Boyd spricht über Jürgen Klopp, seinem ehemaligen US-Nationaltrainer Jürgen Klinsmann und gibt außerdem emotionale Einblicke zu seinen Erlebnissen im Zuge des antisemitisch motivierten Anschlags von Halle im Oktober: Zum Zeitpunkt der Tat saß Boyd in einem Cafe in der gleichen Straße.

Herr Boyd, Sie spielen seit vergangenem Sommer in Halle. Im Oktober ist es dort zu einem antisemitisch motivierten Anschlag mit zwei Toten gekommen. Wie haben Sie den Tag in Erinnerung?

Terrence Boyd: Ich saß zu dem Zeitpunkt des Anschlags in einem Cafe in der gleichen Straße, in der der Attentäter eine Person in einem Dönerladen erschossen hat. Das war völlig surreal: 100 Meter von mir entfernt wurde einer abgeknallt! Der Chef des Cafes war gerade auf der Straße, kam hereingerannt und schrie, dass wir alle sofort von den Fenstern weggehen sollen, weil draußen ein Killer herumrennt. Im ersten Moment habe ich gelacht, weil ich es nicht glauben wollte. Erst als ich Push-Meldungen auf mein Handy bekam und auf der Straße immer mehr Polizei auftauchte, begriff ich, dass das wirklich passiert.

Wie ging es weiter?

Boyd: Zufälligerweise waren zwei Polizisten in Zivil in dem Cafe. Die haben sofort Kontakt mit dem Revier aufgenommen und allen anderen Gästen die neuesten Nachrichten durchgegeben. Irgendwann hieß es, dass wir gehen dürfen. Da ich Training hatte, bin ich zum Vereinsgelände gefahren. Beim Autofahren habe ich mich die ganze Zeit geduckt, weil ich so einen Verfolgungswahn hatte.

Terrence Boyd: "Es gibt Idioten, die im echten Leben GTA spielen wollen"

Wie war die Stimmung in der Mannschaft?

Boyd: Sehr angespannt. Training fand dann doch keines statt, stattdessen haben wir gemeinsam Nachrichten geschaut. Über dem Vereinsgelände kreiste währenddessen ein Helikopter. Deshalb dachten wir, dass der Killer in der Nähe sein muss. Irgendwann flog der Helikopter aber wieder weg und die Lage entspannte sich. Dann sind wir alle heimgefahren.

Was haben diese Erlebnisse bei Ihnen ausgelöst?

Boyd: Seitdem weiß ich, dass es einen immer und überall erwischen kann. Wenn ich Döner essen will - was ich als Profisportler natürlich nicht darf, aber falls ich es dürfte -, könnte jemand kommen und mich willkürlich erschießen. Es gibt Idioten, die unzufrieden mit allem sind und als Reaktion darauf im echten Leben GTA spielen wollen. Das kann weder die Polizei noch sonst jemand verhindern.

Der Anschlag von Halle war antisemitisch motiviert. Wurden Sie im Laufe Ihrer Karriere mit Rassismus konfrontiert?

Boyd: In der Regionalliga bekam ich oft Sprüche zu hören, aber im Profifußball habe ich das bisher noch nicht erlebt. Das würde ich mir auch nicht bieten lassen, sondern sofort den Platz verlassen. Gegenspieler und gegnerische Fans sollen mich wie jeden anderen auch ganz normal als "Arschloch" beleidigen und nicht wegen meiner Hautfarbe.

Wie ließe sich Rassismus in Fußballstadien Ihrer Meinung nach am besten bekämpfen?

Boyd: Ich bin für Punktabzüge gegen die Klubs. Wenn diese Fans sehen, dass ihr Lieblingsklub wegen ihrer Dummheit auf einmal statt um den Titel gegen den Abstieg spielt, ändern sie ihr Verhalten vielleicht. Geldstrafen bringen nichts.

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Terrence Boyd: "Gündogan und Großkreutz waren seit einer Woche on fire"

Blicken wir auf Ihre Karriere: Mit 20 Jahren wechselten Sie von Hertha BSC II zu Borussia Dortmund II. Sie stiegen mit der Reserve in die 3. Liga auf, die Profis gewannen in der gleichen Saison das Double. Wurde gemeinsam gefeiert?

Boyd: Eine Woche nachdem die Profis den Meistertitel fixiert hatten, machten wir den Aufstieg klar. Am Abend waren wir von der Reserve alle gemeinsam in Dortmund in einer Bar feiern. Auf einmal kamen Ilkay Gündogan und Kevin Großkreutz herein und haben mitgefeiert. Die waren schon seit einer Woche on fire und hatten immer noch Bock. Das war extrem geil. Beim DFB-Pokalfinale in Berlin und bei der Party danach waren wir von der Reserve alle dabei.

Wie haben Sie Trainer Jürgen Klopp erlebt?

Boyd: Er tritt gegenüber der Mannschaft genauso auf wie im Fernsehen. Er verstellt sich nie. Ich durfte einige Male bei den Profis mittrainieren und stand bei einem 5:0-Sieg gegen den 1. FC Köln im Kader, weil Lucas Barrios krank war. Als ich am Tag davor zum Abschlusstraining kam, nahm mich Klopp sofort zur Seite und sagte nur: "Bitte, bitte pass' auf, dass du mir keinen kaputt trittst." Er kannte meine Spielweise also bestens.

Die Karrierestationen von Terrence Boyd

Zeitraum Verein Pflichtspiele Tore Assists 2009 bis 2011 Hertha BSC II 44 15 6 2011 bis 2012 Borussia Dortmund II 32 20 5 2012 bis 2014 SK Rapid Wien 80 37 11 2014 bis 01/2017 RB Leipzig 8 3 - 01/2017 bis 02/2019 SV Darmstadt 98 44 5 2 02/2019 bis 07/2019 FC Toronto 13 - - seit 07/2019 Hallescher FC 25 10 7

Bereits nach einer Saison verließen Sie Dortmund wieder. Warum?

Boyd: Ich hätte bei den Profis mittrainieren dürfen, sah aber null Einsatzchancen. Barrios verließ den Klub zwar, doch es gab immer noch Robert Lewandowski, der einerseits weltklasse und andererseits nie verletzt ist. Außerdem kam in jenem Sommer Julian Schieber. Im Nachhinein betrachtet setzte er sich beim BVB nicht durch, aber damals gab es große Erwartungen an ihn.

Dann kam das Angebot des SK Rapid Wien.

Boyd: Das anzunehmen, war eine super Entscheidung. Rapid ist ein Hammerklub und Wien eine tolle Stadt. Ich konnte mich mit Rapid direkt identifizieren und kann behaupten, seitdem kein einziges Kleidungsstück gekauft zu haben, auf dem die Austria-Farbe violett zu sehen ist.

Was ist Ihnen von der Zeit in Wien abseits des Platzes in Erinnerung geblieben?

Boyd: Da fallen mir sofort zwei Treffen mit Polizisten ein. Einmal habe ich bei der Parkplatzsuche auf einer mehrspurigen Straße gewendet, woraufhin ich angehalten wurde. Als mich der Polizist sah, sagte er: "Fußballspielen können Sie nicht. Autofahren können Sie nicht. Was können Sie eigentlich?" Wie sich herausstellte, war er Rapid-Fan und ziemlich angepisst, weil wir am Tag zuvor das Derby gegen die Austria verloren hatten.

Und die andere Geschichte?

Boyd: Am Anfang meiner Zeit bei Rapid war ich mit einigen Kollegen nach einem Spiel ordentlich feiern und kam gegen fünf Uhr morgens angeschlagen nach Hause. Als ich vor der Tür stand, bemerkte ich, dass mein Schlüssel weg war. Ich musste ihn im Taxi verloren haben. Zum Glück fuhr gerade ein Polizeiauto vorbei. Ich habe es angehalten und den Beamten mein Problem erklärt. Die waren Rapid-Fans, haben zack-zack-zack herumtelefoniert und nach ein paar Minuten war das Taxi mit meinem Schlüssel zurück.

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Boyd bei RB Leipzig: "Sind gefühlt jede Woche im Club gelandet"

Gehört es als Profi dazu, dass man mit seinen Mitspielern auch mal was Trinken geht?

Boyd: Wenn es Grund zum Feiern gibt, sollte eben gefeiert werden. In der Aufstiegs- und in der ersten Bundesligasaison mit RB Leipzig haben wir eigentlich nur gewonnen und sind deshalb gefühlt jede Woche spontan im Club gelandet. Da waren immer alle dabei, von den Spielern bis zum Greenkeeper. Im Club L1 hatten wir sogar unseren eigenen abgesperrten Bereich. Mittlerweile habe ich aber eine Frau und Kinder und langsam genug vom wilden Feiern. Manchmal kommen Mitspieler mit ihren Frauen zu mir und wir trinken ein bisschen was und spielen Karten. In Clubs gehe ich kaum noch.

Nach zwei Jahren bei Rapid wechselten Sie 2014 zu RB Leipzig. War das ein Fußball-Kulturschock?

Boyd: Die Emotionalität der Fans ist sehr verschieden. Bis das in Leipzig so ist wie bei Rapid, dauert es vielleicht noch Jahrzehnte. Ich habe gerne für Traditionsklubs wie Dortmund oder Rapid gespielt, habe aber auch kein Problem mit professionellen Vereinen wie Leipzig. RB oder auch die TSG Hoffenheim beleben die Bundesliga mit ihrer guten Arbeit.

Wegen eines Kreuzbandrisses und Folgeverletzungen absolvierten Sie in zweieinhalb Jahren lediglich acht Pflichtspiele für Leipzig, eineinhalb Jahre fehlten Sie komplett. Wie ging es Ihnen damals?

Boyd: Ich hatte viele dunkle Momente. Das schlimmste war die permanente Ungewissheit. Vor der letzten Operation habe ich recht konkret überlegt, meine Karriere zu beenden. Als ich das meiner Mutter erzählte, hat sie mich gefragt: "Was machst du dann?" Und ich habe ihr geantwortet: "Keine Ahnung." Zu dieser Zeit war gerade meine erste Tochter auf dem Weg und ich wusste nicht, wie ich nach einem Karriereende meine Familie ernähren soll. Das waren Existenzängste. Aber es gibt keine andere Möglichkeit, als weiterzukämpfen. All diese Erfahrungen haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin.

Hat sich der Klub damals entsprechend um Sie gekümmert?

Boyd: Ja und dafür bin ich bis heute dankbar. Ralf Rangnick ist persönlich zu mir gekommen und hat angeboten, dass ich bei einem möglichen Karriereende einen Job im Klub bekomme. Das fand ich beachtlich. Es standen auch Mentaltrainer zur Verfügung, aber die habe ich nicht in Anspruch genommen. Ich wollte das mit mir selbst ausmachen.

Terrence Boyd: "Die Berater labern mir alle zu viel"

Zu dieser Zeit begannen Sie ein Fernstudium der Medien- und Kommunikationswissenschaften. Haben Sie den Abschluss gemacht?

Boyd: Nein. Als ich wieder spielen konnte, hatte ich keinen Bock mehr auf die Hausarbeiten.

Können Sie sich vorstellen, nach dem Karriereende in der Medienbranche zu arbeiten?

Boyd: Damals hat mich das interessiert, aber mittlerweile weiß ich, dass ich im Fußball bleiben will. Es würde mich reizen, als Trainer mit jungen Spielern zusammenzuarbeiten. Der Beraterjob wäre dagegen nichts für mich. Die Berater labern mir alle zu viel. Darauf komme ich mit meiner direkten Art nicht klar. Außerdem geht es nur um Zahlen - und in Mathe war ich keine "Leuchte".

Nach Ihrer Zeit in Leipzig spielten Sie erst beim SV Darmstadt 98 und dann ein halbes Jahr beim FC Toronto in der nordamerikanischen MLS.

Boyd: Als Deutsch-Amerikaner war es mein großes Ziel, einmal in der MLS zu spielen. Ich habe mich auf ein Abenteuer für die ganze Familie gefreut, aber leider ist meine Frau kurz vor meinem Wechsel zum zweiten Mal schwanger geworden und die Ärzte meinten, dass sie besser nicht fliegen soll. Dann war ich von Februar bis Juli allein in Kanada. Ich habe meine Familie sehr vermisst, das hat mich kaputt gemacht. Da hat auch Facetime nicht geholfen.

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Boyd vergleicht Klinsmann-Tagebuch mit Nazi-Vorwürfen gegen Xavier Naidoo

Haben Sie auch schöne Erinnerungen an Ihre Zeit in der MLS?

Boyd: Natürlich war es toll, das Land meiner Vorfahren zu erkunden. Oft sind wir schon einige Tage vor einem Auswärtsspiel in die entsprechende Stadt geflogen und hatten Zeit, sie uns in Ruhe anzuschauen. Einmal waren wir fünf Tage in Los Angeles und bekamen noch dazu täglich 85 Dollar Taschengeld. Das war wie ein Kurzsrcaub. Geil war auch das Essen nach den Spielen: In Deutschland gibt es immer nur gesunde Nudeln, dort wurden Burger, Pizza und Chicken Wings ins Hotel geliefert.

Allzu leistungsfördernd ist das wohl nicht. Gibt es weitere Gründe, warum die MLS noch immer den europäischen Top-Ligen hinterherhinkt?

Boyd: Die Liga hat viel Potenzial, steht sich mit ihren Strukturen aber selbst im Weg: Das Draft- und Trade-System sowie das Fehlen von Auf- und Abstieg sind große Entwicklungsbarrieren. Außerdem ist die Jugendförderung in den Colleges deutlich schlechter als bei den Klubs in Europa. Die sportlich talentiertesten Kinder entscheiden sich dort aber ohnehin nicht für den Fußball, sondern für die wichtigen US-Sportarten.

Zwischen 2012 und 2016 spielten Sie für die US-amerikanische Nationalmannschaft, Trainer war damals Jürgen Klinsmann. Wie haben Sie ihn erlebt?

Boyd: Klinsmann ist Rangnick sehr ähnlich. Beide sind innovative und akribische Perfektionisten. Ihr Ziel ist es, mit einem perfekten Umfeld für Bestleistungen auf dem Platz zu sorgen. Menschlich war Klinsmann absolut top. Obwohl er mich kurz vor der WM 2014 aus dem Kader gestrichen hat, konnte ich ihm nicht böse sein. Wir stehen bis heute in Kontakt. Nach dem Anschlag in Halle hat er mir beispielsweise direkt geschrieben und mich gefragt, wie es mir geht.

Was sagen Sie zu seiner unrühmlichen Zeit bei Hertha BSC und seinem jetzt schon legendären Tagebuch?

Boyd: Mit dem Klinsmann-Tagebuch ist es wie mit den Nazi-Vorwürfen gegen Xavier Naidoo: Es scheint zu stimmen, aber ich kann es trotzdem nicht glauben.