Das Spiel lief noch, als Jose Mourinho an diesem herrlichen Abend des 22. Mai 2010, der einem sehr heißen Madrider Spätfrühlingstag gefolgt war, seine Coachingzone verließ, zur Bank des Gegners schlenderte, sich zu Louis van Gaal herunterbeugte und dem Trainer des FC Bayern München in dieser zweiten Minute der Nachspielzeit eine Umarmung aufzwängte.
Seit der 70. Minute führte Inter Mailand dieses bis heute letzte Champions-League-Finale zweier Außenseiterteams mit 2:0 an. Soeben hatte Mourinho Doppeltorschütze Diego Milito ausgewechselt und mit Marco Materazzi auch den ersten Italiener mitwirken lassen an Inters erstem Königkslassentriumph seit 45 Jahren und dem ersten Triplegewinn des Klubs überhaupt.
Gewonnen hatte Inter die Partie aber tatsächlich "wahrscheinlich schon, bevor sie angepfiffen wurde", wie Mourinho im Sommer 2019 zu DAZN sagte.
Mourinho soll van Gaal die Meinung gegeigt haben
Der Portugiese, ausgestattet mit ebenso großen Ego und Selbstwertgefühl, hatte es nämlich auch vor diesem Finale wieder einmal geschafft, unterschätzt zu werden. Vom wohl einzigen Trainer des Planeten, dessen Ego und Selbstwertgefühl vielleicht noch ein bisschen größer waren als Mourinhos.
Louis van Gaal hatte vor dem Finale, seinem zweiten nach dem triumphalen 1995 mit Ajax Amsterdam, viel und gerne gesprochen über die Zeit, als ein junger Portugiese erst sein Übersetzer, dann sein Analyst und Co-Trainer gewesen war. Von 1997 bis 2000 hatten sie gemeinsam beim FC Barcelona gearbeitet; der Legende nach hatte van Gaal den damals 34-Jährigen von seinem Vorgänger Bobby Robson übernommen, weil Mourinho ihn beim ersten Treffen gleich mal die Meinung gegeigt hatte. Wie auch immer: Die gegenseitige Sympathie blieb. Vor dem Finale 2010 überhäuften sich diese zwei Alphatiere, die ihre Arroganz aus ihrer Brillanz und nicht wie viele aus Unsicherheit ziehen, mit Freundlichkeiten.
"Er ist ein großer Trainer, das weiß ich genau. Louis war mein Lehrer, mein Chef. Ohne ihn wäre ich nie das gewesen, was ich heute bin", sagte Mourinho etwa. "Er hat mit mir zusammengearbeitet und gelernt, was meine Philosophie ist. Er hat seine eigene Philosophie geformt: Eine Philosophie, die den Gegner kaputt macht. Er trainiert, um zu gewinnen. Ich trainiere, um schönen Fußball zu spielen und auch gewinnen. Mein Weg ist schwieriger", meinte van Gaal immer wieder.
Mourinho hatte Barcelona ohne Stürmer besiegt
Damit war der Sound des Finals gesetzt. "Van Gaal vs Mourinho: Ästhet vs Zerstörer", titelte SPOX damals beispielsweise. Und hatte Mourinho im Halbfinalrückspiel gegen den FC Barcelona seiner Mannschaft nicht die destruktivste Ausrichtung seit Erfindung des Catenaccios verordnet? Aus einer 4-1-3-1-0-Grundordnung heraus hatte Inter nur ein Gegentor zugelassen. Dank des 3:1 im Hinspiel hatten die Mailänder das Finale erreicht - und Mourinho hatte schon so gejubelt, als ob er seinen zweiten Henkelpott nach dem Sensationscoup 2004 mit dem FC Porto gewonnen hätte.
So kam es schließlich. Aber anders als van Gaal gedacht hatte. Inter agierte zwar auch im Finale von Madrid aus einer sicheren Defensive heraus, war aber keinesfalls destruktiv. Der FC Bayern hatte den Ball, Inter Mailand jedoch die Kontrolle über das Spiel. Ganz so, wie Mourinho es geplant hatte. Er machte van Gaal kaputt, indem er seinen Lehrmeister auscoachte.
Diego Milito deckte Schwächen der Bayern-Verteidiger auf
"Ich wusste, dass sein eigenes Ego, sein Selbstwertgefühl, ihn immer dazu veranlasste, nach seinen Ideen zu agieren - und das war für mich ein Vorteil", sagte Mourinho 2019 bei DAZN über van Gaal. Mourinho, der sich immer am Wohlsten fühlte, wenn seine Mannschaften Außenseiterfußball spielen konnten, spiegelte van Gaals 4-2-3-1-Grundordnung: Esteban Cambiasso und Altstar Javier Zanetti störten die Kreise von Bastian Schweinsteiger und Mark van Bommel im defensiven Mittelfeld und gingen vor allem Kapitän van Bommel auf die Nerven. Spielmacher Wesley Sneijder und Rechtsaußen Samuel Eto'o pressten aggressiv im Mittelfeld mit und trugen so ebenfalls dazu bei, dass Bayern kaum Zugriff auf das Mittelfeld bekam.
Da Franck Ribery gesperrt war und für ihn der offensiv weitaus harmlosere Hamit Altintop auf dem linken Flügel spielte, konzentrierten sich Inters Defensivbemühungen vor allem auf Bayerns rechte Seite: Linksverteidiger Christian Chivu und Linksaußen Goran Pandev nahmen, unterstützt von Lucio, erfolgreich Arjen Robben und Philipp Lahm in die Mangel. Stürmer Diego Milito rannte zudem immer wieder die etwas hüftsteifen Bayern-Innenverteidiger Daniel van Buyten und Martin Demichelis an, bei beiden Toren (35., 70.) deckte er schonungslos ihre Schwächen auf.
Vor dem 1:0 gewann Milito nach einem langen Abschlag von Torwart Julio Cesar das Kopfballduell gegen Demichelis, legte auf Sneijder ab, drehte sich blitzschnell um, sprintete Demichelis davon und vollendete den Doppelpass mit einem Schlenzer. Vor dem 2:0 gewann Sneijder einen Zweikampf, über Eto'o landete der Ball schnell bei Milito, der van Buyten mit einer kleinen Körpertäuschung ins Leere laufen ließ. Es war Militos 30. Saisontor, bereits im Pokalfinale und im letzten Ligaspiel in Siena hatte der Argentinier die entscheidenden Treffer erzielt.
Mourinhos Inter zwar Bayern zu Ballverlusten
"Ich wusste ganz genau, dass Bayern nach Ballverlusten ein Team mit einigen Schwächen war. Auf der anderen Seite hatten sie aber auch großartige Offensivspieler, die gestoppt werden mussten. Ich denke, unser großer Vorteil in diesem Spiel war der strategische Aspekt", erklärte Mourinho.
Bayern war in der Saison 2009/2010 zwar schon die Ballbesitz-, aber noch nicht die Dominanzmaschine späterer Jahre. Wenn nicht alles optimal lief, war das Spiel recht leicht auszurechnen. Die Münchner befanden sich ganz am Anfang ihres Transformationsprozesses. Vor van Gaals Ankunft im Sommer 2009 hatten wahrscheinlich selbst einige Bayern-Profis noch nicht allzu oft das Wort "Positionsspiel" gehört.
Im Dezember hatte van Gaal schon vor dem Aus gestanden, ein 4:1 bei Juventus hatte das Weiterkommen in der Champions League und dem Trainer den Job gesichert. Danach waren sie zum Double geflogen, das Champions-League-Finale erreichten sie auch dank recht machbarer K.o.-Rundengegner wie den AC Florenz und Olympique Lyon.
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Mourinho wechselte anschließend zu Real Madrid
Inter dagegen befand sich am Ende des erfolgreichsten Zyklus' der Vereinsgeschichte: fünf Scudetti in Serie (der Titelgewinn in der Saison 2005/2006 erfolgte wegen des Manipulationsskandals in der Serie A als Drittplatzierter am Grünen Tisch) hatten die Nerazzurri gewonnen. Vor Mourinhos zweitem Jahr in Mailand war zwar Zlatan Ibrahimovic zu seinem unglücklichem Abenteuer beim FC Barcelona gewechselt, im Gegenzug war aber Eto'o aus Barcelona gekommen. Und zudem etwa Milito aus Genua und der bei Bayern von van Gaal verschmähte Abwehrchef Lucio. Inter war eine bestens organisierte, erfahrene Mannschaft, die perfekt zu Mourinho Umschaltfetisch passte.
"Es war ein fantastisches Jahr. Für viele meiner Spieler war es die letzte Chance, die Champions League zu gewinnen", sagte Mourinho, der schon während des Spiels wusste, dass er Inter mit dem totalen Triumph verlassen würde. Er flog zwar noch mal nach Mailand, aber nur, um zu feiern.
Anschließend ging es sofort zurück nach Madrid. Unmittelbar nach dem Finale hatte ihn Sat1 -Moderator Johannes B. Kerner gefragt, ob er zu Real Madrid wechseln würde. Mourinho hatte lächelnd genickt. "Das ist ja was. Manchmal bekommt man solche Nachrichten einfach so serviert", so Kerners verdatterte Reaktion.