Wenn die Corona-Pandemie eins gelehrt hat, dann, dass die Gewissheiten von gestern oft schon heute nichts mehr gelten. So ähnlich verhält es sich auch mit der viel diskutierten Frage der Zuschauerrückkehr in die Bundesligastadien. Noch vor einer Woche schien die Idee gestorben, nachdem die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin dem Plan der DFL bei ihrer gemeinsamen Sitzung eine klare Absage erteilt hatten.
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Die Hintertür, dass eine Arbeitsgruppe bis Ende Oktober Vorschläge für eine mögliche Rückkehr erarbeiten sollte, wurde im Laufe der Woche weit aufgestoßen. Denn weil die Zuständigkeit bei den lokalen Gesundheitsbehörden liegt, machte RB Leipzig Nägel mit Köpfen und erhielt dank eines von der Stadt hoch gelobten Hygienekonzepts die Freigabe für Spiele vor 8500 Zuschauern - was immerhin einer Auslastung von 20 Prozent der heimischen Arena entspricht.
Eine Marke, ab der die Vereine zumindest keine Verluste mehr machen würden, denn unterhalb dessen sind die Betriebskosten einfach zu hoch. Bei einer regulären Saison dagegen nehmen die 18 Bundesligisten rund 500 Millionen Euro durch Ticketing ein, die momentan in den Bilanzen nicht einkalkuliert werden können. Dennoch wären fast alle Klubs mittlerweile bereit, auch vor kleiner Kulisse zu spielen und damit ein Minus in Kauf zu nehmen, denn es geht um Symbolpolitik.
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Bayern-Boss Rummenigge: "Brauchen Emotionen und Atmosphäre"
"Es gibt Menschen, die sagen, das sei nötig, damit die Finanzen passen. Meine Sicht ist eine andere: Wir brauchen Emotionen und Atmosphäre. Darum geht es im Fußball, das ist Fußballkultur. Wir müssen jetzt den Be- und den Nachweis liefern, dass das möglich ist", erklärte Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge im Vereinsmagazin.
Doch auch für die Gegner einer Fan-Rückkehr geht es um Symbolpolitik. "Am Beginn der 2. Welle sendet es das völlig falsche Signal, die Gefahr der Pandemie sei gebannt", twitterte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der sich schon im Frühjahr vehement gegen den Restart mit Geisterspielen ausgesprochen hatte.
Wobei die grundsätzlichen Argumente der Gegner natürlich nach wie vor gültig sind: Massenansammlungen können bei Verzicht auf Abstands- und Hygieneregeln der ideale Infektionsbeschleuniger sein, weshalb ja nach wie vor die meisten Großveranstaltungen verboten oder nur unter strengen Bedingungen und mit deutlich reduzierten Besucherzahlen erlaubt sind. Und es bleibt im Fall der Bundesliga die erhöhte Ansteckungsgefahr bei der Anreise in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Einlass und nach dem Abpfiff sowie bei unkontrolliertem Jubel, von dem zumindest die Vorsitzende des Ärzteverbands Marburger Bund, Susanne Johna, ausgeht.
Kein Bundesliga-Standort überschreitet Grenzwerte: Zuschauer möglich
Allerdings hat die DFL-Taskforce Sportmedizin/Sonderspielbetrieb unter Leitung von DFB-Nationalmannschaftsarzt Tim Meyer in ihren umfangreichen und detaillierten Konzepten auf all diese Punkte explizit Rücksicht genommen und sehr konkrete Vorgaben erarbeitet. Maßstab für eine Zuschauerrückkehr ist demnach immer das Infektionsgeschehen vor Ort. Bei der so genannten Sieben-Tage-Inzidenz (Zahl der Neuinfektionen in der vergangenen Woche pro 100.000 Einwohnern) sollen analog zu den generellen Vorgaben der Politik, die ab einer Zahl von 35 Infektionen aufwärts Einschränkungen vorsieht, im Spielort und den angrenzenden Landkreisen keine Fans zugelassen werden. Dieser Wert wird momentan an keinem Bundesliga-Standort überschritten.
Zwischen 5 und 35 Infektionen - aktuell in 16 der 18 Erstligastädte der Fall - wird eine reduzierte Auslastung zwischen 33,3 und 50 Prozent bei Sitzplätzen und 12,5 Prozent bei den Stehplätzen vorgeschlagen. Das wären also mindestens bei den drei größten Stadien in Dortmund (Gesamtkapazität von 81.000 Plätzen) ca. 21.000 Zuschauer, in München (75.000) ca. 21.500 (mehr Sitzplätze) und in Berlin (74.700) rund 24.500 (nur Sitzplätze), bei den drei kleinsten in Bielefeld (26.500) ca. 7.000, in Freiburg (24.000) ca. 6.000 und bei Union Berlin (22.000) aufgrund von über 18.000 Stehplätzen nur etwa 4.500 Zuschauer.
Womit die Eisernen in der einzigartigen Situation sind, dass sie schon jetzt dank der in Berlin möglichen - und deutschlandweit mit Abstand höchsten - Obergrenze für Freiluftveranstaltungen von 5.000 Besuchern vor mehr Zuschauern spielen können als laut DFL-Vorschlag.
Leipzig und Wolfsburg dürften vor vollem Haus spielen
Bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von unter 5 schlägt der Leitfaden sogar eine komplette Öffnung der Arenen vor. Dann dürften aktuell von den 18 Erstligisten eben die Leipziger (Wert 3,9) und Wolfsburg (4,0) vor vollem Haus spielen. Die Realität ist aber, dass die Wölfe aufgrund der Vorgaben in Niedersachsen nur maximal 500 Zuschauer einlassen können, weshalb VfL-Geschäftsführer Jörg Schmadtke vor Wettbewerbsverzerrung warnte: "Es ist schon ein Unterschied, ob ein Verein 10.000 oder 15.000 Zuschauer im Stadion hat und andere Klubs 500. Dann ist eine Wettbewerbsgleichheit nicht mehr so gegeben."
Dass bei der DFL-Vollversammlung am Donnerstag trotzdem keiner der 36 Klubvertreter gegen den Leipziger Alleingang opponierte, liegt eben daran, dass man im Gegensatz zur Politik mit einer Stimme sprechen will. So wird es auf absehbare Zeit jedoch beim föderalen Flickenteppich bleiben und jeder Verein versuchen, auf lokaler Ebene das Optimum herauszuholen.
11 der 18 Erstligisten aus drei Bundesländern
Denn eine bundesweite Lösung ist auf absehbare Zeit nicht in Sicht - und das liegt an den drei größten und einwohnerstärksten Bundesländern. 11 der 18 Erstligisten stammen aus Bayern (2), Baden-Württemberg (3) und Nordrhein-Westfalen (6), was einem Anteil von 64 Prozent entspricht. Fast exakt bei 64 Prozent liegt allerdings interessanterweise auch der Anteil dieser drei Länder an allen Corona-Infizierten in ganz Deutschland sowie ebenfalls bei den Neuinfizierten im Mittelwert der vergangenen Woche (Angaben des Robert-Koch-Instituts vom Donnerstag).
Bedeutet: Angesichts dieser anhaltend hohen Zahlen, der im Süden erst zu Ende gehenden Sommerferien, die ja durch die Urlaubsreisen massiv zum Anstieg der Infektionen geführt haben, und der durch die kommenden kälteren Jahreszeiten befürchteten Ansteckungswelle werden die drei Ministerpräsidenten bei ihrem restriktiven Kurs bleiben.
Fans in Stadien: In Bayern steht die null
In Baden-Württemberg sind maximal 500 Zuschauer erlaubt, in NRW gerade noch 300 und in Bayern steht die null - als einziges Bundesland sind hier Sportveranstaltungen vor Publikum nach wie vor grundsätzlich verboten. Entsprechend erwartbar fiel die Reaktion von Markus Söder aus, der die geplante Öffnung für Zuschauer fast wortgleich wie Karl Lauterbach als "schlechtes Signal" bezeichnete. Zudem sprach er von einer "erheblichen Wettbewerbsverzerrung" und plädierte dementsprechend für einheitliche Regelungen, für die er aber kein konkretes Datum noch in diesem Jahr nennen wollte.
Doch der organisierte Fußball will jetzt die Chance nutzen, die ihm das regional teilweise sehr niedrige Infektionsgeschehen ermöglicht. Eine einheitliche Regelung kann demnach aus Sicht der Bundesligisten nur eine sukzessive Öffnung für die Fans sein, wie sie in anderen Ländern wie Italien und den Niederlanden (jeweils ca. 30 Prozent der maximalen Stadionauslastung) oder Österreich (rund 10.000 Zuschauer pro Spiel) bereits erlaubt ist.
Sollte Söder bei seiner harten Haltung bleiben, wird also neben dem FC Augsburg auch der FC Bayern der Leidtragende sein. Es wäre die Ironie der Geschichte, wenn der Rekordmeister dann ohne echte Heimspiele weniger dominant auftreten und der Meisterkampf ausgerechnet deshalb endlich wieder spannend werden würde.