Die Offseason im Jahr 2020 zählt wohl zu den ereignisreichsten in der Geschichte der NFL.

Tom Brady kehrte den New England Patriots nach rund 20 Jahren den Rücken zu und schloss sich den Tampa Bay Buccaneers an. Die Kansas City Chiefs statteten Patrick Mahomes mit dem mit Abstand größten NFL-Vertrag der Geschichte aus. Das Washington Football Team verabschiedete sich nach mehr als acht Jahrzehnten vom Teamnamen Redskins. Und all das wurde nochmals überschattet von der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Auswirkungen, die sowohl in Deutschland als auch in den USA nach wie vor alltäglich präsent sind.

Im Schatten all dieser Ereignisse schien der Wechsel von Philip Rivers zu den Indianapolis Colts beinahe unterzugehen. Dabei war auch Rivers (38) eine sehr lange Zeit für die Chargers aktiv und darf sich durchaus Hoffnungen auf die Hall of Fame machen.

NFL: Indianapolis Colts im Win-Now-Modus

Doch während der Großteil der US-amerikanischen Medien vor allem über Brady in Tampa Bay, Mahomes in Kansas City, Aaron Rodgers in Green Bay oder auch Lamar Jackson in Baltimore diskutiert, erhoffen sich die Colts Großes von Rivers. Dass dieser nicht mehr unendlich viele herausragende Saisons im Tank haben wird, ist kein Geheimnis, die Intention der Colts ist somit klar: Indianapolis will mit Rivers schnell in die Spitzengruppe der NFL zurückkehren. Am besten schon in der kommenden Saison.

Rivers ist nicht der einzige Leistungsträger des Teams im Herbst seiner Karriere: Auch T.Y. Hilton, Justin Houston und Anthony Castonzo haben die magische Dreißiger-Grenze mittlerweile überschritten. Im Frühjahr tradeten die Colts zudem ihren Erstrundenpick 2020 für DeForest Buckner. Das Team befindet sich eindeutig im Win-Now-Modus.

Einer von Rivers' größten Fürsprechern ist dabei kein Geringerer als Head Coach Frank Reich. Medienberichten zufolge sprach sich Reich sogar gegen eine Verpflichtung von Brady aus, Rivers würde demnach besser zum Team und in das offensive System in Indianapolis passen.

Reichs Wort hat bei den Colts Gewicht. Innerhalb von nur zwei Jahren hat sich der 58-Jährige von der C-Lösung des Teams zu einem hochrespektierten Head Coach gemausert. In seinem ersten Jahr als Head Coach führte er Indy in den letzten zehn Saisonspielen zu neun Siegen, die Franchise fuhr ihren ersten Playoff-Sieg seit vier Jahren ein.

NFL: Indianapolis Colts sehen Rivers als "Elite-Quarterback"

Reichs Unterstützung für Rivers kommt nicht von ungefähr. Drei Jahre arbeiteten Coach und Quarterback von 2013 bis 2015 bei den San Diego Chargers zusammen. Reich war zunächst Rivers' Quarterbacks Coach, stieg bereits in seinem zweiten Jahr in San Diego aber zum Offensive Coordinator auf.

Auch Nick Sirianni, der heutige Offensive Coordinator der Colts, war schon damals mit an Bord. Er beerbte Reich als Quarterbacks Coach des Teams und arbeitete zwei Saisons direkt mit Rivers zusammen.

Rivers kenne bereits mehr als 85 Prozent der Offense, schätzte Reich noch vor dem ersten gemeinsamen Training. Der Coach erwartet Großes von seinem neuen Schützling: "Wir glauben, er ist ein Elite-Quarterback", so Reich. "Ich habe alle Würfe, die ich auf Tape gesehen habe, genau studiert und habe sie mit Würfen aus früheren Jahren verglichen. Ich habe nicht erkennen können, dass er physisch in irgendeiner Weise nachgelassen hat."

"Ich freue mich darauf, neue Plays und Konzepte zu lernen und ein Gefühl für diese zu bekommen, aber zu großen Teilen wird es nahezu das gleiche System sein, in dem ich bereits seit 2013 gespielt habe", stimmte Rivers seinem neuen Coach zu. "Über eine lange Karriere merkt man irgendwann, dass viele von uns doch irgendwie das Gleiche machen."

NFL: Gute Umstände für Rivers bei den Colts

In Indianapolis soll Rivers auf seine alten Tage so nochmals an seine besten Leistungen anknüpfen können. Die Umstände könnten definitiv schlechter sein. Im Vorjahr war die Offense der Colts zwar nicht mehr als NFL-Durchschnitt - damals erfuhr das Team allerdings auch erst ganze zwei Wochen vor dem Saisonstart vom Rücktritt seines Star-Quarterbacks. Mit Jacoby Brissett under Center brachte Reich eine solide, aber wenig explosive Offense aufs Feld.

Man kann davon ausgehen, dass diese 2020 deutlich anders aussehen wird. Ein Indiz dafür: In der vergangenen Saison liefen nur zwei Teams den Ball bei First und Second Down häufiger als Indy, 2018 - mit Andrew Luck als Quarterback - zählten die Colts in diesen Situationen noch zu den passfreudigsten Teams der NFL. 2020 dürfte der Trend wieder deutlich in diese Richtung gehen.

Indianapolis bringt in diesem Jahr alle fünf seiner O-Line-Starter zurück, laut ESPN s Pass-Block-Win-Rate waren 2019 nur zwei Units besser. Rivers könnte in seiner 17. Saison als Profi tatsächlich die beste Pass-Protection seiner Karriere genießen. In puncto Accuracy zählt der Veteran ohnehin nach wie vor zu den Besten seines Fachs.

Die größte Herausforderung für Rivers dürfte die Fehlerminimierung werden. In der vergangenen Spielzeit warfen einzig Jameis Winston und Baker Mayfield mehr Interceptions als er. Auch in der Adjusted Interception Rate von Football Outsiders , die beispielsweise Fehler von Receivern berücksichtigt, waren nur zwei Quarterbacks noch schlechter als Rivers: Winston und Kyle Allen.

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NFL: Rivers als das letzte Puzzleteil für die Colts?

Rivers, der in seiner Karriere noch nie in ein All-Pro-Team gewählt wurde, muss 2020 nicht plötzlich auf MVP-Level spielen, das wird nicht von ihm erwartet. Das Running Game der Colts zählte im Vorjahr zu den Besseren der Liga und wurde mit Jonathan Taylor im Draft weiter verstärkt. Die Defense rund um Buckner, Houston und Darius Leonard soll zudem den nächsten Schritt in ihrer Entwicklung machen.

Rivers als Quarterback soll vielmehr das letzte, fehlende Puzzleteil in einem talentierten Team sein. Die Verantwortlichen in Indiana sind überzeugt davon, ein in allen Mannschaftsteilen stark besetztes Team zu haben - etwas, das bei Rivers' in Diensten der Chargers viel zu selten der Fall war.

"Die Option, in diesem Jahr nicht zu spielen, habe ich nie in Erwägung gezogen", erklärte Rivers angesprochen auf ein mögliches Opt-Out erst kürzlich. "An diesem Punkt in meiner Karriere so eine Entscheidung zu treffen, würde bedeuten, dass es das war. Karriereende. Punkt. Doch daran denke ich überhaupt nicht."

Rivers stand in seiner Karriere erst einmal im AFC Championship Game, nie zog er in den Super Bowl ein. Im Spätherbst einer Karriere will er nun nochmal angreifen. Am besten schon in der kommenden Saison.

NFL: Philip Rivers in den vergangenen drei Jahren in Los Angeles

Saison Spiele Passquote (Prozent) Yards Touchdowns Interceptions 2017 16 62,6 4515 28 10 2018 16 68,3 4308 32 12 2019 16 66,0 4615 23 20