Noch während Michael Wiesinger die Tränen über die Wangen kullerten, wählte Nürnbergs Interimstrainer drastische Worte. "Mit unserem Club in der 96. Minute den Sarg noch mal zu öffnen, herauszusteigen und die 2. Liga zu sichern, hat mich sehr bewegt", sagte der 47-Jährige: "Wir können uns beim Fußballgott bedanken, dass er uns noch einmal die Hand gereicht hat."
Minuten zuvor waren die Nürnberger in aller letzter Sekunde dem Abstieg in die Drittklassigkeit von der Schippe gesprungen. Nach einem 2:0-Sieg im Hinspiel, nach einer desaströsen Viertelstunde in der zweiten Hälfte des Rückspiels, in denen Ingolstadt durch Tore von Stefan Kutschke (53.), Tobias Schröck (62.) und Robin Krauße (66.) auf 3:0 stellte und damit Millimeter vor dem Aufstieg stand.
Nach einer wilden Nachspielzeit, in der Fabian Schleusener (96.) den Ball irgendwie zum 1:3 über die Linie bugsierte und damit seinem Verein maximal dramatisch den Klassenerhalt sicherte. "Ich habe gedacht, ich sterbe", fasste Nürnbergs Aufsichtsratschef Thomas Grethlein die Geschehnisse im Audi-Sportpark zusammen.
Zoff zwischen Kutschke und Wiesinger
Dass in einem Moment der totalen Freude auf der einen Seite und der totalen Niedergeschlagenheit auf der anderen Seite die Emotionen nicht immer in die richtigen Bahnen gelenkt werden können, ist zumindest teilweise verständlich.
Die Ingolstädter fühlten sich vom ekstatischen Jubel der Clubberer provoziert, weshalb Stürmer Kutschke die Sicherungen durchbrannten. "Komm hier rein und sei ein Mann", brüllte Kutschke laut Bild in Richtung FCN-Coach Wiesinger und drohte diesem damit eine Tracht Prügel an. Es flogen hässliche Beleidigungen hin und her, dies räumte Wiesinger später indirekt ein.
Allerdings war der 47-Jährige im Nachgang bemüht, die Vorkommnisse nicht zu überhöhen. Er habe "Verständnis" für die Ingolstädter, es sei doch "logisch, dass die geplättet waren", sagte er. Nürnberg-Kapitän Hanno Behrens ergänzte: "Ich verstehe, dass sie enttäuscht sind, aber das war übertrieben."
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Trainer Oral mit Schiedsrichter-Schelte
Auf Ingolstädter Seite war längst nicht nur Kutschke stinksauer. Trainer Tomas Oral war aufgrund der letztlich 98 gespielten Minuten auf 180, die trotz der vom Vierten Offiziellen angezeigten fünf Minuten Nachspielzeit angesichts von vier Toren und zehn Auswechslungen zwar diskussionswürdig, aber keinesfalls skandalträchtig waren.
"Ich bin komplett leer und die Mannschaft ist am Arsch", sagte Oral bei Sport1 und schimpfte in Richtung Schiedsrichter Christian Dingert: "Für fünf Minuten Nachspielzeit gab es keinen Grund. Dann gab es am Ende der Nachspielzeit noch mal Nachspielzeit und die Szene in der letzten Sekunde war nicht ganz sauber, in der der Schiedsrichter mal am Bildschirm hätte schauen können, ob da alles passte."
Oral meinte damit einen Zweikampf unmittelbar vor dem 1:3, der allerdings richtigerweise weder von Dingert noch vom VAR als Foul gewertet wurde. Das Wort Betrug "nehme ich nicht in den Mund", meinte Oral: "Aber es ist einfach unfassbar bitter, dass so vieles innerhalb der Kürze der Zeit zusammenkommt."
Trotzdem ließ sich Oral zu einer generellen Schiri-Schelte hinreißen: "Es gibt kein Fingerspitzengefühl mehr. Die Schiedsrichter haben nur noch ihre Anweisungen und sind nicht mehr Herr ihrer eigenen Sinne, weil sie nur noch gelenkt werden. Der Schiedsrichter ist nur noch eine Marionette vom Video-Referee. Das Zwischenmenschliche fehlt komplett."
Pyrotechnik beim Empfang in Nürnberg
Den Nürnbergern war es letztlich egal, sie kehrten am Samstagabend gegen 23 Uhr zurück und wurden am Vereinsgelände am Valznerweiher von zwei Fangruppen von insgesamt nur "einigen wenigen" Anhängern empfangen. Ein Teil wollte einfach den Klassenerhalt feiern, der andere Teil seinen Unmut über die desaströse Saison loswerden.
Es wurde Pyrotechnik abgebrannt, die Polizei rückte vorsorglich an, wie ein Sprecher gegenüber nordbayern.de bestätigte. Von irgendwelchen Zwischenfällen sei der Polizei allerdings nichts bekannt.
Die Mannschaft verließ den Valznerweiher laut Bild allerdings schnell wieder und feierte anschließend am Max-Morlock-Stadion mit Angestellten des Vereins.
Wird Marek Mintal neuer Chefcoach in Nürnberg?
Die Probleme der Nürnberger sind mit der Rettung freilich nicht verschwunden. Wiesinger mahnte deshalb: "Jetzt sollten wir erst mal einen Haken dran machen und das Ganze kritisch und nüchtern analysieren."
Eine Aufarbeitung der Saison wird auch eingefordert vom Haupt- und Trikotsponsor des Club. "Eine kritische Reflexion des Geschehenen sehen wir als wichtig für eine zukunftsfähige Neuausrichtung des Vereins", hieß es in einer Stellungnahme der Nürnberger Versicherung.
Kritik wird sich vor allem Sportvorstand Robert Palikuca gefallen lassen müssen: Er lag unter anderem mit den Trainern Damir Canadi und Jens Keller daneben und hat wenig Argumente für eine Weiterbeschäftigung.
Club-Idol Marek Mintal, Helfer von Wiesinger in der Relegation, könnte der neuer Cheftrainer werden, wer auch immer das dann zu entscheiden hat. Wiesinger betonte unterdessen, dass er auf seinen Posten als Leiter des Nachwuchsleistungszentrums zurückkehren werde: "Mein Auftrag ist erfüllt."