Herr Nagelsmann, wie haben Sie die Zeit nach dem Ende der Bundesligasaison mit Ihrem Team verbracht?

Julian Nagelsmann: Wir hatten gut 18 Tage Pause und sind seit drei Wochen wieder im Trainingsbetrieb. Die Spieler haben nach einer langen Saison gar nicht so viel Heimarbeit mitbekommen, sondern der Schwerpunkt lag in der Regeneration. Denn in den wenigen Tagen verliert man nicht so viel an Kondition. Im Training haben wir den Fokus dann mehr auf taktische und technische Dinge gelegt und weniger auf körperliche Arbeit.

War das schon eine Art Saisonvorbereitung?

Nagelsmann: Das Turnier gehört offiziell zur vergangenen Saison, aber es fühlt sich so an, als gehöre das schon zur neuen. Aber das ist für den Kopf nicht entscheidend. Wir müssen mutig zum Spiel fahren. Denn wir haben in diesem einen Spiel eine größere Chance, als wenn es ein Hin- und Rückspiel geben würde. Ob es dann offiziell zur nächsten oder letzten zählt, ist dabei völlig egal.

Waren Sie zufrieden mit der Auslosung und dem Gegner Atletico Madrid?

Nagelsmann: Ich war froh, dass wir uns rechtzeitig auf einen Gegner einstellen konnten und wussten, wer es sein wird. Ich bin froh, dass es nicht gleich die Bayern geworden sind. Ein deutsches Duell muss so früh nicht sein. Und ich bin auch froh, dass es Atletico geworden ist - eine Mannschaft, gegen die wir noch nicht gespielt haben. Es ist eine unglaublich reizvolle Aufgabe, denn es ist ein Team, das sehr viel Erfahrung mitbringt und gleich 14 Spieler im Kader hat, die schon einmal in einem Endspiel im Europapokal standen. Von daher ist es kein ganz leichtes Los, aber das gibt es eh nicht mehr.

Nagelsmann über die Stärken von Atletico und Simeone

Haben Sie Ihren Spielern schon den Matchplan vorgestellt?

Nagelsmann: Ja, und das sogar früher als sonst. In den englischen Wochen bleiben ja meist nur ein oder zwei Tage dazu. Dieses Mal haben die Spieler unsere Taktik und die des Gegners schon am vergangenen Freitag bekommen, damit sie genügend Zeit haben, um sich auf Atletico vorzubereiten. Wir haben unsere Vorgaben danach im Training in Leipzig umgesetzt. In Lissabon war das nicht mehr so möglich, da das Stadion dort für Zuschauer sehr offen war.

Wo sehen Sie die Stärken der Spanier?

Nagelsmann: Atletico Madrid ist eine Mannschaft, die sehr gerne tief verteidigt und auf Konter spielt. Sie haben Phasen, in denen sie hoch pressen, was aber nicht so ihre Stärke ist. Da geben sie häufig Räume frei. Sie brauchen aber nicht viel Zeit, um wieder ihre Struktur zu finden. Da gibt es viele fleißige Spieler, die nur ein paar Sekunden benötigen, bis sie wieder hinter den Ball kommen, um Druck auszuüben. Das unterscheidet sie von vielen anderen Mannschaften. Ich würde sie auch besser einschätzen als uns. Aber in so einem K.o.-Spiel haben wir unsere Chancen, wenn wir unsere Offensiv-Power auf den Platz bekommen. Wir müssen schon irgendwann ein Tor schießen, denn Atletico ist bekannt dafür, dass sie eine 1:0-Führung oft einfach über die Bühne bringen. Wir müssen für unsere erste Elf eine gute Mischung finden aus offensiven Spielern und Spielern, die schnell ins Gegenpressing kommen.

Atletico ist bekannt dafür, sehr hart zu spielen und über alles zu diskutieren. Wie stellen Sie Ihre Mannschaft darauf ein?

Nagelsmann: Es geht darum, sich darauf mental vorzubereiten. Es geht schon an der Seitenlinie los. Jede Situation, die im Strafraum ein bisschen kritisch ist, wird sofort mit einer Elfmeterforderung kommentiert. Wir dürfen uns von dieser Aggressivität nicht mitziehen lassen, weil sie darin einfach besser sind als die meisten anderen Mannschaften in Europa. Wir müssen uns auf eine andere Art und Weise wehren und fußballerische Lösungen finden. Sie werden immer hart am Mann sein und immer wieder beim Schiedsrichter stehen und diskutieren. Aber das macht es auch so reizvoll, weil sie positiv eklig sind und immer gewinnen wollen. Auf diese Spielchen dürfen wir uns aber nicht einlassen.

Diego Simeone lebt an der Seitenlinie diesen Ehrgeiz über 90 Minuten mit vollem Einsatz vor. Übertreibt er manchmal?

Nagelsmann: Diego Simeone lebt seinen Beruf extrem. Aber er macht viele Dinge auch bewusst, das darf man nicht vergessen. Es ist nicht alles frei von der Seele weg, sondern wohlüberlegt. Da steckt schon ein System dahinter. In der Champions League wird es für ihn aber sicherlich nicht so leicht wie in der spanischen Liga. Denn bei der UEFA sind die Schiedsrichter schon sehr streng. Ich werde aber dagegenhalten, wenn es nebenan extrem wird.

Sie haben Tottenham mit Jose Mourinho ausgeschaltet. Müssen Sie Simeone und Atletico überhaupt fürchten?

Nagelsmann: Die Leistung der Mannschaft spielt dabei aber auch eine gewichtige Rolle. Tottenham war zuletzt nicht mehr so stabil wie in der Vorsaison. Atletico spielt seit Jahren fast unverändert zusammen und wird immer nur punktuell verstärkt. Das gilt auch für den Trainerstab. Von daher ist das ein in den Abläufen ungemein eingespieltes Team. Und das macht es so besonders. Diego Simeone und Jose Mourinho sind beide außergewöhnliche Trainer. Beide haben eine große Ausstrahlung, Persönlichkeit und Aura, über die viel gesprochen wird. Und deshalb freue ich mich jetzt, dass ich nach Jose auch Diego das erste Mal persönlich begegnen darf - und wir ihn und seine Mannschaft hoffentlich ähnlich souverän ausschalten werden.

Sie sprachen es schon an: Das K.o.-System hilft Leipzig?

Nagelsmann: Für uns, die wir weniger Erfahrung haben, ist eine Partie eher ein Vorteil und leichter zu spielen. Atletico hat in der Vergangenheit gezeigt, dass sie ihre Kräfte über zwei Partien einteilen und auch mal ein Spiel drehen können. Wir müssen in dieser einen Partie nicht viel taktieren, sondern können mit unserer Offensiv-Power an die Grenzen gehen.

Ist die mangelnde Erfahrung in Ihrem Team dennoch ein Nachteil?

Nagelsmann: Es ist immer ratsam, Spieler zu haben, die über eine gewisse Erfahrung verfügen. Aber ein gewisser Grad an Unbekümmertheit schadet auch nicht. Es kommt ja auch immer darauf an, ob man vom Typ die Gabe hat, die Erfahrung mit anderen zu teilen und weiterzugeben.

Nagelsmann: "Timo Werner hatte eine unglaubliche Präsenz"

Wie schwer wiegt der Abgang von Timo Werner zum FC Chelsea?

Nagelsmann: Timo Werner ist schon ein Verlust, denn er war hier der Star und hatte eine unglaubliche Präsenz in der Kabine. Aber es ist eine Chance für andere Spieler, aus diesem Schatten herauszutreten. Diese Gier möchte ich jetzt auch sehen. Denn Timo war immer gesetzt, weil er immer getroffen hat. Auch wenn er vielleicht mal nicht so gut trainiert oder gespielt hat. Damit hat er natürlich andere im Team geblockt. Und da geht es dann auch um Spielerkombinationen, weil es Paare gibt, die besser zusammenpassen.

Welche Chancen hat RB Leipzig in der Champions League?

Nagelsmann: Es kann bis ins Finale gehen. Das ist leichter als sonst, weil es nur noch zwei statt wie sonst vier Spiele sind. Wir können jung und wild und mit viel Lust auftreten und ich bin fest davon überzeugt, dass wir das Halbfinale erreichen können.

Es gab von Seiten des Präsidiums von Atletico Madrid nach der Auslosung ein paar Sticheleien. Motiviert Sie das?

Nagelsmann: Das will ich nicht überbewerten. Ich kann sie schon verstehen, denn RB Leipzig ist ja noch kein Riesen-Name in Europa. Das wollen wir noch werden. Da trifft man jedoch Aussagen, die nicht unbedingt förderlich sind. Meine Spieler lesen das ja auch. Jeder muss wissen, wie er über den Gegner spricht. Ich mache das nur mit dem höchsten Respekt gegenüber Atletico. Und wenn wir am Ende gewinnen, gebe ich ihnen mit vollen Respekt die Faust und wünsche ihnen alles Gute. Andersherum genauso und dann ist das Thema erledigt.