Pro: Der BVB hat eine Vielzahl an Alternativen zu Haaland
von Stanislav Schupp
"Wir haben in der vergangenen Saison nicht zu wenig Tore geschossen", entgegnete BVB-Sportdirektor Michael Zorc jüngst klar und deutlich im kicker auf die Frage, ob die Schwarz-Gelben für die kommende Saison einen zweiten echten Stürmer neben Erling Haaland benötigen.
Ein Statement, das mit Blick auf die Zahlen noch mehr Aussagekraft erhält: Die Westfalen trafen in der abgelaufenen Bundesligasaison satte 84-mal und stellten damit einen Vereinsrekord auf. Nur Triple-Sieger FC Bayern (100 Tore) zeigte sich noch effizienter.
Haaland benötigte für seine Ausbeute gerade einmal 15 Ligaauftritte. Der Norweger wurde ursprünglich als die im November vergangenen Jahres von Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke vermisste zweite Spitze neben dem damaligen Torjäger Paco Alcacer geholt. Doch der Spanier verließ Dortmund quasi mit der Ankunft Haalands und die Borussia stand in der Folge erneut mit nur einem Neuner da - und knackte dennoch die Bestmarke.
Das lag einerseits natürlich daran, dass der 20-Jährige einschlug wie eine Bombe, andererseits aber auch, dass sich die Dortmunder offensiv variabel präsentierten. Wirft man einen Blick auf die BVB-interne Torschützenliste der Vorsaison, so sind vier Spieler aus den Top-5 genau genommen offensive Mittelfeldspieler.
BVB-Spiel für die Gegner unberechenbarer
Chefcoach Lucien Favre ließ oftmals, auch in Abwesenheit von Haaland, mit einer Doppelspitze agieren. Dabei bildeten beispielsweise Hazard oder Sancho die vorderste Front, dahinter wirbelten mal Giovanni Reyna, Marco Reus oder Julian Brandt. Oder er ließ einen der genannten Akteure als alleinige Spitze auflaufen. Umstellungen, die von Erfolg gekrönt waren.
Demnach schlussfolgerte Zorc, dass es "keinen klassischen Neuner" mehr im System des BVB gebe. Es ist davon auszugehen, dass sich auch in der kommende Saison nichts am System ändern wird. Zumal neben dem auch künftig in Schwarz-Gelb auflaufenden Sancho mit Neuzugang Reinier ein weiterer offensiver, flexibel einsetzbarer Spieler den Kader bereichert. Der Brasilianer kann sowohl hinter den Spitzen als auch auf der Außenbahn oder im Sturmzentrum agieren.
Darüber hinaus wird auch Top-Talent Youssoufa Moukoko ab seinem 16. Lebensjahr im November fester Bestandteil des Lizenspielerkaders. Intern wird Moukoko sicherlich nicht denselben Druck verspüren, wie es die millionenschweren Stars der Borussia tun, dementsprechend befreit und hoch motiviert kann er ins Abenteuer Profifußball starten.
Somit bietet das Spiel des BVB nicht nur eine Vielzahl an Alternativen, um einen möglichen Ausfall Haalands aufzufangen. Es macht es auch für den Gegner unberechenbarer.
Contra: Der BVB geht ein riskantes Spiel ein
von Jochen Tittmar
Es ist gewiss paradox, eine Diskussion über einen fehlenden zweiten Stürmer im Dortmunder Kader zu führen, wenn die vergangene Spielzeit die torreichste in der Geschichte des BVB war. Doch sinnlos ist sie nicht, denn sie dreht sich ja nicht um die Sorge, die Borussia könnte künftig zu wenige Treffer erzielen.
Die Frage, gerade angesichts des bald atemlosen Spielrhythmus', ist vielmehr: Was geschieht, sollte sich Haaland einmal längerfristig verletzen oder Pausen benötigen?
Tritt dieser Fall ein, sehe ich den BVB Stand jetzt für nicht gut genug aufgestellt. Klar, Dortmund agiert unter Favre im Angriff sehr variabel und flexibel, Spieler wie Reus, Sancho, Reyna, Hazard, Brandt, womöglich auch Reinier sind alle permanent für ein Tor gut.
Doch nicht erst die vergangene Saison bewies mehrfach, dass es ohne echten Mittelstürmer, der eine entsprechende Physis wie Haaland oder einen Torinstinkt wie auch dessen Vorgänger Alcacer mitbringt, sehr träge werden kann im BVB-Angriff.
Es geht bei der Frage ja nicht um Spiele wie jene zum Beispiel in Paderborn, wo man in der Vorsaison zwar 6:1 gewann, sich Dortmund ohne Haaland aber 45 Minuten lang gegen einen tief stehenden Gegner enorm schwer tat, um überhaupt zu guten Torgelegenheiten zu kommen.
BVB-Hauptproblem: Kein geeigneter Kandidat hinter Haaland?
Diese Probleme hat man ohne Haaland oder zuvor ohne Alcacer häufiger beobachten können, wenn Brandt oder Reus oder Hazard oder ein Dreierangriff auf dem Feld standen. Es geht vielmehr um den Anspruch des BVB in Partien gegen hochkarätige Gegner wie in der Champions League oder die Top-6 der Bundesliga.
Gegen solche Kontrahenten blieb Dortmunds Angriff ohne echten Stürmer häufig stumpf, war kaum durchsetzungs- und abschlussstark. Sich in der Stürmerdebatte dann auf einen bald 16-Jährigen ohne ein einziges Profispiel zu berufen, der definitiv starke Anlagen mitbringt und auch aus dem Stand überraschen könnte, halte ich von den Dortmunder Verantwortlichen für ein riskantes Spiel.
Ihre Kommunikation steht zudem in keinem allzu glücklichen Licht da, wenn sich Geschäftsführer Watzke im November bei der Mitgliederversammlung hinstellt und eingesteht, dass die Verpflichtung einer zweiten Nummer neun ein Fehler war und dafür tosenden Applaus erhält, nur um ein paar Monate später zu beteuern, in Moukoko stehe die zweite Neun bereits im Kader ("Da reden wir über acht Wochen, das ist kein Problem.").
Ich glaube daher, dass das Dortmunder Hauptproblem vor allem war, erneut keinen geeigneten Kandidaten für den Platz hinter Haaland gefunden zu haben. Keine leichte Aufgabe freilich, einem Stürmer unabhängig vom Alter eine Perspektive hinter dem gesetzten Torjäger aufzuzeigen - allerdings auch keine unlösbare.