Thilo Kehrer versteht es offenbar gut, Menschen binnen kürzester Zeit von sich zu überzeugen. Lediglich 59 Profi-Pflichtspiele für Schalke 04 benötigte der gebürtige Tübinger, um Spitzenklub Paris Saint-Germain dazu zu verleiten, im Sommer 2018 satte 37 Millionen Euro für ihn nach Gelsenkirchen zu überweisen.
Auch Jens Keller verfiel Kehrers fußballerischen Qualitäten. Für den ehemaligen Jugendtrainer der Schalker Knappenschmiede reichte sogar nur eine Partie, um bei seinem Arbeitgeber die Werbetrommel für den Schwaben zu rühren.
"Ich habe Thilo zu Schalke geholt", verrät Keller im Gespräch mit SPOX und Goal. Er erinnert sich: "Ich habe mir bei einem U16-Länderspiel einen anderen Spieler angeschaut, der für Schalke infrage gekommen wäre. Der hat mir allerdings nicht so gut gefallen."
Anders als Kehrer. "Thilo hat mich hingegen überzeugt. Dann bin ich an den Verein herangetreten und habe gesagt: 'Der eine Junge hat mich nicht überzeugt, aber nehmt doch mal Kontakt zu Thilo Kehrer auf.' So kam der Kontakt zustande."
Kehrer-Förderer Keller: "Fand ich interessant"
Was ihm en detail so sehr an Kehrer imponierte? "Er hatte eine sehr gute Positionstechnik und ein starkes Kopfballspiel, weil er über eine enorme Sprungkraft, gepaart mit gutem Timing verfügte", sagt Keller und schiebt nach: "Einen U16-Spieler mit solchen Voraussetzungen fand ich interessant."
Kehrer folgte dem Lockruf aus dem Ruhrgebiet, wechselte 2012 vom VfB Stuttgart in den Nachwuchsbereich der Königsblauen, bei denen er von Keller vom Rechts- zum Innenverteidiger umgeschult wurde.
Sein Bundesliga-Debüt feierte Kehrer beim 3:0-Erfolg gegen den VfL Wolfsburg im Februar 2016. Es sollte sein einziger Einsatz für die erste Mannschaft in jener Saison bleiben, vornehmlich lief er für die Schalker Reserve in der Regionalliga West auf.
Thilo Kehrer: Durchbruch bei Schalke in der Saison 2016/17
Der Durchbruch gelang Kehrer in der Spielzeit 2016/17, im Dezember standen in drei aufeinanderfolgenden Spielen 90 Minuten für den damaligen U-Nationalspieler zu Buche. Kehrer, der wahlweise als Innenverteidiger, Rechtsverteidiger oder Linksverteidiger aufgeboten wurde, avancierte zum Stammspieler, hatte mit guten Leistungen großen Anteil an einer starken Folgesaison, die S04 als Vizemeister abschloss.
Es sollte seine letzte im Schalker Dress werden. Sechs Jahre, nachdem er beim Traditionsverein angeheuert hatte, zog es ihn nach Paris, in die Weltstadt. Nicht wenige Experten und Fans zeigten sich überrascht davon, dass PSG-Neutrainer Thomas Tuchel derart um Kehrers Dienste buhlte, die kolportierte Ablösesumme sorgte durchaus für weitere Verwunderung.
"Thomas Tuchel hat den Mut gehabt, Thilo für dieses Geld zu verpflichten. Das ist nicht selbstverständlich", sagt Keller. In der französischen Hauptstadt anfangs noch mit Kurzeinsätzen bedacht, spielte Kehrer sich nach rund einem Monat in der Abwehrreihe des Starensembles fest.
40-Mal kam Kehrer wettbewerbsübergreifend in seiner Premierensaison für Paris zum Einsatz, in vier Champions-League-Spielen sogar über die volle Distanz. Vor allem, weil der mittlerweile 23-Jährige nach kurzer Eingewöhnungszeit das Vertrauen seines Coaches genoss: "Ich glaube, dass jeder Trainer einen gewissen Anteil an Thilos Entwicklung hat", sagt Keller. "Aber Thomas ist ein überragender Trainer, das hat er überall bewiesen. Er hebt Thilo noch einmal auf ein internationales Niveau."
Keller über Kehrer: "Zweikampfverhalten noch einmal gereift"
Apropos Entwicklung. Diese sei Keller zufolge hervorragend. "Er ist körperlich robuster geworden. Sein Zweikampfverhalten ist dadurch noch einmal gereift. Damals war er zwar schon recht groß, aber insgesamt etwas schmächtig."
Er profitiere bei Paris natürlich darüber hinaus von seinen namhaften Mitspielern, erklärt Keller. "Du hast jeden Tag im Training absolute Top-Spieler gegen dich. Das bringt dich unheimlich weiter. Gerade von so Leuten wie Thiago Silva, die eine wahnsinnige Erfahrung haben, kann er sehr viel lernen."
Auch an seiner Einstellung habe Kehrer in den vergangenen Jahren mächtig gefeilt. "Er legt mittlerweile die nötige Ernsthaftigkeit an den Tag", sagt Keller und führt aus: "Er hatte früher ein paar Flausen im Kopf, aber nicht im negativen Sinne. Er hat immer trainiert und hatte Ziele vor Augen, aber manchmal war er eben ein Luftikus, ein Schlitzohr. Aber ganz ehrlich? Wer das mit 16 Jahren nicht ist, macht einen riesigen Fehler."
Kehrer kam nach Verletzung nur schwer wieder in Tritt
Vom Luftikus zum gestandenen PSG-Profi. Ein beeindruckender Werdegang. Ein Werdegang, der gleich zu Beginn der laufenden Saison eine jähe, schmerzliche Unterbrechung fand. Kehrer zog sich im ersten Ligue-1-Spiel gegen Nimes eine Fußverletzung zu, die ihn über drei Monate außer Gefecht setzte.
Nach seiner Genesung kam der Verteidiger, der zwischenzeitlich auch in der deutschen A-Nationalmannschaft zum festen Bestandteil gereift war, nur schwer in Tritt. Erst kurz vor der weltumspannenden Corona-Pandemie, die in Frankreich sogar den Abbruch der Saison zur Folge hatte, holte Kehrer sich seinen Platz unter den ersten Elf wieder zurück.
Die Pause nutzte er nicht, um an der Konsole zu zocken oder Netflixserien zu schauen, sondern, um sein BWL-Studium, das er im Oktober vergangenen Jahres aufgenommen hatte, voranzutreiben. In einem Interview mit der dpa sagte er: "Ich habe für mich herausgefunden, dass ich etwas für meinen Kopf tun und mich weiterbilden will." Er ergänzte: "Wenn man in der Regenerationszeit nur vor Bildschirmen sitzt, wenn man nur Playstation spielt, an der Glotze hängt oder aufs Handy und in die sozialen Medien schaut, ist das schlecht für das Gehirn."
Thilo Kehrer bei PSG: Ein schneller Aufstieg
Komplett für Kehrer sprechen auch seine Leistungen in der K.o-Phase der Champions League. In den letzten drei Partien spielte er stets über 90 Minuten, verbuchte eine Zweikampfbilanz von 65,63 Prozent und setzte die meisten Tacklings im PSG-Team (10 - 7 davon gewonnen). Nur Presnel Kimpembe (26) kam zudem mannschaftsintern auf mehr Balleroberungen als Kehrer (13).
Nur zwei Jahre nach seinem Wechsel von Schalke zu PSG steht er nun im Finale der Königsklasse, kämpft um die begehrteste Klub-Wettbewerb-Trophäe der Welt. Als Stammspieler. Ein schneller, ein überzeugender Aufstieg. Das müsste Kehrer mittlerweile gewohnt sein.
Reflektierte Aussagen, die auch seinen ehemaligen Förderer Keller beeindrucken. "Dass er jetzt ein Studium angetreten hat und nicht nur vor der Konsole sitzt, zeigt auch seine persönliche Weiterentwicklung. Er macht sich über andere Dinge, die außerhalb der Fußballwelt stattfinden Gedanken, bildet sich und tut etwas für seinen Kopf. Das spricht komplett für ihn."
Thilo Kehrer: Seine Leistungsdaten bei PSG
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