1. Die Perspektive von Manchester United
Mit dem Erreichen der Champions League haben die "Red Devils" nicht nur wichtige Mehreinnahmen verbucht, sie haben sich nach schwierigen Zeiten mit wenig begeisterndem Fußball auch sportlich rehabilitiert und eine Mannschaft mit Zukunftspotenzial geformt. Der Kader von Ole Gunnar Solskjaer zählt mit einem Altersdurchschnitt von 25,4 Jahren zu den jüngsten in der Premier League.
Nach der klugen Verpflichtung von Mittelfeldspieler Bruno Fernandes (25) im Januar soll nun Sancho (20) die Qualitätsoffensive der Red Devils weiter vorantreiben. Die Idee klingt einerseits sportlich sehr spannend, würden wohl nur wenige Gegner eine ähnlich schnelle und kreative Offensive bestehend aus Sancho, dem Franzosen Anthony Martial (24) und Marcus Rashford (22) aufbieten können. Zumal sich noch weitere Talente wie Daniel James (22) oder Mason Greenwood (18) aufdrängen.
Sancho als neue Nummer 7 bei United: Spannend, aber riskant
Der Sancho-Deal hätte aber auch aus Marketing-Sicht seinen Reiz: Der gebürtige Londoner wäre der erste Engländer seit Michael Owen, der die legendäre Trikotnummer 7 bekäme. Die Nummer, die einst von Größen wie Eric Cantona, David Beckham oder Cristiano Ronaldo getragen worden war, hat eine besondere Bedeutung für die Fans. Ihre letzten Träger wurden ihr alle aber nicht gerecht. Und darin liegt auch ein Wagnis für United: Mit Angel di Maria, Memphis Depay und Alexis Sanchez kamen in den vergangenen Jahren nicht minder talentierte Spieler als vermeintliche Heilsbringer ins Old Trafford, die zwar genügend Trikots verkauften, ihre hohen Ablöse- und Gehaltssummen auf dem Platz jedoch in keiner Weise rechtfertigten.
Dass Sancho auf Anhieb einschlägt, ist nicht garantiert. Und da der BVB 120 Millionen Euro für ihn verlangt und von dieser Gesamtsumme auch in Zeiten von Corona nicht abrücken möchte, wäre ein Kauf ob der unsicheren wirtschaftlichen Situation durch die Pandemie, gepaart mit den kolportierten Gehaltsforderungen des Spielers von um die 17 Millionen Euro per annum, freilich riskant.
Bayern-Star Coman als Alternative zu Sancho im Gespräch
Englische Klubs müssen wegen ihrer hoch dotierten TV-Verträge und der Mithilfe von Investoren gewiss nicht so viele Einsparungen machen wie deutsche, sind aber ebenfalls von der Krise betroffen. "Es wird kein Business as usual für irgendeinen Klub, unseren eingeschlossen, in Sommer-Transferfenster geben", betonte Uniteds Geschäftsführer Ed Woodward im April nicht grundlos.
Mit einer von der Bild ins Spiel gebrachten Ratenzahlung könnte man eine sofortige Großinvestition in diesem Jahr zwar umschiffen, doch niemand weiß, wie lange die Krise noch anhält und wann wieder mit weggebrochenen Einnahmen wie Zuschauertickets zu rechnen ist, um den Transfer in den kommenden Jahren sorgenfrei abzustottern.
Nach Informationen von SPOX und Goal sondiert der englische Rekordmeister deshalb auch den Markt nach Alternativen zu Sancho. Ein Kandidat, den Teammanager Solskjaer explizit im Blick hat: Kingsley Coman . Der FC Bayern dürfte sich zwar klar gegen einen Verkauf des Franzosen positionieren, Uniteds Stadtrivale City hatte schon eine Absage kassiert. Eine Leihe für ein Jahr scheint jedoch nicht vollkommen abwegig, da Coman durch den Transfer von Leroy Sane keinen Stammplatz mehr in München sicher hat und nach der WM 2018 nicht auch noch die EM im kommenden Jahr mit Frankreich als Zuschauer verbringen möchte.
2. Die Perspektive von Borussia Dortmund
Sportlich gesehen wäre der Verlust von Sancho für den BVB riesig - erstens im Anbetracht seiner eigenen Leistungen, zweitens wegen der nicht immer zuverlässigen Leistungen seiner Mitspieler. In der zurückliegenden Spielzeit war er der konstanteste Offensivspieler, lieferte mit 20 Toren und 20 Vorlagen nahezu immer.
Kapitän Marco Reus (31) dagegen ist (zu) oft verletzt, die erst im vergangenen Jahr verpflichteten Julian Brandt (24) und Thorgan Hazard (27) sind (noch) nicht konstant genug und von gerade erst in der Bundesliga angekommenen Talenten wie Erling Haaland (20) oder Giovanni Reyna (17) darf man auch in der nächsten Saison nicht erwarten, dass sie Woche für Woche auf Hochtouren laufen.
Umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu finden, der dem BVB-Spiel auf Anhieb das gibt, was Sancho ihm zuletzt gegeben hat. Um den talentierten Spanier Ferran Torres (20), der am Dienstag als Nachfolger von Leroy Sane bei Manchester City unterschrieb , bemühten sich die Verantwortlichen in den vergangenen Monaten nicht mehr.
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Depay für Sancho? Eine mit Risiko verbundene Idee
Nun kursieren Namen wie Memphis Depay (26) in Verbindung mit dem deutschen Vizemeister. Keine Frage: Der frühere United-Spieler steht für einen ähnlich fantasievollen Fußball wie Sancho. Bei Olympique Lyon plagte er sich zuletzt aber mit einigen Verletzungen, darunter einem Kreuzbandriss, herum, womit seine Verpflichtung ebenfalls mit dem Prädikat "risikoreich" zu versehen wäre.
Nahezu jeder Spieler aus dem Ausland bräuchte ohnehin ein paar Wochen, möglicherweise sogar ein paar Monate, um sich an die Bundesliga zu gewöhnen. Das war bei Sancho übrigens nicht anders, als er 2017 von Manchester City nach Dortmund kam. Diese Zeit hat der BVB nicht. Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke will sich vor einer Meisterschaftsansage wie im vergangenen Jahr zwar hüten, aus der Mannschaft ist aber immer wieder zu hören, dass man den FC Bayern endlich vom Thron stoßen wolle.
Umso gereizter reagierten jüngst auch die Verantwortlichen auf die Aussagen des Münchner Ehrenpräsidenten Uli Hoeneß, der dem BVB unter die Nase rieb, ein Verkaufsverein zu sein, der Talente gut ausbilde, diese aber nicht langfristig halten wolle und ihnen daher auch keine Identifikation mit dem Verein ermögliche. Ein Abgang des immer noch sehr jungen Sancho würde die Hoeneß'sche These stützen - und als klarer Prestigeverlust für Schwarz-Gelb im Kampf um die Meisterschaft durchgehen.
Der BVB bekäme die Sancho-Millionen nicht auf einen Schlag
Allein das dürfte schon Grund genug für Sportdirektor Michael Zorc sein, keinen Millimeter von seiner 120-Millionen-Forderung für den noch bis 2022 unter Vertrag stehenden Sancho abzurücken. Ein genereller Nachteil: Der BVB würde diese Summe wie auch schon im Fall Ousmane Dembele vermutlich ohnehin nicht auf einen Schlag bekommen und müsste 15 Prozent davon als Ausbildungsentschädigung an Sanchos Ex-Verein entrichten, wie sowohl die englische Zeitung Times als auch der kicker vermelden.
Heißt: Die Suche nach einem gleichwertigen Nachfolger könnten Zorc und Co. aller Voraussicht nach nicht mit der Zahlungskraft bestreiten, von der man bei einem Blick auf die reine Gesamtablöse (120 Millionen Euro) zunächst ausgehen mag.
3. Die Perspektive von Jadon Sancho
Nach drei Jahren in Dortmund sieht sich Sancho bereit für den nächsten Karriereschritt. Ihn plagt auch ein wenig Heimweh, wie immer wieder zu hören ist, weshalb seine Gedankenspiele aus persönlicher Sicht durchaus verständlich erscheinen. Hinzu kommt, dass er in Manchester weitaus mehr verdienen würde als in Dortmund.
Rein sportlich wäre United aber (noch) kein wirkliches Upgrade zum BVB. Das Projekt ist verheißungsvoll, ja, aber fürs Erste auch nur ein Projekt, wie es dem des BVB ähnelt: ein sich im Wachstum befindendes.
Würde Sancho sofort um den Gewinn der Premier League mitspielen wollen, müsste er bei Ex-Klub City oder dem aktuellen Meister aus Liverpool anheuern. Uniteds Defensive war, gerade in der Hinrunde, noch viel zu anfällig, um ernsthaft in die Nähe des großen Wurfs zu kommen, und Solskjaer mag durchaus ein guter Trainer sein, aber eben auch nicht einer vom Format Pep Guardiola oder Jürgen Klopp.
Ein weiteres Jahr in Dortmund wäre für Sancho nicht schlecht
Warum also nicht noch ein Jahr die Schule Favre besuchen, noch wichtiger für den BVB werden und anschließend zu einer möglicherweise besseren Adresse wechseln? Liverpool etwa sieht in diesem Jahr von großen Investitionen ab, wie allein der Fall Timo Werner gezeigt hat, und tut es damit den spanischen Riesen Real Madrid und FC Barcelona gleich, denen in der jüngeren Vergangenheit auch immer wieder Interesse an Sancho nachgesagt wurden.
In seiner Heimat würde er auch viel mehr im Fokus stehen als in Dortmund, was jungen Spielern nicht immer guttut. Gerade Depay, den sie im Old Trafford schon als neuen CR7 gefeiert haben, dürfte davon ein Lied singen können.