"Ist Shaquille O'Neal 115 Millionen Dollar über sieben Jahre wert?" Mit dieser Frage auf der Titelseite richtet sich der Orlando Sentinel Mitte Juli 1996 an seine Leserschaft, vorrangig Fans der Orlando Magic. Etwas mehr als 5000 Menschen melden sich per Telefon bei der Tageszeitung, die das Ergebnis wenige Tage später veröffentlicht.
Die Antwort auf diese simple Frage fällt eindeutig aus - allerdings nicht so, wie man es knapp ein Vierteljahrhundert später vermuten würde. Satte 91,3 Prozent der Anrufer stimmen für ein klares "Nein". Im Schnitt 16,4 Millionen Dollar pro Jahr für nur einen Spieler? "Verrückt", fasst ein Anrufer die Idee zusammen.
Ende der 1990er Jahre ist dies ein schier unvorstellbares Gehalt für einen Basketball-Profi, heute erscheint der vom Sentinel zur Diskussion gestellte Deal in Zeiten eines immer weiter anwachsenden Salary Caps (zumindest bis vor der Coronakrise) fast schon wie ein Kleckerbetrag. Vor allem für einen Spieler eines Kalibers von Shaq.
Der Big Diesel ist schon damals ein Biest. In seinen ersten vier Jahren in der Association im Trikot der Orlando Magic malträtiert O'Neal seine Gegner reihenweise, seine Ausbeute von 27,2 Punkten, 12,5 Rebounds sowie 2,8 Blocks bei 58,1 Prozent aus dem Feld kann sich mehr als sehen lassen.
In den Folgejahren baut der Center kein Stück ab. Im Gegenteil. Er avanciert zu einem der besten Big Men, die jemals die Zonen der NBA dominierten, holt sich insgesamt vier Championships, wird dreimal Finals-MVP. Diesen Spieler lassen die Magic jedoch im Sommer 1996 ziehen. Weil sie zu knausrig sind.
Shaquille O'Neal: Hollywood statt Nadelstreifen
In Person von Shaq verlieren die Magic den Akteur, der die Franchise eigentlich erst auf der Landkarte der NBA etabliert hat. Erst 1989 wird das Team aus Florida aus der Taufe gehoben, doch der Nr.1-Pick von 1992 führt das Team aus der knapp 290.000-Einwohner Stadt schon Anfang der 90er zu einem kometenhaften Aufstieg.
Gemeinsam mit Anfernee "Penny" Hardaway, der ein Jahr nach Shaq als Nr.3-Pick zum Team stößt, führt der 2,16-Meter-Koloss die Magic bereits im sechsten Jahr ihrer Existenz in die Finals. Auf dem Weg dorthin räumen sie sogar einen gewissen Michael Jordan aus dem Weg. Doch die Finals 1995 gehen verloren, ein Jahr später rächt sich MJ in den Ost-Finals per Sweep an Orlando.
Der Höhenflug der Magic ist damit vorbei - für lange, lange Zeit, was damals aber noch keiner ahnen kann. Nur etwa ein Jahr nach dem größten Triumph der damaligen Franchise-Historie wartet am 18. Juli 1996 der vorläufige Tiefpunkt: Shaq unterschreibt als Free Agent bei den Los Angeles Lakers. Hollywood statt Disney World. Titeljagd in Purple-and-Gold statt Nadelstreifen.
Verlängerung mit Shaq? Orlando Magic haben es in der Hand
Dabei hatten es die Magic in der eigenen Hand, Shaq zu halten. Als der damals 24-Jährige im Sommer 1996 erstmals in seiner Karriere Free Agent wird, gibt es noch keine Regelungen bezüglich eines Maximalgehalts oder eine teure Luxussteuer bei Überziehung des Salary Caps (24,4 Mio. Dollar für die Saison 1996/97). Beides wird erst nach dem Lockout 1998 im CBA festgehalten.
Der Center selbst ist einer Vertragsverlängerung in Orlando anfangs nicht abgeneigt. Die Magic halten die Bird-Rechte für Shaq, dürfen mit ihrem Spieler also verlängern, auch wenn der neue Kontrakt den Salary Cap überschreiten würde. Passt das Angebot, kann sich The Big Aristotle eine zügige Unterschrift vorstellen. Nur: Das Angebot passt ganz und gar nicht.
Die Magic legen eine Offerte in Höhe von 54 Millionen Dollar für vier Jahre auf den Tisch, wie sich Joel Corry später bei CBS Sports erinnert. Corry ist damals als Berater für Shaqs Agent Leonard Armato tätig und in den Verhandlungen dabei. Das erste Angebot entspricht vielleicht der Hälfte von dem, was sich O'Neal und sein Team vorgestellt haben.
Zeitgleich bekommen Alonzo Mourning und Juwan Howard deutlich bessere Verträge mit über 100 Millionen Dollar über sieben Jahre von den Heat beziehungsweise Wizards vorgelegt - einen niedriger dotierten Vertrag als die beiden in seinen Augen weniger talentierten Konkurrenten zu unterschreiben, kommt für Shaq nicht in Frage.
© GEPA
Hanebüchene Kritik: Orlando Magic vergraulen Shaq
Doch anstatt den Wünschen des Franchise-Stars nachzukommen, versuchen die Magic-Verantwortlichen Shaqs Wert herunterzuspielen. "Der verwirrendste Teil des Gesprächs war - das werde ich niemals vergessen -, als die Magic anfingen, O'Neals Rebounding und Defense zu kritisieren. Willst du mich auf den Arm nehmen?", erzählt Corry rückblickend.
Ein weiteres Argument der Magic: In wenigen Jahren wartet eine Vertragsverlängerung mit Penny Hardaway auf das Team, man müsse sich eine gewisse finanzielle Flexibilität beibehalten. Shaq fühlt sich gleich doppelt auf den Schlips getreten. Einerseits die hanebüchene Kritik an seinem Spiel, andererseits schien er nicht die komplette Priorität bei den Verantwortlichen zu genießen.
Die Unzufriedenheit des Superstars ruft wenig überraschend die Konkurrenz auf den Plan, allen voran die Los Angeles Lakers mit General Manager Jerry West. Die Lakers-Legende versteht es, die Traditions-Franchise aus Hollywood anzupreisen. Shaq könne dort in die Fußstapfen von Big-Men-Legenden wie George Mikan, Wilt Chamberlain oder Kareem Abdul-Jabbar treten. Und natürlich seine Schauspiel-Karriere vorantreiben.
Angeblich wollte Armato seinen Klienten ohnehin zu den Lakers lotsen. Im Glitzer und Glamour Hollywoods erwarten den Superstar schließlich deutlich mehr Werbepräsenz und mehr Möglichkeiten, Geld zu verdienen, als im vergleichsweise beschaulichen Orlando.
Für Shaq: Lakers ertraden sich den finanziellen Spielraum
Allerdings entspricht auch das erste Lakers-Angebot (7 Jahre/95,5 Mio. Dollar) nicht den Vorstellungen des Big Man. "Die Lakers konnten ihn logischerweise gar nicht bekommen, weil sie über dem Salary Cap lagen", erinnert sich der damalige Magic-GM Pat Williams später gegenüber nba.com . Aber: "Dann hat sich Mr. Jerry West an die Arbeit gemacht und gezaubert."
Die Devise: Cap Space muss her. Schon kurz vor der Free Agency fädelt West einen Trade ein, der Vlade Divac zu den Charlotte Hornets verschifft. Einziger Gegenwert ist der 13. Pick im Draft 1996 - Kobe Bryant.
Als klar ist, dass der Platz unter der Gehaltsobergrenze immer noch nicht für Shaq reicht, macht sich West erneut ans Werk. Am 16. Juli müssen George Lynch und Anthony Peeler ihre Koffer packen, dafür bekommen die Lakers von den Vancouver Grizzlies zwei Zweitrundenpicks - und die benötigte finanzielle Flexibilität.
"Das war der Moment, als die Angst und das Zittern begann. Was zuvor als unmöglich galt, war auf einmal sehr real. Das hat uns erschüttert", so Magic-GM Williams. Langsam aber sicher begreifen die Verantwortlichen in Orlando, dass sie ihre Karten falsch gespielt haben. Mit der plötzlich realen Gefahr, O'Neal zu verlieren, wird Orlando nervös und gibt ein deutlich verbessertes Angebot ab.
Shaquille O'Neal: Fan-Umfrage bringt das Fass zum Überlaufen
Als die Zahlen der Verhandlungen an die Öffentlichkeit durchsickern, entscheidet sich der Orlando Sentinel die Leser-Umfrage zum Thema Shaq-Salär zu starten. Schlechtes Timing, wie sich kurz darauf herausstellt. Die Ergebnisse der Umfrage finden auch ihren Weg zu Team USA, das sich mitten in den Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele 1996 befindet - ausgerechnet in Orlando, mit Shaq.
Das offensichtliche Ressentiment der Magic-Fans gegenüber den Vertragsvorstellungen des Big Man sorgt bei dessen Teamkollegen für Gelächter. Die einen lassen keine Gelegenheit verstreichen, um Shaq aufzuziehen, andere springen ihm öffentlich zur Seite.
"Sie werden es bereuen, denn sie werden wie Idioten aussehen", sagt beispielsweise Charles Barkley nach einer Trainingseinheit angesprochen auf die Umfrage. "Sie werden ihn vermissen." Tatsächlich ist das öffentliche Unverständnis der breiten Mehrheit der Magic-Fans der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Shaq ist gekränkt: Offenbar ist nicht nur das Team überzeugt, er sei das viele Geld nicht wert, sondern auch die Fans.
"50 Prozent war mein Egoismus. Ich hatte eine Menge Dinge am Laufen - Filme, Musikalben -, die ich mir nicht entgehen lassen wollte", blickt O'Neal nach seinem Karriereende 2011 im Orlando Sentinel auf die Free-Agency-Entscheidung zurück. "40 Prozent war die Umfrage und die Tatsache, dass ich, als ich jung war, sehr sensibel war. Und 10 Prozent war die Tatsache, das Bob (Vander Weide, damaliger Magic-Teampräsident, Anm. d. Red.) und die Organisation nicht schnell genug (auf das Lakers-Angebot) reagiert hat."
Die Karrierestatistiken von Shaquille O'Neal
Team Saisons Spiele / Minuten Punkte Rebounds Assists Blocks FG% Magic 4 295 / 37,8 27,2 12,5 2,4 2,8 58,1 Lakers 8 514 / 37,6 27,0 11,8 3,1 2,5 57,5 Heat 4 205 / 31,1 19,6 9,1 2,1 1,9 59,6 Suns 2 103 / 29,7 16,5 9,0 1,7 1,4 60,9 Cavs 1 53 / 23,4 12,0 6,7 1,5 1,2 56,6 Celtics 1 37 / 20,3 9,2 4,8 0,7 1,1 66,7 Gesamt 19 1207 / 34,7 23,7 10,9 2,5 2,3 58,2
Shaq in Los Angeles: Der Beginn einer neuen Dynastie
Kurz nach dem Lynch/Peeler-Trade zu den Grizzlies nutzt Lakers-Macher West den finanziellen Spielraum, um Shaq einen 120-Millionen-Dollar-Vertrag mit sieben Jahren Laufzeit (inklusive Ausstiegsklausel nach dem dritten Jahr) vorzulegen. Der Diesel stimmt zu. Ein Moment, den West damals mit der Geburt seiner Kinder vergleicht.
Pech für Orlando: In den Tarifverhandlungen 1995 wurde die Restricted Free Agency aus dem CBA gestrichen, die Magic können also nicht automatisch mit jedem Angebot für Shaq, der zuvor noch in seinem Rookie-Vertrag war, mitziehen. Nach dem Lockout 1998 wurde sie wieder eingeführt.
Bis heute gilt der Wechsel von O'Neal zu den Lakers als eine der größten, weil weitreichendsten Free-Agency-Entscheidungen der NBA-Geschichte. Der Sommer 1996 hat das vorzeitige Ende der potenziellen Shaq-und-Penny-Dynastie der Magic besiegelt. Gleichzeitig legte er den Grundstein für eine neue.
Zwar mussten die Fans in der Stadt der Engel noch ein paar Jährchen warten, bis sich der Erfolg einstellte, doch mit dem Deal mit Shaq, dem Trade für Kobe Bryant und schließlich der Verpflichtung von Head Coach Phil Jackson war der Weg für den Lakers-Threepeat 2000 bis 2002 geebnet.
Trotz der Erfolge gab Shaq Jahre später zu Protokoll, dass er seine damalige Entscheidung, die Magic zu verlassen, "manchmal" bereue. "Wir hatten ein junges, fabelhaftes Team. Es ist eine Schande, dass wir auseinandergerissen wurden." Und das letztendlich vor allem, weil die Orlando Magic zu geizig waren.