"Die Dortmunder sind genauso im Nebel wie wir", hatte sich Trainer David Wagner im Vorfeld des 95. Bundesliga-Revierderbys noch vergleichsweise angriffslustig gezeigt. Nach der 0:4-Abreibung am Samstagnachmittag ist klar: Der BVB hatte trotz Coronakrise und Geisterspiel offensichtlich den Durchblick - und bei Königsblau ließe sich aus dem Nebel-Zitat eine vortreffliche Titanic-Analogie spinnen. Untergegangen ist der Traditionsklub mit über 150.000 Mitgliedern noch nicht, aber der Eisberg ist längst gerammt und die Decks laufen mit zunehmender Geschwindigkeit voll.

Da wäre zunächst einmal die sportliche Krise. Es lassen sich zwar viele gute Gründe dafür ins Feld führen, warum die höchste Derby-Niederlage seit 1966 als Standortbestimmung nicht taugt - die lange Pause, das rudimentäre Mannschaftstraining der letzten Tage und Wochen, das Auswärts-Geisterspiel -, Tatsache ist jedoch, dass sich der Trend der Wochen vor der Bundesliga-Zwangspause nahtlos fortsetzte.

Nach 15 ordentlichen ersten Minuten waren die Schalker mit dem schnellen Umschaltspiel der Dortmunder überfordert, brachten selbst nach vorn fast gar nichts zustande und ergaben sich spätestens in Halbzeit zwei in ihr Schicksal. Es war das achte Spiel in Folge ohne Sieg (sieben Ligaspiele, einmal Pokal), dabei stehen zwei eigene Treffer und 19 Gegentore zu Buche. Auswärts steht man bei mittlerweile fünf Partien ohne eigenen Treffer.

Oder, um es anders zu formulieren: Nach dem Rückrundenauftakt stand Schalke 04 punktgleich mit Dortmund auf Platz fünf, nur drei Punkte hinter den Bayern. Mittlerweile ist man auf Rang acht abgerutscht, sogar der SC Freiburg zog am Samstag vorbei.

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Schalkes sportliche Krise: Probleme in allen Mannschaftsteilen

Die Fehlerkette im Team zieht sich dabei von ganz hinten bis ganz vorn durch. Im Sturm vertraut Wagner wahlweise auf den flinken Benito Raman oder Brecher Guido Burgstaller - doch Tore schießen, das tun beide nicht. Dahinter sind die kreativen Momente auf ein Minimum verkümmert, Durchstarter Amine Harit ist mittlerweile in der tristen Realität angekommen: Die Gegner haben sich auf den 22-Jährigen eingestellt, seine letzte Torbeteiligung datiert vom Dezember (die Vorlage beim 1:0 gegen Frankfurt). Arbeiter statt Künstler, das ist beim Kohle-Klub eigentlich kein Problem, ganz im Gegenteil. Doch so ganz ohne Geistesblitze geht es eben auch nicht.

Wer keine Gegentore bekommt, der kann auch nicht verlieren - mit diesem Motto schaffte es Domenico Tedesco vor gar nicht allzu langer Zeit auf Platz zwei. Aber dafür steht die Dreier- bzw. Fünferkette nicht sicher genug. Gegen den BVB kehrte Salif Sane nach langer Zwangspause ins Team zurück und zeigte, wie wichtig er sein kann - aber er zeigte auch seinen Nachholbedarf, als ihm Erling Haaland beim 0:1 enteilte.

Und dann wäre da noch die Torhüterposition. Dieses Fass wollte Wagner nach dem Spiel und den mehrfachen Patzern von Markus Schubert am Samstag zwar nicht aufmachen, doch dafür müsste es in den letzten gut fünfeinhalb Monaten erst einmal geschlossen worden sein. Gut möglich, dass die Rufe nach dem Ausgestoßenen Alexander Nübel wieder lauter werden. Dem würden die fehlenden Schalke-Fans hinter dem eigenen Tor wohl nicht so sehr fehlen wie manch anderem.

Kein Aufbäumen gegen Dortmund: Hat Schalke 04 ein Mentalitätsproblem?

Was die Verantwortlichen im Signal Iduna Park aber noch mehr schockierte als die spielerische Magerkost, war die mangelnde Einstellung in der Mannschaft, die deutlich zu sehen war. "Die haben nicht so frei aufgespielt wie normal. Das ist das Derby, da muss man kämpfen! Das hat gefehlt", sagte Aufsichtsratsboss Clemens Tönnies. Stattdessen habe er "beeindruckte" Spieler gesehen.

Erklären konnte sich das auch Trainer Wagner nicht. Körperliche Gründe habe er nicht ausmachen können, betonte er. Aber: "Wir hatten kein Gefühl dafür, wo wir stehen. Im Defensivverhalten war das nicht gut und deshalb haben wir das Spiel verdient verloren."

Tönnies nahm deshalb auch seinen Trainer in die Pflicht und erhöhte den Druck: "Jetzt ist er gefragt und die Truppe. Die sollen das nächste Mal zeigen, dass sie es wiedergutmachen. Fertig. Ende."

Die nächsten fünf Spiele von Schalke 04

Gegner Datum FC Augsburg (H) 24.05.2020 Fortuna Düsseldorf (A) 27.05.2020 Werder Bremen (H) 30.05.2020 Union Berlin (A) 06.06.2020 Bayer Leverkusen (H) 13.06.2020

Schalkes finanzielle Krise: Immer höhere Schulden dank Corona

Was keiner der Beteiligten an diesem Tag ansprach: Dass so ziemlich jeder Spieler in Königsblau gegen den BVB so wirkte, als schleppe er einen schweren Rucksack mit sich herum, könnte auch daran liegen, dass der gesamte Verein einen Rucksack mit sich herumträgt. Dieser ist 198 Millionen Euro schwer - auf diese Summe belaufen sich die Verbindlichkeiten des Vereins - und wird in Zeiten der Corona-Krise von Tag zu Tag schwerer.

Die sportliche Talfahrt sieht im Vergleich zur finanziellen Misere des Klubs dieser Tage nämlich fast harmlos aus. Obwohl Schalke in Sachen Umsatz zu den 20 größten Klubs in Europa gehört, drohte aufgrund der Corona-Zwangspause die Insolvenz.

Woche für Woche gab es aus Gelsenkirchen nur Hiobsbotschaften zu hören: "Existenzbedrohend" sei die Lage, sagte Vostand Alexander Jobst, "finanziell prekär" nannte sie Tönnies. Sportvorstand Jochen Schneider sprach von "gewissen Vorerkrankungen", aufgrund derer die Krise Königsblau "einen Tick härter als alle anderen Klubs" treffe. Von Krediten war da zu lesen, verpfändeten TV-Geldern, Steuerstundungen und vielem mehr. Die Spieler verzichten auf Gehalt und Prämien, auch die Fans flehte man an, sie mögen auf das Geld für die bereits bezahlten Tickets verzichten.

198 Millionen Euro Schulden: Schalke 04 hat viele Fehler gemacht

Die Gründe für den Schuldenberg sind vielschichtig. Eine verfehlte Transferpolitik wäre zu nennen, mit teuren Flops und ablösefrei abwandernden Topspielern, dazu ein kostspieliger Kader und die zahlreichen Wechsel auf dem Trainerstuhl und in der Chefetage. Trotz der Verbindlichkeiten lebt Schalke auf vergleichsweise großem Fuß - und wenn man, wie im vergangenen Jahr, das europäische Geschäft verpasst, schmerzen die fehlenden finanziellen Rücklagen gleich doppelt. In der letzten Bilanz wies der Klub einen Verlust von über 26 Millionen Euro aus, diesmal könnte es noch schlimmer kommen. Die Schulden, sie türmen sich immer höher.

Nun ist durch den Bundesliga-Neustart und die gezahlte letzte TV-Rate der Saison das Schlimmste erst einmal abgewendet. Doch, um beim Titanic-Vergleich zu bleiben: Dass das größte Leck gestopft ist, heißt nicht, dass die Decks nicht weiterhin unter Wasser stehen.

Schließlich steht die verbleibende Bundesliga-Saison trotz erfolgreichen ersten Wochenendes auf wackligen Füßen, und sie wird auf diesen stehen, bis der 34. Spieltag absolviert ist. Zu viel kann noch immer schiefgehen, mit potenziell katastrophalen Folgen. Auch wenn die Spieler es nach der BVB-Pleite nicht als Ausrede gelten lassen würden: "Wenn ich mich mit Corona infiziere, könnte das am Ende sogar den Ruin meines Vereins bedeuten" - diesen Gedanken muss man erst einmal aus dem Kopf bekommen.

Und so legte Tönnies nach dem Spiel bei Sky erstmals sogar die Hände an die Heilige Kuh der Fans: den eingetragenen Verein.

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Tönnies bringt Ausgliederung der Schalke-Profis ins Spiel - ein Plan mit Risiko

Als einer von wenigen verbleibenden Klubs hat Schalke seine Profi-Abteilung noch nicht ausgegliedert, worauf man sich beim Anhang und den Verantwortlichen stets stolz zeigte. In Corona-Zeiten, das haben die letzten Wochen gezeigt, ist kein Platz mehr für Romantik. "Wir diskutieren seit Jahren, ob wir einen traditionellen Fußballverein halten können", erklärte Tönnies. Parallel zu den nächsten Spielen werde man Konzepte erarbeiten: "Dann schauen wir mal."

Für Schalke könnte die Ausgliederung der letzte verbleibende Rettungsanker sein. So bestünde die Möglichkeit, Investoren anzulocken, Eigenkapital auf- und Schulden abzubauen. "So wie wir aufgestellt sind, können wir dauerhaft nicht mithalten", meint auch Rekordtorschütze Klaus Fischer. Doch vielen Fans sind fremde Investoren ein Dorn im Auge - und sie müssten auf einer Mitgliederversammlung mit einer Dreiviertelmehrheit für Tönnies' Vorschlag stimmen.

Ein offensives Anstreben der Ausgliederung hätte das Potenzial, die Fangemeinde zu spalten und die leidenschaftlichsten Anhänger gegen den Klub - und damit auch gegen die Mannschaft - aufzubringen. Dass Tönnies das Thema inmitten der sportlichen Krise auf die Agenda setzt, zeigt, dass dem Klub das Wasser bis zum Hals steht.

So oder so werden auf Schalke andere Zeiten anbrechen: keine teuren Transfers mehr, ein abgespeckter Kader, noch mehr Fokus auf die Talente aus der Knappenschmiede. Viele Fans könnten sich mit einer solchen Zukunft sicherlich anfreunden, auch wenn die ganz großen sportlichen Ziele erst mittel- oder langfristig wieder in Reichweite kommen.

Zunächst gilt es jedoch, die aktuelle Krise irgendwie zu überstehen. Denn wenn der Ofen erst einmal aus ist, lassen sich auch keine kleineren Brötchen mehr backen.