In der K.o.-Phase der laufenden Champions-League-Saison ist bekanntlich alles anders, also sind selbstverständlich auch die klassischen Fragerituale vor den Spielen anders. Bewährt hatte sich diesbezüglich seit Erfindung des Europapokals ja die Frage: Ist das Heimrecht im Rückspiel (bzw. im Hinspiel, je nachdem) ein Vorteil (bzw. ein Nachteil, je nachdem)?

Hin- und Rückspiele gibt es in dieser Saison bei dem Finalturnier ab dem Viertelfinale aber nicht mehr, genau so wenig wie Heimvorteile. Relativ schnell fand sich im Vorfeld der Spiele aber ein offizielles Nachfolge-Frageritual - und das haben alle Beteiligten den nationalen Liga-Verbänden zu verdanken.

Die sorgten mit ihrem unterschiedlichen Umgang mit der Corona-Pandemie nämlich dankenswerterweise für unterschiedliche Voraussetzungen für die partizipierenden Klubs. Das vor dem Restart der Champions League verbliebene Teilnehmerfeld von zwölf Klubs unterteilte sich dementsprechend in zwei Lager.

Auf der einen Seite die insgesamt vier Klubs aus der französischen Ligue 1 (Mitte März abgebrochen) und der deutschen Bundesliga (früh fortgesetzt und früh beendet), deren Spieler Urlaub hatten. Auf der anderen Seite die insgesamt acht Klubs aus der spanischen Primera Division, der englischen Premier League und der italienischen Serie A (jeweils spät fortgesetzt und spät beendet), deren Spieler statt Urlaub Spielrhythmus hatten.

Das neue Frageritual an alle Beteiligten lautete also: Welches Lager ist im Vorteil?

Die Prognosen der Protagonisten erwiesen sich als falsch

Die Antworten aller befragten Protagonisten ließen sich in zwei grobe Kategorie unterteilen: Die Unentschlossenen ("Wird sich zeigen", "werden wir sehen") und - der überwiegende Großteil - die Spielrhythmus-Verfechter.

Für David Alaba vom FC Bayern München war der eigene Urlaub beispielsweise "eher ein Nachteil", Robin Gosens von Atalanta Bergamo sah für die srcaubenden Mannschaften gar "einen großen Nachteil" und RB Leipzigs Trainer Julian Nagelsmann verkündete: "Mehr im Rhythmus zu sein, ist für so ein Champions-League-Turnier schon ein bisschen mehr ein Vorteil, als länger Pause gehabt zu haben." Den Urlaub als dezidierten Vorteil sah dagegen niemand, oder er schwieg gekonnt.

Umso bemerkenswerter waren die folgenden Vorkommnisse auf den Plätzen: Ins Halbfinale schafften es mit Paris Saint-Germain, Olympique Lyon, dem FC Bayern und Leipzig nämlich exakt die vier Klubs, deren Spieler aus dem Urlaub kamen. Alle Eingespielten wurden also ausgespielt. Nur Zufall? Naja.

Der FC Bayern lief mehr als Chelsea und Barcelona

Obwohl die Spieler des FC Bayern knapp fünf Wochen lang kein Pflichtspiel bestritten hatten und davon zwei Wochen im Urlaub waren, gab es bei den deutlichen Siegen gegen den FC Chelsea im Achtelfinal-Rückspiel (4:1) und den FC Barcelona im Viertelfinale (8:2) keine Anzeichen auf fehlenden Spielrhythmus oder fehlende Eingespieltheit.

Dafür gab es aber Anzeichen für extreme Frische, Fitness und Spritzigkeit. Der FC Bayern presste bei beiden Spielen unermüdlich, laut Leon Goretzka gar "brutal", und lief jeweils mehr als der Gegner. 108,1 zu 103,5 Kilometer gegen Chelsea, 107,6 zu 98,3 Kilometer gegen Barcelona. "Wir sind auf Grund gelaufen", analysierte Barcelonas Gerard Pique nach der Blamage gegen den FC Bayern, wobei er mit "gelaufen" vielleicht das falsche Wort wählte.

Leipzig, PSG und Lyon feierten im Viertelfinale späte Sieg

Der FC Bayern entschied seine beiden Spiele mit all seiner Dominanz schon frühzeitig, die anderen Urlaubs-Klubs retteten sich unterdessen mit späten Toren ins Halbfinale: Leipzig besiegte Atletico Madrid dank eines Treffers von Tyler Adams in der 88. Minute, PSG besiegte Atalanta dank Treffern von Marquinos und Eric Maxim Choupo-Moting in der 90. und 90.+3, Lyon besiegte Manchester City dank eines Doppelpacks von Moussa Dembele in der 79. und 87.

Natürlich spielten beim Zustandekommen der Ergebnisse auch andere Faktoren eine Rolle, etwa Pep Guardiolas falscher taktischer Plan für City oder Atleticos Pech beim von Stefan Savic unglücklich abgefälschten Schuss. PSG, Leipzig und Lyon profitierten bei ihren Schlussoffensiven aber sicherlich auch vom Plus an Frische, Fitness und Spritzigkeit im Vergleich zu den seit Monaten ohne Pause trainierenden und spielenden Rivalen aus Spanien, England und Italien. Wie beim FC Bayern war auch bei PSG, Leipzig und Lyon nichts von fehlendem Spielrhythmus oder fehlender Eingespieltheit zu erkennen.

Lyon-Präsident Aulas kämpfte gegen den Ligue-1-Abbruch

Eine ganz eigene Erklärung für die bemerkenswerten Vorgänge hat unterdessen Lyons Präsident Jean-Michel Aulas. Seine Spieler waren sowohl im Achtelfinal-Rückspiel gegen Juventus Turin (113,4 zu 107,7 Kilometer), als auch im Viertelfinale gegen City (114,8 zu 105,7 Kilometer) deutlich mehr als ihre Gegenspieler gelaufen und hatten im zweiten Spiel trotzdem noch Kraft für die späte Entscheidung.

Für Aulas gelang das aber nicht wegen des erholsamen Urlaubs, sondern trotz des erholsamen Urlaubs und vor allem: aus Wut über den erholsamen Urlaub. "Die Spieler haben auf diese Ungerechtigkeit reagiert", sagte Aulas, der zuvor wochenlange vergeblich gegen den Abbruch der Ligue 1 gekämpft und sogar offiziellen Einspruch dagegen eingelegt hatte. Ein Urlaub, der Sinn macht? Kann nicht sein.

Aulas' Prognose im Mai lautete deshalb: "Wenn der Einspruch keinen Erfolg hat, werden Lyon und Paris von Mannschaften massakriert werden, die viel besser vorbereitet sein werden, als jene Teams, die nicht spielen können."

Der Einspruch hatte keinen Erfolg, aber sollte Aulas' Lyon im zweiten Halbfinale den FC Bayern (Mittwoch, 21 Uhr live auf DAZN ) ausschalten, könnten sich die beiden französischen Mannschaften im Finale höchstens noch gegenseitig massakrieren - während all die Spanier, Engländer und Italiener schon längst ihren überfälligen Urlaub genießen.