Ljubicic sind beide hervorragende Coaches, mit denen ich gut befreundet bin. Ich habe einen großen Respekt vor ihrer Arbeit. Ich glaube aber, dass es manchmal nicht reicht, Spielern nur eine Meinung mitzugeben, was jetzt die richtige Strategie sein könnte. Wenn ich es ihnen wissenschaftlich erkläre, mit Zahlen, mit Videos, macht das einen großen Unterschied. Es ist ganz wichtig, ein Match nicht chronologisch zu analysieren, sondern nach Mustern zu schauen. Ich schaue mir zum Beispiel alle Punkte an, die Federer gegen Nadal gewonnen hat in allen Matches. Und isoliert alle Punkte, die er verloren hat. Oder nur alle Vorhand-Winner. Manchmal ist es für einen Spieler schwer, es auf dem Platz zu fühlen, aber wenn man es ihnen aufzeigt, wird das Bild schnell klar.

Jemand, der Nadal einmal besiegen konnte, war auch Dustin Brown 2015 in Wimbledon. Sie haben ihn damals auf Nadal eingestellt. Was waren damals die Schlüssel?

O'Shannessy: Das Gute war, dass wir zwei Tage Zeit hatten, um das Match vorzubereiten. Ich hatte Nadal zu Tode analysiert und kannte sein Spiel wirklich aus dem Effeff. Ich habe versucht, Dustin aufzuzeigen, wie er ihn packen kann und er hat den Gameplan perfekt umgesetzt. Ich habe es damals organisiertes Chaos genannt. Wenn Dustin nicht so gut spielt, sieht es meistens wie ein totales Chaos aus, für ihn und für den Gegner, aber an diesem Tag hat er die perfekte Mischung gefunden. Für Nadal muss es sich wie im Zirkus angefühlt haben, mit den ganzen Stoppbällen, mit Dustins ständiger Serve-and-Volley-Taktik, mit der Idee, Rafa ans Netz zu holen - aber da steckte ein genauer Plan dahinter. Für mich war schon vor dem Match Dustin der Favorit gegen Rafa. Er wusste genau, was er machen muss. Die Frage war nur, ob er den Plan so umsetzen kann. Das hat er diszipliniert gemacht und wurde dafür belohnt.

Sie haben von 2017 bis 2019 als Strategie-Coach mit Novak Djokovic zusammengearbeitet. Was war das für eine Zeit?

O'Shannessy: Es waren drei großartige Jahre. Ich habe für Novak Pre-Match- und Post-Match-Analysen erstellt. Entweder habe ich sie ihm persönlich präsentiert, oder ich habe sie ihm als PDF geschickt, wenn ich nicht selbst vor Ort war. Ich habe dabei sehr eng mit Marian Vajda zusammengearbeitet, wir haben immer besprochen, was wir Novak zeigen und diskutieren wollen, seien es Video-Segmente oder Daten. Es war eine Achterbahnfahrt, weil Novak so ein schwieriges Jahr 2017 hatte mit seiner Ellenbogenverletzung und auch das Jahr 2018, als er dann zurückkam, erstmal nicht gut verlief. Aber am Ende des Jahres hatte er sich in der Weltrangliste wieder von Rang 22 bis an die Spitze katapultiert und 2019 folgte ein Jahr, in dem er on fire war. Es waren viele Aufs und Abs dabei, aber insgesamt hat es eine Menge Spaß gemacht.

Warum sind Sie heute nicht mehr Teil des Teams?

O'Shannessy: Der Grund war, dass Goran Ivanisevic Teil des Teams wurde, sozusagen als neuer Head Coach. Und er hat weniger Erfahrung im Analyse-Bereich und vertraut vielleicht auch nicht so sehr darauf. Er wollte es im Endeffekt nicht mehr. Er ist der Chef und gibt die Marschroute vor, also musste ich das respektieren und akzeptieren.

Craig O'Shannessy: "Novak ist unglaublich neugierig und wissbegierig"

Was hat Sie an der Zusammenarbeit mit Djokovic besonders beeindruckt, was Sie vorher nicht so von ihm wussten?

O'Shannessy: Novak ist unglaublich neugierig und wissbegierig. Er will wirklich alles wissen. Ich erinnere mich an Unterhaltungen, bei denen er mich fragte, wie er sein Returnspiel verbessern könne. Nun wissen wir alle, dass Novak der beste Returnspieler auf dem Planeten ist. Und er ist die Nummer eins der Welt. Aber trotzdem hat er diesen Wissensdurst und diesen Drang, sich immer weiter verbessern zu wollen. Er ist auch immer bereit, Tennis im Allgemeinen und seinen Gegner im Besonderen zu studieren und zu analysieren. Er will auch immer sein Spiel verfeinern und auf ein neues Level hieven. Wir hatten nicht ein Gespräch, bei dem ich ihm etwas zeigte, er aber meinte, dass er es auf seine Art und Weise machen wollte und es ihn nicht interessiert hat. Das war sehr beeindruckend.

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Djokovic ist im Prinzip immer noch ungeschlagen 2020. Seine einzige Niederlage hat er sich in NY selbst zugefügt und in Rom hat er sich beeindruckend zurückgemeldet. Was ist gerade auf Sand entscheidend für ihn?

O'Shannessy: Gerade in den vergangenen Jahren, in denen er sich nochmal gesteigert hat, sind seine Entscheidungen auf dem Court, welchen Ball er spielen muss, noch besser geworden. Er ist dabei auch disziplinierter geworden und spielt immer noch den einen Ball mehr ins Feld. Gerade auf Sand ist das ein ganz entscheidender Punkt, den einen Ball mehr zurückzubringen. Er schlägt sich da nicht mehr selbst mit schlechten Entscheidungen und gibt dem Gegner kaum einen freien Punkt. Er spürt auch die Stärken und Schwächen seines Gegners sehr gut. Er serviert mehr zweite Aufschläge in die Vorhand des Gegners als Überraschungsmoment, er spielt auch häufiger schnellere zweite Aufschläge statt den langsamen Kick - all das zusammen macht ihn schwer zu schlagen. Bei den French Open beginnt die Diskussion um den Sieger mit Djokovic und Nadal. Bevor einer der beiden nicht ausgeschieden ist, gibt es keine andere Diskussion. Djokovic steht ganz oben im Draw, Nadal ganz unten - ich will, dass meine Spieler möglichst weit weg von ihnen in der Mitte stehen. Das ist völlig klar. Und dann schauen wir mal, was passiert.

Craig O'Shannessy: "Siehst du den Jungen da unten, der wird mal in den Top 10 der Welt stehen"

Es werden ganz andere French Open als gewohnt, alleine wegen des späten Termins.

O'Shannessy: In diesem Jahr wird es besonders interessant, da es kälter sein wird als normal und nicht so schnell. Es wird windiger sein. Es könnte bei Flutlicht gespielt werden. Das spielt alles mit rein. Die Bedingungen werden nicht so ideal sein für Nadal wie sonst im Sommer, aber dennoch muss man ihn als Topfavorit nennen, da gibt es keine andere Möglichkeit. Daran ändert auch die Niederlage in Rom gegen Schwartzman nichts. Schwartzman hat das beste Match seines Lebens gespielt, auch weil er davor furchtbar gespielt hat und überhaupt nichts zu verlieren hatte. Nadal ist die Eins vor Paris, Djokovic die Zwei und Thiem die Drei.

Sie arbeiten aktuell neben Matteo Berrettini auch mit Jan-Lennard Struff zusammen, wie ist es dazu gekommen?

O'Shannessy: Als ich 2014 meinen ersten Online-Strategie-Kurs anbot, hat ihn Struffs heutiger Coach Carsten Arriens als einer der ersten gebucht. Er hat früh den Wert der Analysen erkannt und hat dabei geholfen, das Thema in Deutschland in die Szene zu tragen und Aufmerksamkeit zu schaffen. Carsten und ich kannten uns deshalb schon, bevor er begann, Jan-Lennard zu trainieren. Da Jan-Lennard dem Thema auch sehr aufgeschlossen gegenüberstand, haben wir zusammengefunden. Seitdem stelle ich für ihn auch vor und nach den Matches Analysen zusammen und wir besprechen es zum Beispiel in Zoom-Calls. Ein großer Faktor für seine tolle Entwicklung ist, dass er gelernt hat, sich auf seine Gegner einzustellen. Er schießt sie nicht mehr nur vom Platz. Er versteht es inzwischen exzellent, die Schwachstellen seiner Gegner zu attackieren und seinen Gameplan durchzuziehen. Es ist eine große Freude, mit ihm zusammenzuarbeiten und ein Teil des Teams sein zu dürfen.

Nun müssen wir natürlich auch über Alexander Zverev sprechen, der bei den US Open nur so knapp seinen ersten Grand-Slam-Erfolg verpasste. Zverev kann Tennis spielen wie vom anderen Stern, er kann einem aber auch Rätsel aufgeben. Wenn Sie ihn über die Jahre analysiert haben, was sehen Sie?

O'Shannessy: Wenn wir zunächst mal rein über sein Talent, seine Fähigkeiten und sein Potenzial sprechen, wenn wir uns die Frage stellen, wie gut Alexander Zverev ist, dann sage ich ihnen: Zverev ist ein unfassbarer Spieler. Ich erinnere mich an ein Future-Turnier in Houston, bei dem er mitspielte. Da war er 16 Jahre alt und hat mich schon umgehauen. Als ich ihn da sah, habe ich mich zu meinem Sitznachbarn umgedreht und gesagt: Siehst du den Jungen da unten, der wird mal in den Top 10 der Welt stehen. Ich wurde ungläubig angeschaut, aber für mich war es sofort klar. Das Talent war unverkennbar. Er hatte damals schon diese unglaublich geschmeidige Rückhand, sein Aufschlag war brutal, man konnte es einfach sehen, dass hier ein spezieller Junge auf dem Platz steht. Mein Sitznachbar fragte mich dann, ob dieser Junge eine bessere Karriere haben würde als Grigor Dimitrov, der ja damals schon viel weiter war als Zverev. Ich habe gesagt: Ja, wird er. Und ich sollte Recht behalten. Was nicht mal etwas gegen Dimitrov aussagt, er hat ja auch eine tolle Karriere gemacht, aber dass Zverev es eine Stufe weiter schaffen würde, war mir klar.

Bei allem berechtigten Zverev-Hype nach den US Open: Er hat trotzdem immer noch Schwächen in seinem Spiel.

O'Shannessy: Das stimmt. Es ist ja kein Geheimnis, dass seine Vorhand häufiger zur Schwachstelle mutiert. Wenn ich gegen ihn gecoacht habe, war es natürlich immer die Strategie, seine Vorhand zu attackieren. Da offenbart er manchmal Unsicherheiten und weiß nicht genau, was er mit ihr machen soll. Und dann hat er natürlich warum auch immer diese großen Probleme mit seinem zweiten Aufschlag. Das ist sicher zum einen eine mentale Geschichte und zum anderen auch eine technische, weil in seiner ganzen Aufschlagbewegung so viel Bewegung drin ist, in den Füßen, aber auch in der Bewegung nach oben, wo es dann manchmal zu steil wird und wo er manchmal dann so abbremst. Das Verrückte ist, dass er ja innerhalb eines Matches immer wieder fantastische zweite Aufschläge auspackt.

Und dann kommt wie beim Matchball im Finale ein zweiter Aufschlag, der es gerade so übers Netz schafft, mit Minusgeschwindigkeit.

O'Shannessy: Zum Glück ist das Match nicht mit einem Doppelfehler beendet worden, das wäre tragisch gewesen. Aktuell muss er manchmal einen Zweiten mit 200km/h oder mit 100km/h servieren, um ihn ins Feld zu bringen. Er muss einfach etwas an seiner Technik arbeiten und sein Selbstbewusstsein in seinen zweiten Aufschlag wiederfinden, dann wird er diese Phase auch überstehen und in ein paar Jahren werden wir nicht mehr darüber sprechen. Sein zweiter Aufschlag ist eine Waffe, er sieht es im Moment selbst nicht so, aber er ist eine absolute Waffe. Ich sehe ihn als einen Spieler, der wie ein Schwamm unglaublich viel aufsaugen kann. Wie ein poröser Stein, in den viel Wasser reinfließen kann. Manchmal steht er auch zu weit hinter der Grundlinie und müht sich viel zu sehr ab. Er müsste teilweise viel mehr draufgehen und den Weg ans Netz suchen. Er müsste die kürzeren Ballwechsel mehr suchen und dominieren. Als ich mit Kevin Anderson gearbeitet habe, war es teilweise ähnlich. Er stand auch zu weit hinten.

Was haben Sie ihm dann gesagt?

O'Shannessy: Ich habe im Scherz zu ihm gesagt: "Du bist 2 Meter und kommst aus Südafrika. Aber du spielst wie ein 1,70 Meter großer Typ aus Bolivien." Wir vergessen bei der Diskussion gerne auch, dass Zverev immer noch ein junger Kerl ist, auch wenn er schon so lange auf der Tour ist. Natürlich muss er noch lernen. Aber er ist 23 und war schon die Nummer drei der Welt. Er hat die besten fünf oder zehn Jahre vor sich. Zehn Jahre, das sind 40 Grand Slams. Kann er fünf davon gewinnen? Zehn? Er wird ohne Frage eine großartige Karriere haben und es gibt nichts, das ihn daran hindern kann, Grand Slams zu gewinnen. Gar nichts. Ich sehe Zverev zu diesem Zeitpunkt auch knapp vor einem Daniil Medvedev oder Stefanos Tsitsipas. Und mit David Ferrer hat er sich den perfekten Coach geholt. Ferrer war ewig auf der Tour, er war ein Bilderbuchprofi und mental enorm stark. Er ist genau derjenige, den Zverev braucht und er kann ihm den nötigen Halt geben. Er kann ihm helfen, Niederlagen besser zu verdauen und sich vielleicht ein bisschen mehr auf den Gegner zu fokussieren.

Craig O'Shannessy: "Wir haben das früher bei Andre Agassi sehr häufig gesehen"

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Im US-Open-Finale hat Zverev gegen Dominic Thiem viel Serve and Volley gespielt. Sollte er das mehr machen? Auch jetzt in Paris?

O'Shannessy: Serve and Volley ist auch so ein Thema. Im vergangenen Jahr war ich in Paris und mir ist aufgefallen, dass relativ viele Spieler Serve and Volley gespielt haben. Also habe ich nach Statistiken gefragt, aber sie hatten nichts. Womit wir wieder beim Thema wären, wie rückständig Tennis da teilweise noch ist. Wahnsinn. Aber zu Ihrer Frage: Zverev sollte auf jedem Belag Serve and Volley einstreuen, auf Rasen, auf Hartplatz, aber auch auf Sand. Es ist ein gutes Mittel, gerade gegen Gegner, die beim Return so weit hinten stehen - und es ist ein wichtiger Teil seines Spiels. Die entscheidende Frage ist, ob er Roland Garros gewinnen kann, wenn Nadal und Djokovic dabei sind. Es ist möglich, aber es wird der Tag kommen, an dem er sie schlagen muss bei einem Grand Slam, wenn er den Titel haben will. Für mich ist das Entscheidende, dass er sich dann speziell auf Nadal und Djokovic einstellen muss. Du musst deine Herangehensweise verändern gegen diese Jungs.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

O'Shannessy: Tommy Haas hat Novak einmal in Miami besiegt an einem kalten Abend, weil er ihn mit seinem Slice entnervt und ihm die Power genommen hat. Zu viele Spieler gehen in Matches mit Rafa und Novak und wollen einfach ihr Spiel spielen. Das funktioniert aber erwiesenermaßen nicht. Schon gar nicht Best-of-five in einem Slam. Hoffnung ist keine Taktik. Wir haben das früher bei Andre Agassi sehr häufig gesehen, dass Spieler gegen ihn den ersten Satz gewannen, dann aber in vier Sätzen verloren. Dann kannst du dir nach dem Match die Glückwünsche für ein gutes Match und einen gewonnenen Satz abholen, aber gewinnen wirst du es niemals. Weil du für diesen einen Satz dich so kaputtmachen musst. Das ist eine Ein-Satz-Strategie, aber nicht mehr. Agassi hat sich den Satz angeschaut und seine Gegner dann in vier nach Hause geschickt. Immer und immer wieder.

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Craig O'Shannessy: "Diesen Zahlen nach gehört Thiem definitiv in die Big Four"

Wir haben noch gar nicht über den US-Open-Champion gesprochen. Wie haben Sie Dominic Thiems Leistung im Finale bewertet?

O'Shannessy: Das Finale war mental unglaublich schwierig für ihn. Alle haben ihn schon vor dem Match als Sieger gesehen, aber er wusste genau, was auf ihn zukommt. Er wusste, dass Zverev trotz seiner guten Bilanz gegen ihn kein gutes Matchup für ihn ist und dass praktisch alle Matches am seidenen Faden hängen. Er war völlig verkrampft. Erst als er so aussichtslos hinten lag, dass er sich den Gedanken erlauben konnte, dass er wohl verlieren wird, hat ihn das befreit. So merkwürdig es auch klingt. Jeder, der Tennis spielt, kennt das. Sobald du denkst, dass du es jetzt gewinnen musst, dreht der Kopf durch. Wenn Jugendliche gegen Ältere spielen, spielen sie oft herausragend. Aber wenn es dann wieder gegen Gleichaltrige geht und der Druck steigt, es gewinnen zu müssen, wird es sofort wieder schwierig. Es war ein faszinierendes Match mit einem faszinierenden Sieger. Ich frage mich, ob wir Thiem nicht in die Big Four aufnehmen müssten, so wie Andy Murray vor seinen Verletzungen ja eigentlich Teil der Big Four war.

Was würde denn dafür sprechen?

O'Shannessy: Wir müssen uns nur die Zahlen anschauen. Wenn wir 2019 und 2020 nehmen und die Bilanzen von Djokovic, Nadal, Federer und Thiem untereinander analysieren, dann sehen wir folgendes: Thiem 7-3, Djokovic 6-4, Nadal 3-5, Federer 2-6. Diesen Zahlen nach gehört Thiem also definitiv in die Big Four. Zumal er hier auch Siege bei Slams aufweisen kann, wie die beiden gegen Novak in Paris. Das ist schon alles sehr beeindruckend.

Thiem hofft, dass er nach seinem ersehnten ersten Grand-Slam-Titel jetzt lockerer aufspielen kann.

O'Shannessy: Das haben schon viele gedacht nach dem ersten großen Titel, dass sie relaxter sein würden. Auf gewisse Weise ergibt es Sinn, was Thiem sagt, aber in der Realität sieht es anders aus. Darauf sollte er nicht bauen. Wenn das nächste große Match kommt, kommt auch die Anspannung zurück.