Bei Bedarf wird man ja bei Borussia Dortmund seit Jahren nicht müde zu betonen, welche großen finanziellen Dimensionen zwischen dem BVB und dem FC Bayern München liegen. Eine dieser unzähligen Episoden trug sich in der ersten Jahreshälfte 2014 zu. Damals ging es um die unterschiedliche Qualität, die beide Klubs von der Bank nachschieben können.
Trainer Jürgen Klopp referierte über die Gründe, zählte das gestandene Personal des FCB im zweiten Glied auf und kam zum Schluss: "Und bei uns sitzt Tammo Harder drauf." Das war freilich auch einer Notsituation geschuldet, da die Dortmunder in diesem Frühjahr eine ordentliche Verletzungsmisere plagte - und Harder nie mehr wieder in einer der beiden ersten Bundesligen auf einer Bank Platz nehmen sollte.
20 Jahre war Stürmer Harder damals alt und nichts deutete darauf hin, dass man etwas mehr als sechs Jahre später die nun folgende Geschichte erzählen würde. Eingewechselt wurde Harder beim 1:0-Auswärtssieg in Freiburg einst zwar nicht, die Nominierung für den Spieltagskader hatte er sich jedoch erarbeitet und verdient.
Erst im Sommer zuvor war Harder zum BVB gewechselt. Es war bereits sein zweites Engagement in Dortmund, schon ab seinem achten Lebensjahr kickte er bis 2006 dort. Und das durchaus vielseitig, wie sich Harder erinnert: "Wenn der Stammtorhüter ausfiel, habe ich ihn ersetzt."
Tammo Harder: Vom BVB zu Schalke 04 und zurück
Nach der D-Jugend lockte Erzrivale Schalke 04. "Mir hat beim BVB damals ein wenig die Wertschätzung gefehlt. Ich habe mich nicht so wohl gefühlt. Es war aber schon hart, als Dortmund-Fan den BVB zu verlassen und zu Schalke zu wechseln", sagte Harder vor vier Jahren im Interview mit Goal .
In der Schalker Knappenschmiede gelang ihm der Durchbruch im Nachwuchsbereich. Auf Anhieb gehörte der schmächtige, aber flinke Angreifer zu den besten Spielern und Torschützen seiner Jahrgänge. Mit Max Meyer ging er zur Schule, 2012 wurde er unter Trainer-Ikone Norbert Elgert Deutscher A-Jugend-Meister. Harder trug zum Erfolg mit 30 Scorerpunkten in 24 Bundesligaspielen bei.
Ein Jahr später holte S04 erneut den Sieg in der Weststaffel, schied aber in der Meisterschaftsendrunde im Halbfinale aus. Trotzdem wurde Harder mit großem Abstand Top-Scorer der A-Junioren-Bundesliga West (20 Tore, zehn Assists). Den Verbandspokal Westfalen sicherten sich die Knappen in dieser Saison auch. Insgesamt schoss Harder für die Schalker U19 30 Treffer in 53 Pflichtspielen.
Farke über Harder: "Ein echter Instinkt-Fußballer"
Da Dortmund erneut anklopfte, ließ der nur 1,74 Meter große und 65 Kilogramm schwere Harder nach sieben Jahren seinen Vertrag bei S04 auslaufen und rückte in den Drittligakader beim BVB II unter David Wagner. "Mir wurde eine bessere Anbindung zur Liga-Mannschaft angeboten", sagte Harder, der in regelmäßigen Abständen bei den Profis trainierte, in Testspielen auflief oder mit ins Trainingslager fuhr.
Harder unterzeichnete einen Profivertrag bis 2016, musste sich aber zunächst an die erhöhten körperlichen Anforderungen und die professionelle Mentalität gewöhnen. Als dieser Prozess abgeschlossen war, zündete der Kleine auf Anhieb. Am 12. Spieltag ließ ihn Wagner beim 4:0 gegen Halle von der Leine - Harder dankte es ihm mit zwei Toren und einer Vorlage. Fortan war er drin im Team, ein halbes Jahr später saß er im Breisgau bei den Profis auf der Bank. Vor allem Sebastian Kehl und Sven Bender kümmerten sich damals um den Youngster.
Eine Saison später stieg die zweite Mannschaft der Borussia aus der 3. Liga ab und es überraschte, dass der begehrte Harder nach 33 Torbeteiligungen in 71 Drittligapartien seinem Lieblingsklub treu blieb. Daniel Farke, heute Trainer bei Norwich City in England, übernahm von Wagner und erinnert sich noch gut an seinen ehemaligen Schützling: "Tammo war ein sehr ballsicherer und schlauer Spieler. Ein echter Instinkt-Fußballer mit extrem gutem Torriecher und eiskaltem Abschluss. Ich habe seine Ruhe und Abgeklärtheit als Stärke empfunden, weil sie ihm die nötige Coolness und Eiseskälte vor dem Tor gegeben haben", sagt Farke gegenüber SPOX und Goal .
Ex-BVB-Talent Tammo Harder: Seine Karriere im Überblick
Verein Pflichtspiele Tore Vorlagen Minuten FC Schalke 04 U17 45 18 11 2923 FC Schalke 04 U19 54 30 14 3022 Borussia Dortmund II 100 27 20 7421 Holstein Kiel 8 2 1 364 1. FC Saarbrücken 5 - - 157 SC Wiedenbrück 19 1 1 1009 SV Lippstadt 08 10 - - 575
Sechs Tore, neun Assists und 32 Saisonspiele später war diese Liaison jedoch wieder beendet. Durch den Abstieg in die Regionalliga geriet die U23 in Dortmund ohnehin etwas aus dem Fokus, dem neuen Trainer Thomas Tuchel stand dazu ein prominent besetzter Kader zur Verfügung. Harder wiederum war zu gut für die Regionalliga und da Coach Karsten Neitzel schon längere Zeit an ihm baggerte, schloss er sich Drittligist Holstein Kiel an.
Wie sich herausstellen würde, war dies der Anfang vom Ende für Harders Profikarriere und ein gutes Beispiel dafür, wie sehr manche Spielertypen das Vertrauen ihres Trainers spüren müssen, um an ihre Leistungsgrenze zu kommen. Neitzel gab Harder das Gefühl, gebraucht zu werden. Auch aus der 2. Liga lagen ihm damals Angebote vor, dort wäre er allerdings eher als Rotations- denn als Stammspieler gestartet.
Harders Problem in Kiel, wo er zudem erstmals in seinem Leben allein wohnte: Neitzel war schnell Geschichte und Nachfolger Markus Anfang konnte mit dem Angreifer nicht viel anfangen. Ganze zehn Spielminuten gab er Harder noch, der bereits im Winter das Weite suchte und per Leihe zurück in die Regionalliga nach Saarbrücken ging.
Dort folgte ein echter Knick: Sein Verhältnis zu Dirk Lottner war angespannt, der Trainer unterstellte Harder gar öffentlich mangelnden Trainingsfleiß. "Vor einem Spiel hat Dirk Lottner mir gesagt, ich solle jederzeit für einen Einsatz bereit sein. Weil ich in der Woche richtig Gas gegeben hätte", lautete Harders Version der Dinge.
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Tammo Harder im Sommer 2017: Vereinslos mit 23
Nach 157 Minuten Spielzeit war das Missverständnis nach einer halben Saison beendet. Kiel war unterdessen in die 2. Liga aufgestiegen und konnte einen Harder nicht mehr gebrauchen - Vertragsauflösung. Es kam jedoch noch schlimmer: Harder fand keinen neuen Verein, mit 23 Jahren war er plötzlich vereinslos.
Ex-Coach Elgert half ihm aus der Patsche, Harder trainierte ein halbes Jahr lang bei Oberligist Schalke II mit. Auch bei seinem Heimatklub SV Fortuna Seppenrade hielt er sich fit und lief bei Freizeitturnieren auf. Ende Januar 2018 biss schließlich der SC Wiedenbrück an.
Der Regionalligist spielte jedoch eine erfolgreiche Saison, Harder fand kaum ins Team. Ein Tor in sechs Einsätzen (343 Spielminuten) standen bis zum Sommer zu Buche. Anschließend verlor das Team zahlreiche Leistungsträger und stieg in Liga fünf ab. Harder hatte sich nicht im Ansatz durchsetzen können.
Harder nach BVB-Abgang vier Jahre ohne Freude am Fußball
Dennoch blieb er in der 4. Liga, Verein Nummer sieben wurde im vergangenen Sommer der SV Lippstadt 08. Harders Start war gut, als offensiver Mittelfeldspieler eingesetzt stand er in den ersten neun Spielen achtmal in der Startformation. Allerdings sollten in der Hinrunde nur noch 105 Spielminuten für ihn hinzukommen, 2020 stand er bis zum Corona-bedingten Saisonabbruch dann kein einziges Mal mehr im Kader.
Vor drei Wochen nun informierte Harder die Öffentlichkeit, dass er seine Karriere beendet habe - mit nur 26 Jahren. Beigetragen zu seiner überraschenden Entscheidung habe auch die Tatsache, dass die vier Jahre seit seinem BVB-Abgang nicht gerade eine Freude für ihn waren. Die soll jetzt aber endlich wieder im Vordergrund stehen. Oder wie es Harder gegenüber den Westfälischen Nachrichten ausdrückte: "Das war ein Kapitel, jetzt folgt ein neues."
Und zwar zurück in der Heimat, zurück bei der Familie. Harder läuft künftig wieder für Seppenrade in der Kreisliga A auf. Hier kickt auch sein Bruder Jannis, Cousin Mike Mühlberger spielt für die Reserve und Mutter Claudia ist Co-Trainerin des Damenteams.
Farke über Harder: "Tempo und Physis haben gefehlt"
"Sicherlich haben Tempo und Physis gefehlt", sagt sein Ex-Coach Farke auf die Frage, warum Harders anfangs so vielversprechender Karriereweg nicht in den absoluten Top-Bereich mündete.
Nun sind Familienmitglieder und Kumpels von einst seine Mitspieler, Harder will einfach wieder Spaß am Fußball haben. In den kommenden Tagen beginnt er eine Ausbildung zum Speditionskaufmann.