Thomas Müller hat in über zehn Jahren Profi-Dasein beim FC Bayern so ziemlich jede Gefühlslage miterlebt, die man sich vorstellen kann. Er hat unzählige Erfolge gefeiert, beispielsweise das legendäre Triple 2013 mit den Münchnern gewonnen, aber auch etliche Täler durchschritten.
Das verlorene Finale dahoam, das jeweils unglückliche Königsklassen-Aus gegen Real Madrid in zwei aufeinanderfolgenden Jahren 2017 und 2018, die Herbst-Krise unter Niko Kovac in dessen erstem Jahr beim deutschen Rekordmeister sowie der traurige Umstand, von selbigem quasi von der Identifikationsfigur zum Notnagel degradiert worden zu sein.
Robben, Ribery, Lewandowski: Hohe Qualität, starke Egos
Müller lernte viele Solisten kennen, diejenigen, die fußballerisch über jeden Zweifel erhaben waren, aber aufgrund ihrer starken Egos mitunter stänkerten, wenn es einmal nicht so lief.
Arjen Robben und Franck Ribery fielen in diese Kategorie, Robert Lewandowski wartete in der Vergangenheit ebenfalls mit derartigen Anwandlungen auf. Selbst Müller, der traditionell immerlustige Lausbub, fiel insbesondere während der Kovac-Ära zwischenzeitlich als Miesepeter auf.
FC Bayern: Ausgeglichen, zufrieden, ruhig
Allesamt Charakterköpfe mit hohem Standing, deren Wort Gewicht hat und hatte. Dementsprechend läuteten sie, die medialen Alarmsirenen, sobald ein wichtiger Bayern-Protagonist seine Unzufriedenheit offen oder subtil kommunizierte. Seit geraumer Zeit herrscht weitestgehend Ruhe in München, Ausgeglichenheit, Zufriedenheit, wohin man blickt.
Dass diese Stimmung mit der aktuellen sportlichen Form korreliert, dürfte klar sein. Doch was hat sich im Vergleich zu den turbulenten Zeiten, die es an der Säbener Straße dann und wann gab, geändert. Worauf fußt der monatelange, beängstigende Erfolg?
Goretzka: "Wir treten als Kollektiv mit einem klaren Plan auf"
"Wir schaffen es aktuell sehr gut, nicht nur die Qualitäten, die jeder einzelne Spieler besitzt, einzubringen, sondern als Team aufzutreten", sagte Leon Goretzka auf entsprechende Nachfrage von Goal und SPOX im Rahmen einer Medienrunde am Dienstag.
Er schob nach: "Wir haben es geschafft, dass alle eine große Bereitschaft aufbringen, gegen den Ball zu arbeiten. Wir treten als Kollektiv mit einem klaren Plan auf. Diese Intensität macht den Unterschied im Vergleich zu jenen Zeiten, in denen man sich auf die fußballerischen Qualitäten mit Ball verlassen hat."
Kollektiv mit klarem Plan contra Solisten-Ansammlung, die von einigen besonneneren Zeitgenossen zusammengehalten wird. SPOX und Goal zeigen die Entwicklung anhand von drei Bayern-Stars.
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1. Robert Lewandowski
Die Süddeutsche Zeitung hatte bereits im November vergangenen Jahres, kurz nachdem Trainer Hansi Flick das Zepter von Kovac übernommen hatte, erkannt, dass Lewandowski eine Wandlung vollzogen hatte. "Der Ex-Solist", lautete die Überschrift eines Artikels, in dem der Pole über die Unterschiede zwischen "alter" und "junger" Generation philosophierte.
"Früher waren die Spieler individueller, wollten mehr von sich aus machen", sagte Lewandowski und schloss sich selbst in besagten Spielerkreis ein. "Ich habe im Garten gekickt und musste mir selbst Aufgaben stellen."
Robert Lewandowski: Kein Einzelkämpfer mehr
Die neue Generation hingegen brauche "klare Ansagen." Der mittlerweile 31-Jährige machte dies an der Akademie-Kultur fest. "Wenn du Vorgaben von Trainern von klein auf gewohnt bist, verlierst du die individuellen Sachen, das eigene Denken." Lewandowski sieht sich in der Pflicht, besagte Ansagen zu machen, er ist unumstrittener Führungsspieler, aber eben kein Einzelkämpfer (mehr).
Klar, persönliche Rekorde seien schön. Aber, ob die Uralt-40-Tore-Marke von Gerd Müller nun von ihm gebrochen wird oder nicht, das sei unerheblich. Zuletzt stellte Lewandowski immer wieder die Wichtigkeit der Geschlossenheit heraus. Nur so könne man erfolgreich sein.
Auch nach seinem Gala-Auftritt im Achtelfinal-Rückspiel der Champions League gegen den FC Chelsea, der quasi als Paradebeispiel für die Metamorphose zur Hand genommen werden darf, gab er sich demütig: "Das Wichtigste ist, dass wir gut nach vorne gespielt haben und Spaß hatten."
Lewandowski, gegen die Blues in zwei Spielen an allen sieben Toren direkt beteiligt, trat - wie immer - als verlässlicher Goalgetter in Erscheinung, darüber hinaus bereitete er allerdings noch mehr Treffer vor (insgesamt vier). Der Angreifer war insbesondere im jüngsten Duell überall zu finden, führte die Pressingmaschine an, rochierte auf die Flügel und setzte von dort Mitspieler Corentin Tolisso mit einer maßgeschneiderten Flanke in Szene.
Müller: Lewandowski? "Nicht nur mit Toren geglänzt"
Müller bestätigte die zu beobachtenden Tendenzen zuletzt im SZ -Interview: "Robert Lewandowski hat nicht nur mit Toren geglänzt, sondern auch richtig gut mitgearbeitet. Früher gab es ja immer mal Phasen, da haben wir Mittelfeldspieler gesagt: Heute hätten wir uns da vorne doch ein bisschen mehr Laufleistung gewünscht. Immer dann, wenn wir wieder mit rotem Kopf das Spielfeld verlassen haben, nach 13 gelaufenen Kilometern. Aber unter Hansi haben alle ein auffällig gutes Defensivverhalten, auch die Stürmer."
Kurz gesagt: Lewandowski ist unter Flick gänzlich zu dem geworden, was er seit geraumer Zeit für sich beansprucht, zu sein. Ein echter Anführer, der den mannschaftlichen Erfolg über den eigenen stellt. Denn Letzterer kommt in dieser Form ohnehin von ganz alleine.
2. Jerome Boateng
Jerome Boateng ist nicht der Typ, der seinen Unmut öffentlich kommuniziert. Ganz im Gegenteil, der Abwehrmann ließ vor 15 Monaten unmissverständliche Gesten für sich sprechen. Alleine mit seinen Töchtern auf dem Meisterpodest sitzend, sinnierend, während seine Kollegen ihre Ehrenrunden drehten.
Das Fernbleiben der Feierlichkeiten, das enorme Symbolkraft ausstrahlte, das monatelange Davonschleichen in der Mixed-Zone, ohne die anwesenden Journalisten eines Blickes zu würdigen.
Uli Hoeneß bezeichnete Boateng als "Fremdkörper"
Ein Verhalten, das Unruhe stiftete und Uli Hoeneß dazu animierte, dem langjährigen Bayern-Profi unverblümt einen Wechsel nahezulegen. "Er braucht eine neue Herausforderung, er wirkt wie ein Fremdkörper", sagte der damalige Präsident. Doch dazu kam es nicht, vermeintlich fixe Abgangsmeldungen lösten sich in Rauch auf.
Vielmehr erlebte die bayrische Landeshauptstadt eine nahezu beispiellose Versöhnung, das offensichtlich zerschnittene Tischtuch wurde zusammengenäht, Boateng wurde plötzlich wieder eine Zuneigung entgegengebracht, die wohl niemand für möglich gehalten hatte.
Manuel Neuer lobt Boateng nach Chelsea-Duell: "Weltklasse"
Kapitän Manuel Neuer versah seinen Mannschaftskameraden im Anschluss ans Hinspiel gegen Chelsea mit dem Prädikat "Weltklasse", Flick war stets voll des Lobes, sobald er auf den Innenverteidiger angesprochen wurde - und verriet, dass bei Boateng "die Freude" zurückgekommen sei, weil er "Wertschätzung" bekäme.
Boateng revanchierte sich für die Blumen und schwärmte vom neuen Übungsleiter: "Seit Hansi Flick Trainer ist, fühlt man sich im Training und bei allem einfach gut. Der Spaß und die gute Laune sind zurück." Eine Aussage, die tief blicken und nicht sonderlich viel Interpretationsspielraum ließ, dass es zuvor mit der guten Laune nicht allzu weit her gewesen sein dürfte.
Champions League. Das Viertelfinale in der Übersicht
Team 1 Team 2 Datum Uhrzeit Stadion Atalanta Bergamo Paris Saint-Germain Mi, 12. August 21 Uhr Estadio da Luz RB Leipzig Atletico Madrid Do, 13. August 21 Uhr Estadio Jose Alvalade FC BarcelonaFC BayernFr, 14. August21 UhrEstadio da Luz Manchester City Olympique Lyon Sa, 15. August 21 Uhr Estadio Jose Alvalade
3. Thomas Müller
Als das bayrische Gesetz "Müller spielt immer" von Kovac außer Kraft gesetzt wurde, stichelte zunächst Müllers Ehefrau Lisa via Instagram von der Tribüne. "70 Minuten bis der mal einen Geistesblitz hat", schrieb sie mit Blick auf eine späte Einwechslung ihres Gemahlen und stieß damit eine hitzige Debatte an.
Müller, der im Nachgang natürlich Stellung zu der Causa nehmen musste, gab sich diplomatisch, der Post sei "aus der Emotion heraus" gekommen. "Sie liebt mich halt", begründete der Weltmeister von 2014 weiter.
Thomas Müller und Niko Kovac: Keine Liebesgeschichte
Dennoch war klar, dass die Beziehung zwischen ihm und Kovac nie sonderlich harmonisch war, trottete Müller, der Lautsprecher vom Dienst, doch mehrfach wortlos durch die Mixed-Zone, als er wieder einmal nicht berücksichtigt worden war.
Das für Müller typische schelmische Grinsen war verschwunden, es brodelte in dem Offensivmann. Als Kovac dann auch noch zu allem Überfluss sagte, Müller werde schon noch gebraucht, jedoch vor allem, "wenn Not am Mann" sei, war das Verhältnis zwischen Coach und Schützling vermutlich gänzlich dahin, irreparabel.
Dass ein mürrischer Müller auf die gesamtmannschaftliche Stimmung drückte, war nicht von der Hand zu weisen. "Es war seltsam für mich, sechs Wochen hintereinander aus der Startelf raus zu sein", gestand der 30-Jährige im Gespräch mit The Athletic zu Beginn des Jahres. "Einige Spieler waren müde, ich war fit, habe hart gearbeitet, aber war trotzdem nicht dabei." Dem Portal Sportbuzzer sagte Müller bezüglich seiner damalige Reservistenrolle: "Ich konnte es weder damals noch heute verstehen."
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Vorlagen-Rekord dank Vertrauen
Unter Flick, dem offenkundigen X-Faktor des Erfolges, wurde das "Müller-spielt-immer-Gesetz" wieder in der bayrischen Verfassung verankert. Das Ergebnis: Müller lieferte ab - und wie: Am Ende der Bundesliga-Saison kam er auf 21 Vorlagen und egalisierte damit den bisherigen Rekord in Deutschlands Beletage.
Doch nicht nur anhand der Zahlen ließ sich die Müller'sche Wiederauferstehung ablesen, vor allem die Körpersprache hatte sich mit Flicks Übernahme verändert. Müller, der bei Kovac ungewohnt apathisch daherkam, gestikulierte wieder, scherzte, strahlte. "Man hat ein anderes Gefühl auf dem Platz, wenn man das Vertrauen spürt", gestand er gegenüber der SZ. "Man überdreht dann auch nicht. Sinnlose und übermotivierte Aktionen gibt es dann nicht mehr."
Der Flick-Guardiola-Vergleich
Die Aufgabenverteilung unter Flick verglich er indes mit den Vorgaben, die einst Pep Guardiola an die Bayern-Stars stellte: "Ähnlich klar geregelt war unser Spiel zuletzt unter Pep Guardiola. Da durfte zwar jeder Spieler seiner Position eine individuelle Note hinzugeben, aufgrund seiner Vorlieben, Stärken und Schwächen, aber trotzdem hatte diese Position immer eine klare Aufgabe."
Zusammengefasst: Die Zeit der Solisten ist vorüber. Zum Wohle des Erfolges.