Wenn man sich durch die pittoresken Gässchen Lissabons bewegt, die opulenten Plätze aufsucht, von denen man den perfekten Blick aufs Wasser und die Ponte 25 de Abril genießen kann, deutet kaum etwas darauf hin, dass hier etwas Großes, etwas Historisches im Gange ist.
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Erstmals in der Geschichte der Champions League wird der wichtigste Fußball-Klubwettbewerb in nur einer Stadt, zudem im klassischen K.o-Modus, ohne Hin- und Rückspiel ausgetragen. Ansatzweise WM- beziehungsweise EM-Feeling für die jeweiligen Mannschaften, die ihre Teamhotels bezogen haben, jedoch weniger für die Fans, die bekanntermaßen nicht live am Geschehen partizipieren dürfen.
Veränderte, ja ungewöhnliche Rahmenbedingungen für alle Beteiligten, auf die es sich einzustellen gilt. Dem FC Bayern ist die Akklimatisation offensichtlich geglückt - und zwar in beeindruckender Art und Weise, wie das utopisch gute 8:2 gegen den FC Barcelona gezeigt hat. SPOX und Goal liefern vier Argumente, warum die Münchner das Turniermannschaft-Gen besitzen.
1. Coutinho, Süle und Co: Die FCB-Reservisten in bestechender Form
Gerade bei klassischen Turnieren, die traditionell mit einem eng getakteten Spielplan aufwarten, kommt es erfahrungsgemäß auf die viel zitierte Breite im Kader an. Dass die Bayern darüber verfügen, hat sich bereits in den vergangenen Monaten angedeutet, im Achtelfinal-Rückspiel gegen den FC Chelsea manifestierte sich die Beobachtung.
Niklas Süle feierte nach überstandenem Kreuzbandriss sein Comeback, Philippe Coutinho wirbelte nach seiner Einwechslung mit großer Spielfreude, Corentin Tolisso steuerte den Treffer zum 3:1 bei und selbst Alvaro Odriozola, der seit seinem Leih-Wechsel von Real Madrid nie eine Rolle unter Hansi Flick spielte, durfte seine erste Vorlage im Bayern-Dress bejubeln.
"Coco war lange verletzt, deshalb hat es uns alle sehr gefreut", sagte Flick im Anschluss bei Sky mit Blick auf Tolissos Erfolgserlebnis und schob nach: "Auch für Alvaro, der sicherlich keine leichte Saison hatte, war es wichtig, eine Vorlage zu geben." Dass die Reservisten derart auftrumpften, sei "ein Zeichen, wie die Atmosphäre in der Mannschaft aktuell ist."
Auch Thomas Müller ging auf die Form derjenigen ein, die sich in der Vergangenheit im zweiten Glied wiederfanden: "Philippe ist ganz wichtig für uns, wir sind sehr froh, dass er bei der K.o-Phase Teil unseres Teams ist. Jeder kennt seine extravagante Qualität." Generell sei "es wichtig, nicht nur elf Spieler" auf dem Platz zu haben. Müller ergänzte: "Meine Erfahrung hat gezeigt, dass die Spieler, die von außen hereinkommen, das Spiel oftmals entscheiden."
Entscheidend war beispielsweise Coutinhos Leistung gegen seinen Ex-Klub am Freitagabend nicht, wurde er doch erst in 76. Minute, beim Spielstand von 5:2 eingewechselt. Trotzdem zeigte der kleine Brasilianer, dass auf ihn Verlass sein kann, wenn er von der Bank kommt. Sein 14-minütiger Arbeitsnachweis: zwei Tore, eine Vorlage. Auch die weiteren Einwechselspieler Coman, Süle - und die kurz vor Abpfiff mit Spielzeit bedachten Tolisso und Lucas Hernandez reihten sich ins funktionierende Konstrukt ein.
"Was mich freut, ist die Tatsache, dass die Einwechselspieler nahtlos an das angeknüpft haben, was die anderen Jungs zuvor auf dem Platz gemacht haben", schwärmte Flick nach Bayerns 8:2-Machtdemonstration. "Jeder möchte sich einbringen, jeder hat die innere Überzeugung, sich in den Dienst der Mannschaft zu stellen."
Diese Voraussetzung könnte im weiteren Turnierverlauf noch ganz wichtig werden.
2. FC Bayern physisch gerüstet - auch dank Fitnesscoach Holger Broich
Um zu erkennen, wie eklatant der spielerische Unterscheid zwischen Bayern und Barca war, reichte ein Blick auf die Anzeigetafel. Auch die Zahlen attestierten den Münchnern ein Übergewicht, ganz besonders fiel dabei die Laufleistung der beiden Kontrahenten auf. 107,6 Kilometer spulte die Mannschaft von Flick ab, während die Blaugrana lediglich 98,3 Kilometer rannten.
Die Spielphilosophie von Bayerns Übungsleiter, die auf hohes, kollektives Pressing abzielt, bedarf einer starken Physis. Dass die Münchner trotz der langen Corona-Zwangspause und nach der über einmonatigen Pflichtspielunterbrechung zwischen Anfang Juli und Anfang August keinerlei Einbruchssymptome zeigen, dürfte zu einem nicht unerheblichen Teil Fitnesscoach Holger Broich und dessen Team angerechnet werden.
Der ehemalige Leverkusener hat der Mannschaft nach Corona das obligatorische Rüstzeug verschafft, um körperliche Höchstleistungen abzurufen. "Natürlich wissen wir gut, wie negativ sich auch recht kurze Inaktivitätsphasen physiologisch auswirken können", verriet der 45-Jährige Ende April bezüglich der pandemiebedingten Unterbrechung. "Diese Gefahr von Funktionseinbußen durch Inaktivität trifft jeden Menschen."
Broich zeichnete hauptverantwortlich für das Cyber-Training im März und April, das die Spieler mächtig ins Schwitzen brachte. Müller, der den "Leiter Wissenschaft und Fitness", wie Broichs offizieller Titel lautet, neckisch "Herr Professor" nennt, verriet jüngst im Interview mit der SZ , dass er und seine Kollegen Broich wegen der hohen Trainingsintensität "am liebsten auf den Mond geschossen hätten."
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Die Früchte für die immensen Anstrengungen erntet die Mannschaft nun. Doch was macht Broichs Arbeit so wichtig, so besonders? Vielleicht sein Instinkt, die jahrelange Erfahrung für die richtige Trainingssteuerung.
"Es gab da kein Lehrbuch, das man einfach nur auf Seite 85 aufschlagen musste", sagte er der SZ . "Wann und wie es weitergeht, war im März völlig unklar." Es ging Ende Mai weiter - und die Bayern zehrten von Broichs Training, huschten von Sieg zu Sieg.
Nach dem DFB-Pokalfinale am 4. Juli gegen Bayer Leverkusen seien die Spieler "physisch und psychisch schon im Grenzbereich gewesen", erklärte Broich. "Ich glaube, den Spielern hat gutgetan, dass sie im Urlaub mal 13 Tage durchschnaufen konnten." Die Pause zwischen dem Endspiel in Berlin und dem Champions-League-Restart war aus seiner Sicht kein Nachteil, sondern kam zur rechten Zeit. "Ich glaube, dass wir auf den Punkt topfit sein werden." Broich hat sich wohl nicht getäuscht.
3. Trotz ungeklärter Zukunft einzelner Stars: FC Bayern blendet Nebengeräusche aus
Bei David Alaba sind die Chancen auf einen Verbleib wohl gestiegen. Karl-Heinz Rummenigge sprach von vorsichtigem Optimismus, ehe Alabas Berater Pini Zahavi im Münchner Teamhotel "Penha Longa Resort" aufschlug. Die Gespräche verliefen übereinstimmenden Medienberichten positiv, mit einer Einigung wird nach dem Champions-League-Turnier gerechnet.
Alaba ist nicht der einzige Bayern-Star, dessen Zukunft aktuell noch ungewiss ist. Auch der Wechsel des abwanderungswilligen Thiago ist noch nicht unter Dach und Fach, Ivan Perisic fühlt sich wohl in München, ein längerfristiges Engagement ist nach wie vor im Bereich des Möglichen. Rummenigge outete sich zuletzt als Fan des Kroaten: "Das ist ein Spieler, der mir gefällt. Er spielt vielleicht nicht immer spektakulär, aber er ist effektiv und erfüllt seine Aufgaben."
Jerome Boateng könnte sich vorstellen, seinen Vertrag zu erfüllen. Um Einnahmen zu generieren, sollen die Verantwortlichen den langjährigen Bayern-Profi einem Bericht der Sport Bild zufolge jedoch als Verkaufskandidaten ausgemacht haben.
Einige Fragezeichen also, die auf die Leistungen der Betroffenen keinerlei Einfluss zu nehmen scheinen - und auch innerhalb der Mannschaft nicht für Unruhe sorgen. Ganz im Gegenteil, das Kollektiv harmoniert bestens, Tore werden nicht bloß stumpf abgefeiert, sondern bisweilen klug eingeordnet, wie Joshua Kimmich bewies.
"Ich habe mich fast geschämt, wie ich mich nach dem Tor gefreut habe", sagte der Nationalspieler im Nachgang des 8:2 verlegen und hob Assistgeber Alphonso Davies ins Rampenlicht: "Weil das natürlich zu 99 Prozent sein Tor war. Am Ende muss ich ihn nur noch reindrücken. Weltklasse." Nur ein Exempel, das zeigt, wie es um den Teamgeist bestellt ist.
"Der Fokus liegt ganz klar auf der Champions League. Alles, was danach kommt, ist erst einmal ausgeblendet", machte Flick vor dem Aufeinandertreffen mit Barca deutlich. Eine Ansage, die seine Schützlinge komplett verinnerlicht haben.
4. Flicks Turniererfahrung als großes Plus
Vier große Turniere begleitete Flick als Co-Trainer des DFB (EM 2008, WM 2010, EM 2012, WM 2014), viermal brachte es die von ihm betreute Mannschaft mindestens bis ins Halbfinale. Eine Tradition, die er mit den Bayern nun fortführte.
Flick ist ein alter Hase, kennt die Rahmenbedingungen, die ein Turnier mit sich bringt, das Leben im Quartier - und die Komplikationen, die sich etwaig ergeben könnten. Das hat er den restlichen noch im Wettbewerb vertretenen Trainern sicherlich voraus.
Als Deutschland im Sommer 2014 Brasilien demütigte und viele dachten, dass auch Argentinien im Finale zum Selbstläufer werden würde, wurde die Welt eines Besseren belehrt. Zwar sicherte sich die deutsche Nationalmannschaft am Ende verdientermaßen den Titel, doch geriet die Partie zum absoluten Zitterspiel.
Flick war hautnah dabei und weiß dementsprechend auch das 8:2 gegen Barcelona professionell einzuordnen. "Ich glaube, wir können ein herausragendes Spiel von uns bejubeln. Wir wissen aber auch alle, dass wir noch einiges vor der Brust haben", sagte Flick. "Wir wissen, wie schnell es im Fußball gehen kann. Wir nehmen den Sieg gerne mit, aber letztlich geht es darum, die Kräfte für das Halbfinale zu sammeln. Es wird ein hartes Stück Arbeit, um dorthin zu kommen, wo wir hin möchten."
Champions League: Das Halbfinale im Überblick
Datum Uhrzeit Mannschaft 1 Mannschaft 2 18. August 21 Uhr RB Leipzig Paris Saint-Germain 19. August 21 Uhr FC Bayern Manchester City / Olympique Lyon