Wer sind die Gewinner und Verlierer des Transfers? Für wen ergibt der Wechsel am meisten Sinn? Eine Analyse aus drei Perspektiven.

Der Havertz-Transfer: Die Perspektive von Bayer Leverkusen

"Ich erwarte nicht, dass er zurückkommt." Die Worte von Bayer-Trainer Peter Bosz zu Beginn der Woche waren eindeutig: Havertz ist trotz aller Bemühungen der Leverkusener und seines bis 2022 laufenden Vertrages nicht mehr zu halten.

Eine Tatsache, die spätestens nach der gescheiterten Champions-League-Qualifikation nicht mehr zu vermeiden war. Bosz und sein Team schafften es in drei Anläufen (über die Liga, den Pokal und die Europa League) nicht, ihrem wichtigsten Offensivspieler ein wichtiges, vielleicht sogar das wichtigste Argument für einen Verbleib zu bieten. Rein sportlich gesehen ist der Abgang von Havertz ein großer Verlust für die Werkself.

Allerdings: Leverkusen erwartet eine in Corona-Zeiten außergewöhnlich hohe finanzielle Entschädigung, mit der sich neue Offensivkräfte verpflichten lassen. Etwas mehr als ein Drittel der 80 Havertz-Millionen dürfte in den zuletzt auf Leihbasis bei RB Leipzig spielenden Patrik Schick (24) investiert werden. Der Angreifer der AS Rom ist aber eher als Erbe von Kevin Volland (28) zu sehen, der sich der AS Monaco anschließt.

Die schwierige Suche nach einem Eins-zu-eins-Ersatz für Kai Havertz

Die Aufgabe, einen Eins-zu-eins-Ersatz für Havertz zu finden, stellt sich als kompliziert heraus. Der brasilianische Spielmacher Reinier Jesus (18) von Real Madrid galt als Wunschkandidat, entschied sich aber für einen zweijährigen Wechsel auf Leihbasis zu Borussia Dortmund. Eine andere externe Alternative? Aktuell nicht in Sicht. Auf der Liste von Bosz steht noch Jeremie Boga (23), ein Offensivspieler der US Sassuolo. Beide Klubs führen Gespräche.

Das Problem: Der Mann von der Elfenbeinküste (15 Scorerpunkte in der vergangenen Serie-A-Saison) fühlt sich auf den Außenbahnen wohler als im Zentrum - und käme damit wohl nur als Nachfolger von Leon Bailey (23) in Frage, der seit Monaten mit einem Abschied aus Leverkusen liebäugelt.

Bayer Leverkusen und Peter Bosz droht eine unangenehme Hinrunde

Bosz bleibt also vorerst nichts anderes übrig, als von seinem bestehenden Kader Gebrauch zu machen. Nadiem Amiri (23) kann die Havertz-Position spielen, ist den Vorschusslorbeeren nach seiner Verpflichtung vor einem Jahr aber noch nicht gerecht geworden. Nicht auszuschließen, dass der als Jugendförderer bekannte Bosz dem nächsten Leverkusener Top-Talent Florian Wirtz (17) mehr Spielzeit gewährt. In der vergangenen Saison kam Wirtz auf sieben Bundesliga-Einsätze.

"Eines ist ganz deutlich: Wir verlieren 60 Scorerpunkte", sagte der niederländische Coach zu Beginn der Woche hinsichtlich der Abgänge von Havertz und Volland, "damit ist klar, dass wir in diesem Bereich etwas machen müssen." Bis zum 5. Oktober haben die Verantwortlichen Zeit, Transfers zu tätigen. Da sich mögliche Neuzugänge auch erst einmal auf und neben dem Platz integrieren müssten, droht Bosz eine unangenehme Hinrunde.

Stand jetzt ist klar: Wenn Leverkusen am 20. September in Wolfsburg in die Bundesliga-Saison startet, dann als großer Verlierer des Havertz-Transfers.

Der Havertz-Transfer: Die Perspektive des FC Chelsea

An der Stamford Bridge gibt es keine Corona-Krise. Die Blues um ihren russischen Oligarchen Roman Abramowitsch investieren nach den zusammen über 140 Millionen Euro teuren Verpflichtungen von Timo Werner (24), Hakim Ziyech (27), Ben Chilwell (23) und Thiago Silva (35) weiter im großen Stil in ihre Mannschaft, damit in der nächsten Saison mehr als der vierte Platz in der Premier League und das Achtelfinale in der Champions League drin ist.

Mit Havertz bekommt Frank Lampard einen der verheißungsvollsten Offensivspieler Europas, den auch viele andere Schwergewichte im Blick hatten. Die Ansprüche an den Trainer steigen damit automatisch. Lampards wichtigste Aufgabe wird es sein, eine Rolle für den vielseitig einsetzbaren Nationalspieler zu finden, in der er seine Stärken im Pass- und Kombinationsspiel und im Torabschluss bestmöglich zur Geltung bringen kann.

Bei Leverkusen war das Spiel in der vergangenen Saison auf Havertz zugeschnitten, er agierte als eine Art Freigeist, mal auf der Zehn, mal auf der Neun, mal auf der Acht. Dass er sich sehr wohl in dieser freien Rolle fühlte, zeigten seine 27 Torbeteiligungen (18 Treffer, 9 Vorlagen).

Bei Chelsea, davon ist nach den jüngsten Transfers auszugehen, dürfte die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt werden. Es sind ja nicht nur die anderen beiden Neuen, Werner und Ziyech, mit denen sich Havertz um einen Platz streitet.

Viele Optionen: Wie integriert Frank Lampard Kai Havertz?

Mit Mason Mount (21), Christian Pulisic (21), Callum Hudson-Odoi (19) und Tammy Abraham (22) stehen Lampard vier weitere Offensivspieler zur Verfügung, die Stammplatzambitionen hegen. Außerdem hat er mit dem französischen Routinier Oliver Giroud (33) noch einen Joker fürs Sturmzentrum in der Hinterhand.

"Havertz kommt gewiss nicht als Ergänzungsspieler. Wer so viel kostet, ist als Stammspieler eingeplant. Eine ideale Position für ihn zu finden, dürfte jedoch kein leichtes Unterfangen werden", sagt Chelsea-Korrespondent Nizaar Kinsella von Goal .

Seine Begründung: Mit Lampards bevorzugtem System bei Chelsea, dem 4-3-3, wurde Havertz in Leverkusen zuletzt nicht unbedingt vertraut. Bosz baute in der vergangenen Saison meist auf das 4-2-3-1 oder das 4-4-1-1. Auch im 3-4-3, das der Niederländer hin und wieder spielen ließ, durfte Havertz eigentlich machen, was er wollte. "Im 4-3-3 von Lampard kann ich mir Havertz gut als Achter vorstellen", sagt Kinsella.

Auf dieser Position erwarten den technisch beschlagenen Linksfuß aber mehr Defensivaufgaben. "Lampard wird viel ausprobieren. Havertz könnte auch auf dem Flügel oder ganz vorne spielen. Das 3-4-3 ist ebenfalls eine Option, als einer der vorderen drei Angreifer wäre Havertz dann näher am gegnerischen Tor positioniert", meint Kinsella.

Viele Optionen also. Gelingt es Lampard, Havertz optimal in sein System zu integrieren, ist sowohl in der Premier als auch in der Champions League wieder mit Chelsea zu rechnen.

Der Havertz-Transfer: Die Perspektive von Kai Havertz

Havertz macht mit seinem Wechsel nach London den viel zitierten nächsten Schritt, den er nach vier Jahren als Profi in Leverkusen als unvermeidlich ansah.

Das Projekt Chelsea ist nicht nur spannend, weil es finanzstark ist. Es ist darauf ausgelegt, junge Spieler zu formen. Lampards Chelsea soll in Zukunft erfrischenden Offensivfußball bieten. Eine Vision, die zum 21-jährigen Havertz passt. Er kann sich weiterentwickeln und den Schritt zur Weltklasse machen. "Das Potenzial dazu hat er", glaubt sein Nationalmannschaftskollege Matthias Ginter.

Fragt sich nur, ob er als technisch beschlagener Kombinationsspieler dem körperlich harten und wegen seines Tempos oft auch hektischen, überfallartigen Fußball in England gewachsen ist.

"Aus seinem Umfeld ist zu vernehmen, dass Spanien sein Wunschziel ist" , sagte der frühere Leverkusener Boss Reiner Calmund im Gespräch mit SPOX und Goal Anfang Juli nicht von ungefähr. Womöglich hätte er von seinem Spielstil her besser in die technisch hochwertigere Primera Division gepasst.

Real Madrid und der FC Barcelona waren lange Zeit interessiert, zogen sich aufgrund der Corona-Krise aber frühzeitig aus dem Transferpoker zurück. Gleiches galt für den FC Bayern, der auch wegen der Leistungsexplosion von Thomas Müller keinen Grund dazu sah, nach der Verpflichtung von Leroy Sane vorne noch einmal nachzulegen.

Tatsächlich könnte Chelsea also eher die B- statt die A-Lösung für Havertz darstellen. Die Option, ein weiteres Jahr in Leverkusen zu bleiben und auf einen Klub aus dem obersten Regal zu warten, kam für ihn aber nicht in Frage.