Bei der Frage nach den besten Receivern in der NFL fallen dieser Tage Namen wie Michael Thomas, Julio Jones oder auch Odell Beckham Jr. und DeAndre Hopkins. Sicherlich zu Recht. Ein Name aber fehlt eigentlich immer, wenn es um die Top 4 oder Top 5 geht: Keenan Allen von den Los Angeles Chargers.

Doch wie kann das sein? Allen gehört seit Jahren zu den konstant besten Wide Receivern in der NFL und wurde zuletzt dreimal in Serie in den Pro Bowl gewählt. Darüber hinaus ist er einer von nur zwei Spielern in der NFL, die in den vergangenen drei Spielzeiten jeweils mehr als 90 Receptions, 1100 Yards und 6 Touchdowns aufgelegt haben - der andere ist Hopkins. Mehr noch: Allen ist einer von nur zwei Spielern, die in den vergangenen zwei Spielzeiten jeweils mindestens 97 Receptions und 1100 Yards erzielt haben - der andere ist der neue Receptions-Rekordhalter Michael Thomas.

Wie kann es also sein, dass Allen so wenig Beachtung findet? Bei der vor kurzem veröffentlichten NFL Top 100 landete Allen gerade mal auf Rang 77 und war demnach nur der vierzehntbeste Wide Receiver auf der Liste, die seine Kollegen gewählt haben. Ein Fakt, den Allen auf Twitter sarkastisch kommentierte : "Ich beginne zu glauben, dass ich jemandem etwas getan habe!"

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CBS nannte ihn kürzlich den siebtbesten Receiver der NFL, ESPN hatte ihn auf Rang acht der zehn besten Wideouts. Und der professionelle Troll von NBC Sports , Ex-Quarterback Chris Simms, hatte ihn nicht mal in den Top 10.

Für Allen selbst nicht nachzuvollziehen. Auf Twitter schrieb er in Richtung Tyreek Hill, Mike Evans und Chris Godwin - "und die Liste geht weiter" -, dass jene keine besseren Receiver seien als er. "Schneller als ich, klar, an jedem Tag der Woche, aber in Sachen Separation? Bitte!"

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Keenan Allen: Beeindruckende Debütsaison gefolgt von schweren Verletzungen

Allen legte eine sehenswerte Debütsaison 2013 für die Chargers hin, die ihn in der dritten Runde des Drafts gezogen hatten. Er kam auf 1046 Yards und 8 Touchdowns. Anschließend ging seine Produktion allerdings merklich zurück, was auch damit zusammenhing, dass er sich zahlreiche schwerere Verletzungen zuzog. 2015 verpasste er - auf dem Weg zu einer Monstersaison (67 REC, 725 YDS, 4 TD in 8 Spielen) - acht Spiele mit einer Nierenverletzung, ein Jahr später war schon nach dem ersten Spiel mit einem Kreuzbandriss Schluss.

Wie Allen The Athletic 2019 verriet, war das so etwas wie ein Wendepunkt für den Wide Receiver. Danach stellte er sein Training um, begann mit dem Konditions- und Krafttraining schon sehr viel früher als bis dahin in der Offseason und lebte seither nach neuem Mantra: "Verfügbarkeit und Konstanz".

Das basierte darauf, dass er sich zwei Jahre in Folge jeweils schwer verletzt hatte: "Ich war nicht verfügbar und nicht in der Lage, Plays für mein Team zu machen. Ich war nicht in der Lage, konstant Leistung zu bringen", sagte Allen und schlussfolgerte: "Ich habe dann einfach versucht, alles zu kontrollieren, was ich kann und versuche, auf dem Feld zu sein." Sein Ziel: "Das ganze Jahr über in Form zu bleiben."

Seither ist Allen die Konstanz in Person: 2017 wurde er sowohl von der Associated Press als auch von der Pro Football Writers Association zum Comeback Player of the Year gewählt und erzielte in den vergangenen drei Jahren jeweils 6 Touchdowns. Laut Pro Football Focus hat Allen seit 2017 das viertbeste Receiving Grade in der NFL (91,2).

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Keenan Allen: Nicht genügend Big Plays am Sonntag

Was also fehlt, um Allen medial wie auf Spielerebene die Anerkennung zu geben, die ihm eigentlich zustehen sollte?

In einer so großen Liga wie der NFL fällt man am besten in Highlight Reels am Sonntagabend auf. Als Receiver am ehesten mit Big Plays wie langen Touchdown-Receptions, wie sie etwa ein Tyreek Hill regelmäßig liefert. Oder mit spektakulären Catches a la Julio oder OBJ. Ein weiterer Weg sind viele Touchdowns, die einen Chris Godwin (9) in seinem ersten Jahr als Starter in den Vordergrund katapultierten.

All das liefert Allen eher nicht. Allen ist ein Possession-Receiver, einer, der den Pass sicher fängt und vor allem die Ketten bewegt. Allen hat seit 2017 70 Third-Down-Conversions - also neue First Downs beim dritten Versuch - geschafft, die mit Abstand meisten in der NFL in dem Zeitraum. Diese Plays sind ungeheuer wichtig in der heutigen NFL, in der Possession und Aufrechterhaltung einer Angriffsserie alles bedeuten. Allen sorgt eben genau dafür, doch diese Plays schaffen es selten in die Highlightshows.

Auch ist Allen keiner, der mit "Gamebreaking"-Speed glänzt und auch mal allen davonläuft oder lange Touchdown-Pässe fängt. Er ist zwar ein exzellenter Route-Runner und versteht es wie nur wenige andere, sich mit schnellen Moves und Cuts von Gegenspielern zu lösen, aber nach dem Catch strahlt er kaum Gefahr aus. Next Gen Stats hat ihn bei Minus-0,4 Average Yards after Catch above Expectation. Das heißt, er holt nach dem Catch sogar geringfügig weniger Extra-Yards, als er eigentlich sollte.

Gefährlich ist er eher mit zahlreichen Outbreaking-Routes und Slants. Im Schnitt gehen Pässe auf ihn über 10 Intended Air Yards, was nicht für großen Raumgewinn reicht, aber eben für seine Spezialität: das First Down.

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Keenan Allen: Konstant starke Produktion seit 2017

Zudem zahlen sich seine Konstanz und Verfügbarkeit über lange Sicht definitiv aus: Seit 2017 hat Allen die viertmeisten Receiving Yards, drittmeisten Receptions und achtzehntmeisten Touchdowns auf dem Konto. Zahlen, die durchaus für einen Top-4- oder Top-5-Wide-Receiver sprechen.

Ein weiteres Problem für seine Anerkennung von außerhalb dürfte auch sein Team und die entsprechenden Umstände sein. Als er gedraftet wurde, spielten die Chargers noch in San Diego, ein verhältnismäßig kleiner TV-Markt. Naturgemäß bekommt man dort natürlich weniger Aufmerksamkeit als anderswo. Als es dann 2017 nach Los Angeles ging, wurde die Lage aber auch nicht besser. Zwar ist dies der zweitgrößte TV-Markt der USA, doch waren die Chargers eben das zweite Team dort, in einem mickrigen Fußballstadion, das sie nicht mal mit eigenen Fans füllten. Auch keine Kulisse, um national zu glänzen.

Ein Ansatz, den Head Coach Anthony Lynn jedoch nicht so ganz unterschreiben würde: "Ich denke nicht, dass es irgendwas mit uns zu tun hat. Wir wissen um Keenans Wert. Er ist ein großer Receiver, der innen und außen spielen kann. Er ist ein exzellenter Blocker im Run Game. Sein Lauf nach dem Catch ist herausragend. Manche werden ihn wegen seiner Endgeschwindigkeit kritisieren, aber er ist ein sehr selbstbewusster junger Mann und sehr produktiv. Er muss uns also gar nichts beweisen."

Eine weitere Theorie besagt, dass Allen deshalb ein wenig übersehen wird, weil er stets mit einem wahrscheinlichen Hall-of-Fame-Quarterback zusammengespielt hat. Philip Rivers allerdings ist nun weg und der nächste Chargers-Starting-QB - sei es Tyrod Taylor oder Justin Herbert - ist meilenweit von Canton entfernt. Sollte das also das große Problem gewesen sein, um den Allen-Hype hochzufahren, so ist dieses nun aus dem Weg geräumt. Jetzt kann Allen beweisen, dass er tatsächlich der Star-Receiver ist, für den er sich selbst hält. "Ich bin der beste Wide Receiver in der AFC West! Ohne Frage!", schrieb er kürzlich auf Twitter .

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2020 kann Allen also nun mit einem verhältnismäßig unbekannten Quarterback zeigen, dass er der Star und das Gesicht eines Teams sein kann. Und, dass er eben doch zu den Top-Receivern der Liga gehört. Darüber hinaus wird Allen nach der Saison zum ersten Mal in seiner Karriere Free Agent. Zweifelsohne würden ihn die Chargers mindestens mal mit dem Franchise Tag belegen, aber sein nächster Vertrag wird in jedem Fall Aufschluss über seinen tatsächlichen Stellenwert in dieser Liga geben. Erhält er dann einen Monstervertrag, dürfte auch der letzte bemerken, wie gut Allen wirklich ist.