Schlossberg. Voith-Arena. Heidenheim. Vermutlich hat Claudio Pizarro davon noch nie gehört, ganz sicher hat er sich bis letzte Woche auch noch nie damit beschäftigt. Warum auch? Nun ist das Ende aber nah. Hier oben, auf dem Heidenheimer Schlossberg, in der Voith-Arena, dem höchstgelegenen Stadion im deutschen Profifußball, vor 15.000 leeren Plätzen und direkt umgeben vom Wald, endet an diesem Montag die große Karriere des größten Bundesligaspielers der letzten zwanzig Jahre.

Es wird ein leiser Abschied für Pizarro und vielleicht wird es auch ein sehr trauriger. Sein erster, dritter, fünfter und siebter Bundesliga-Klub Werder Bremen steht an der Schwelle zur zweiten Liga, direkt am Abgrund. In der Stadt der Stadtmusikanten erzählen sie sich in diesen Tagen gerne ein anderes Märchen: Das vom ewigen Claudio, wie er mit einer letzten Heldentat diese eine Liebe rettet. Ein letztes siegbringendes Tor in der Schlussphase, zur Not auch ein schnödes 1:1, so wie es dem Hamburger SV schon doppelt zum Klassenerhalt verholfen hatte vor ein paar Jahren. Das würde doch schon genügen.

Claudio Pizarro: Wenig Einsatzzeiten in der letzten Saison

Dafür müsste Pizarro aber auch ein letztes Mal aufs Feld sprinten. In dieser Saison war das nicht mehr so oft der Fall. 18 Einwechslungen sind notiert, die meisten davon gereichten dem Altmeister nur noch für ein paar Minuten Spielzeit. Es ist jetzt dann doch das passiert, was die meisten sich nicht vorstellen konnten, Pizarro wohl am wenigsten: Dass er in einer Liga, die so sehr auf Geschwindigkeit getrimmt ist und in der Teenager schon zu Weltstars erklärt werden, weil sie schnell sind und so gut, nur noch partiell mithalten kann. Dass einige Leute am Ende sagen: Es ist jetzt dann vielleicht doch besser, dass er aufhört. Oder noch schlimmer: Dass er vor zwei Jahren schon hätte aufhören sollen.

Vielleicht sieht man die Sache aber auch deshalb eine Spur zu negativ, weil diese Bremer Saison so furchtbar schlecht ist und der Kontext verrutscht. Denn eigentlich ist Claudio Pizarro auch mit bald 42 Jahren und nur wenig Spielzeit immer noch ein Ereignis in der Bundesliga. Er ist schließlich ein zeitlos überragender Spieler, hat alle möglichen Epochen und Evolutionsstufen des Spiels er- und überlebt. Er hat gefühlt mehr Rekorde gebrochen als der FC Bayern München, seine zweite große Liebe und wohl auch der Ort, an den er in ein paar Wochen zurückkehren wird.

Die Liste seiner Bestmarken füllte locker ein Buch, deshalb hier nur mal ein paar der wichtigsten: Ausländer mit den meisten Bundesligaspielen (490), ältester ausländischer Bundesligaspieler, ältester Torschütze der Bundesliga (40 Jahre und 227 Tage), ältester Spieler und Rekordtorschütze von Werder Bremen (107 Tore), meiste Kalenderjahr in Folge mit mindestens einem Bundesligator (21), ältester Dreier- und Viererpacker der Bundesliga. Dazu sechs Deutsche Meisterschaften und DFB-Pokalsiege, ein Triumph in der Champions League und der Sieg im Weltpokalfinale. Und so weiter und so fort...

Werder-Ex-Geschäftsführer Born entdeckte Pizarro

Das Bezaubernde an Pizarro war aber nie die reine Flut an Erfolgen. Es war sein Spiel und wie er den Fußball als solches begreifen konnte. Egal ob mit 19 oder 41 Jahren. Pizarro umgab stets eine ganz spezielle Aura, sein Spiel war fast schon unverschämt lässig. Als Erstem ist das Jürgen L. Born aufgefallen. Werders ehemaliger Geschäftsführer war im richtigen Leben als Chef der Deutschen Bank zuständig für Paraguay, Uruguay und Brasilien und kannte sich in Südamerika bestens aus. Eine seiner letzten Dienstreisen führte Born in Perus Hauptstadt Lima und weil er eines Abends nichts mehr zu tun hatte und sich an einen jungen Spieler erinnerte, der beim Vorzeigeklub Alianza Lima kickte, krabbelte Born durch ein kleines Loch im Zaun des Trainingsgeländes von Alianzia und schaute sich diesen Pizarro mal genauer an.

Nach ein paar wilden Verhandlungen mit durchaus zwielichtigen Gestalten und sehr viel Schnaps bekam Werder den Zuschlag, das war im Sommer 1999. Zwei Jahre später verkauften die Bremer den Spieler für das Zehnfache der Ablösesumme an den FC Bayern. Jene 16 Millionen D-Mark waren die Anschubfinanzierung für das Bremer Double fünf Jahre später, wie sich Born erinnert. Pizarro hat Werder also sogar noch geholfen, als er das erste Mal weg war. In München hatte er, wenig überraschend, seine sportlich erfolgreichste Zeit und war selbst im Luxuskader der Bayern immer der ganz besondere Spieler.

"Der Typ ist eine Bombe", sagte Giovane Elber, der selbst ja auch ganz gut Fußballspielen konnte. "Claudio ist der beste Fußballer, mit dem ich je zusammengespielt habe", erhöhte Mehmet Scholl die Eloge auf den Peruaner sogar noch. Uli Hoeneß hatte Pizarro nach dessen Wechsel zum Dauerrivalen Bremen noch als "Santa Cruz für Arme" verspottet. Später revidierte er seine Meinung. Der Claudio, der sei "ein Schlawiner", was in der bayerischen Sprache so ziemlich der höchsten Auszeichnung überhaupt gleichkommt. Pizarros Fundus an fußballerischen Fähigkeiten war schier unerschöpflich, es gab tatsächlich keine Disziplin, in der der Angreifer Schwächen offenbart hätte.

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Pizarro hätte noch mehr aus seine Karriere machen können

Pizarro traf immer und überall, mit rechts wie links, mit dem Kopf, mit der Brust, mit der Hacke. Und doch hing ihm immer auch der Ruf des Unvollendeten an. Weil Fußball zwar Pizarros große Liebe ist, aber eben auch nicht alles. Als Berufsspieler hat er auch nie vergessen, gönnerhaft zu sich selbst zu sein. Askese war nicht unbedingt Pizarros Stärke, in München war er fester Bestandteil des Nachtlebens.

Das kostetet auch mal ein paar Euro in die Mannschaftskasse oder gleich an den Klub, wenn er sich mal öffentlich über die Taktik von Ottmar Hitzfeld ausgelassen hatte. Ganz sicher hätte er deutlich mehr aus seiner Karriere herausholen können. Mehr Tore in der Champions League zum Beispiel, in der er Einer und Vielen blieb. Mehr Einsätze für sein Heimatland, wo er sich gleich doppelt mit dem jeweiligen Nationaltrainer überwarf und seinen ganz großen Traum von der WM-Teilnahme mit Peru 2018 begraben musste.

Zu Hause hat er immer seinen Anker gesetzt, weit weg von der Kälte in Deutschland und dem vielen Schnee im Winter. Hier hat er seit Jahren eine erfolgreiche Pferdezucht samt Rennstall am Laufen mit einigen für diese Tiere eher skurrilen Namen. Unter anderem zusammen mit Ex-Mitspieler Thomas Müller besitzt er ein Pferd, das auf den klangvollen Namen "Don Jupp" hört. Außerdem im Stall: "Teamgeist", "Oktoberfest", "El Kaiser", "Müller" und, Achtung: "Merkel". Es ist wohl eher doch kein Zufall, dass ihn seine Frau Karla, beide sind seit über 20 Jahren verheiratet und haben drei Kinder, einen "deutschen Peruaner" nennt.

Anders als viele andere Südamerikaner hat Pizarro schnell die Sprache gelernt und vor allen Dingen auch, diese nur dann auch zu nutzen, wenn es für ihn vorteilhaft war. Lästige Fragen ließ er deshalb fast immer unbeantwortet und beharrte darauf, die Frage gar nicht richtig verstanden zu haben. Dann knipste er sein Pizarro-Lächeln dazu an und zack, war die Sache auch schon ausgestanden. Richtig böse wurde ihm deshalb ja auch nie jemand. Für seinen letzten Zyklus in Bremen führten die Verantwortlichen mehr im Schilde als "nur" einen verdienten und durchaus noch wichtigen Spieler zurückzuholen.

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Pizarro im Kampf gegen zweiten Abstieg seiner Karriere

Florian Kohfeldt war als Baumeister einer neuen Mannschaft, eines neuen Werder, angetreten. Pizarro sollte in diesem Gestaltungsprozess den immer noch sehr jungen Trainer auch unterstützen, sich um die Teamhygiene kümmern, speziell die jungen Angreifer auch anleiten und fördern. Das hat, im Rückblick und mit dem Wissen von heute, nur eine Saison lang funktioniert.

Aber auch das ficht ihn kaum an, so hat es jedenfalls den Anschein. Die Stressbewältigung der Bremer war in dieser Saison nicht immer die beste, Kohfeldt, Manager Frank Baumann, das Gros der Mitspieler: Sie alle sind gezeichnet von der schlechtesten Saison der Klubgeschichte. Pizarro dagegen ist auch jetzt noch der erste und oft genug der einzige, der auf der Bank oder mittlerweile Tribüne hockt und lächelt. Obwohl ihm, dem besten Ausländer in der Geschichte der Bundesliga, jetzt die erste Spielzeit droht, in der er keine einzige Torbeteiligung aufweisen kann.

Nun sind fast alle Loblieder gesungen, die Geschichte beinahe auserzählt. Die Bundesliga wird sich weiter um sich selbst drehen und irgendwie macht das ja auch nur halb so viel Spaß, so ohne Fans und Emotionen, dafür aber mit einem ausgeklügelten Hygienekonzept und sehr viel Sterilität, auch im übertragenen Sinne. Das ist dann doch eher nichts mehr für Claudio Pizarro, sollen das mal ruhig die anderen machen. Es ist jetzt Zeit zu gehen. Aber noch ein Abstieg nach jenem bei seinem Intermezzo in Köln vor zwei Jahren: Das müsste jetzt - bei allem Respekt vor dem 1. FC Heidenheim - dann doch nicht sein.