5,5 Sekunden stehen auf der Uhr. John Starks bekommt den Ball von der Seitenlinie zugespielt. Schnell dreht er sich um und füttert Patrick Ewing, der sich umdreht und den Ball per Hakenwurf eiskalt versenkt. Phil Jackson nimmt seine letzte Auszeit. Das Scoreboard zeigt 102:102 an. Die Bulls kämpfen in der zweiten Runde der 1994er Playoffs gegen die dritte Niederlage in Folge an. Das Momentum liegt ganz klar bei den Knicks, die mit Ewings Wurf einen 22-Punkte-Rückstand pulverisiert haben.
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Fünf Bulls-Spieler betreten nach der Auszeit das Parkett - einer, der für die Bulls in solchen Situationen nicht wegzudenken ist, bleibt jedoch auf der Bank. Scottie Pippen, der nach Michael Jordans erstem Rücktritt 1993 zum MVP-Kandidaten avancierte, schaut nun seinen Mitspielern sichtlich genervt von außen zu. Jackson hat seinen Stolz verletzt, weil er den nun folgenden Spielzug nicht für ihn ansagte. Sondern für Toni Kukoc - ausgerechnet.
Nichtsdestotrotz: Zeit zum Schmollen bleibt den anderen Bulls nicht. Mit 1,8 Sekunden auf der Uhr bekommt Kukoc von Pete Myers an der Freiwurflinie den Ball. Der Rookie dreht sich um 180 Grad und verwandelt einen langen Zweier über Anthony Mason. Game over! Die Bulls können durchatmen und wie schon (mehrfach) in der Regular Season ist es der Kroate, der Chicago rettet.
Pippen wiederum kocht vor sich hin, entschuldigt sich nach dem Spiel beim Team - er weiß, dass ihm diese Entscheidung, dieser Fehltritt vermutlich für immer anhängen wird. Er hat sein Team im Stich gelassen. Völlig unverständlich ist sein Aussetzer aufgrund der Vorgeschichte allerdings nicht.
Toni Kukoc: Feindbild von MJ und Pippen
Der Ursprung der Differenzen zwischen den beiden lag bereits mehrere Jahre zurück. Kukoc dominierte in den späten 80er Jahren den europäischen Basketball, gewann sowohl individuelle als auch Mannschaftstropähen. Es dauerte deshalb nicht lange, bis die Bulls und insbesondere General Manager Jerry Krause auf ihn aufmerksam wurden.
Im Draft 1990 wurde der Kroate an 29. Stelle in Runde zwei von den Bulls gewählt, Kukoc entschied sich jedoch vorerst für einen Verbleib in Europa. Doch Krause gab nicht auf, er wollte ihn so schnell wie möglich in die Staaten holen und machte den Forward zu seiner Priorität Nr. 1. So sehr, dass sein Star-Spieler Pippen komplett vernachlässigt wurde.
Der GM schwärmte öffentlich von Kukoc und sparte Geld, um ihm bei seiner Ankunft einen attraktiven Vertrag bieten zu können. Pippen wiederum war chronisch unterbezahlt. Der Kroate, der nominell auch noch exakt die gleiche Position spielte wie er, wurde somit unwissentlich zum Feindbild für Pippen und auch dessen Mitspieler Michael Jordan, der Krause ohnehin verachtete. Diese Spannung entlud sich bei den Olympischen Spielen 1992.
Karl Malone: "Kukoc hatte keine Ahnung"
Vor dem Gruppenspiel zwischen den USA und Kroatien erklärten die beiden Bulls-Stars Kukoc zur Chefsache. "Hast du jemals einen Löwen, einen Leoparden oder einen Geparden gesehen, der sich auf seine Beute stürzt? Wir mussten Michael und Scottie aus dem Umkleideraum holen ", sagte Mitspieler Karl Malone, "weil sie verdammt nah dran waren, Strohhalme zu ziehen, um zu sehen, wer ihn bewacht. Kukoc hatte keine Ahnung."
Und er sah kein Land. Abwechselnd verteidigten sie ihn bei jedem Spielzug - mit Erfolg. Kukoc erzielte seine ersten 2 Punkte erst am Ende der ersten Halbzeit, bei Spielende hatte er 4 Punkte (2/11 FG) und sieben Ballverluste im Boxscore stehen. "Ich habe vorher noch nie so eine Defense gesehen", staunte er nach dem Spiel. MJ stellte in diesem Spiel seinen eigenen Rekord in Steals (8) ein. Pippen hatte fünf.
"Krause rekrutierte diesen Kerl und sprach darüber, wie gut er sei. Das ist, als würde ein Vater, der Kinder hat, ein anderes Kind sehen und es mehr lieben als seine eigenen. Also spielten wir nicht gegen Toni Kukoc, sondern gegen Jerry Krause im Kroatien-Trikot", begründete Jordan in der NBA TV -Dokumentation "The Dream Team" die gnadenlose Defense gegen Kukoc. Kukoc konnte nichts dafür, doch später sollte er von dieser Erfahrung sogar profitieren.
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Toni Kukoc: Anfänge in Split
Geboren und aufgewachsen an der dalmatinischen Küste in Split im damaligen Jugoslawien interessierte sich Kukoc bereits in jungen Jahren für viele Sportarten. Als 14-Jähriger war er sogar Tischtennis-Meister seiner Altersklasse. Eines Tages jedoch entdeckte ein Basketball-Trainer am Strand den schlaksigen Teenager mit den langen Beinen und fragte diesen, ob er koordiniert sei. Nach dieser Begegnung begann er seine Basketballkarriere in seiner Heimatstadt bei Jugoplastika Split (heute KK Split). Kukocs Liebe zum Basketball wuchs, sodass er als 15-Jähriger begann den Unterricht zu schwänzen, um den ganzen Tag trainieren zu können.
"Meine Mutter war schockiert, als die Schule einen Brief schickte, dass ich verwiesen werde, weil ich 200 Tage fehlte. Also ging sie zum Klub und sagte, dass ich eine Verletzung davon entfernt sei, nie wieder Basketball zu spielen, und sie mussten eine Art Deal mit der Schule vereinbaren", erinnerte sich Kukoc zurück. Trotzdem sollte er durchfallen, sagte ihm sein Lehrer, doch Kukoc war es egal.
Jugoslawien: Dominanz in Europa
Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre bildeten die Jugoslawen mit Spielern wie Toni Kukoc, Drazen Petrovic, Vlade Divac, Dino Radja ihre wohl talentierteste Generation der Landesgeschichte. Auch auf Vereinsebene wurde der FIBA Europapokal der Landesmeister von jugoslawischen Klubs dominiert.
Kukoc etablierte sich bereits früh in seiner Karriere als Star. Mit der jugoslawischen U-19-Mannschaft gewann er 1987 die Weltmeisterschaft in Bormio und wurde zum MVP des Turniers gewählt, traf gegen Team USA unglaubliche 11 von 12 Dreier für insgesamt 37 Punkte. Im darauffolgenden Jahr war er bereits ein wichtiger Bestandteil der A-Nationalmannschaft beim Olympia-Silber in Seoul. Im selben Jahr endete das Turnier für die Amerikaner nur auf Platz drei.
Bei der WM 1990 reichte es für Kukoc und Co. dann endlich für die Goldmedaille. Im Finale traf man auf die Sowjetunion, zuvor hatte WM-MVP Kukoc im Halbfinale sein Team zum Sieg gegen eine amerikanische Truppe voll mit künftigen NBA-Spielern wie unter anderem Alonzo Mourning, Kenny Anderson oder Christian Laettner geführt.
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Die Europapokalsieger aus Jugoslawien im Überblick
Saison Europapokalsieger Gegner Resultat MVP 1985 Cibona Zagreb Real Madrid 87-78 Drazen Petrovic 1986 Cibona Zagreb Zalgiris Kaunas 84-82 Arvydas Sabonis 1987 Tracer Milan Maccabi Tel Aviv 71-69 Lee Johnson 1988 Philips Milan Maccabi Tel Aviv 90-84 Bob McAdoo 1989 Jugoplastika Split Maccabi Tel Aviv 75-69 Dino Radja 1990 Jugoplastika Split FC Barcelona 72-67 Toni Kukoc 1991 Pop 84 Split FC Barcelona 70-65 Toni Kukoc 1992 KK Partizan Belgrad Joventut de Badalona 71-70 Predrag Danilovic
Jugoslawien: Das Ende einer Ära
Eine Chance, auch dem Dream Team von 1992 Paroli zu bieten, gab es für Kukoc und Jugoslawien nicht, weil das Konglomerat diverser Kleinstaaten in einem erbitterten Bürgerkrieg versank, allerdings führten Kukoc und Petrovic die Kroaten dennoch zu Olympia-Silber und im Finale gegen die USA konnte sich Kukoc individuell rehabilitieren. Ein Jahr später folgte er dann Petrovic und Co. und wechselte tatsächlich zu den Bulls.
"Ich dachte immer über die NBA nach. Wir besiegten amerikanische und russische Nationalmannschaften", erklärte Kukoc später, warum er mit dem Schritt so lange wartete. "Wir wurden alle von NBA-Teams gedraftet. Das Problem war, dass viele Spieler keine Chancen bekamen. Die Jungs hatten Angst. Würde ich zu einem Chicago-Bulls-Team gehen, eine Meisterschaft gewinnen, aber auf der Bank sitzen und den größten Teil meiner Karriere nicht spielen?"
Vorurteile hätten damals trotz aller Erfolge immer noch eine große Rolle gespielt. "Wir waren uns sicher, wir können in der NBA spielen, aber selbst als wir hierher kamen, sagten die Leute nur: 'Die sind alle soft, spielen keine Defense und können nicht rebounden'", blickte Kukoc zurück.
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Toni Kukoc verdiente sich den Respekt der Bulls
Als "The Croation Sensation" 1993 schließlich bei den Bulls aufschlug, hatte sich deren Situation dramatisch verändert: Jordan hatte sich dem Baseball gewidmet, Pippen sollte das Ruder übernehmen. Keine ganz einfache Situation, denn in den Augen des neuen Franchise Players war Kukoc immer noch "Jerry's Guy".
"Die Sache mit Krause erschwerte ihm den Anfang", sagte Jud Buechler, Bulls-Spieler zwischen 1994 und 1998. Als Rookie musste er die Koffer seiner Mitspieler tragen und ihnen Essen mitbringen, obwohl er mit 24 beileibe kein klassischer Rookie mehr war. "Ich wusste, ich muss mir meinen Respekt verdienen. Ich kam in die beste Mannschaft der Welt. Da musst du all deine Auszeichnungen und deinen Stolz bei Seite legen. Ich war OK damit", blickte Kukoc zurück.
Auch die Kritik vor allem an seiner Defense (Pippen: "Du kannst keinen Stuhl verteidigen") steckte die "Spinne von Split" weg und verdiente sich zunehmend die Anerkennung seiner Teamkollegen, denn offensiv fand er sich von Beginn an in der Liga zurecht; ein schwierigeres Matchup als Pippen UND MJ gab es in der Liga schließlich nicht.
Toni Kukoc: Die perfekte dritte Geige
In seiner zweiten Saison steigerte Kukoc seinen Punkteschnitt auf 15,7. Als schließlich 1995 Jordan sein Comeback feierte, punktete Kukoc zwar weniger, hatte jedoch trotzdem einen großen Anteil an den kommenden Erfolgen. 1995/96 wurde er zum Sixth Man of the Year, als Chicago 72 Siege holte, drei Jahre in Folge war er nach Jordan und Pippen der drittbeste Scorer beim Threepeat.
Als die Dynastie 1998 dann auseinander fiel, durfte sich auch Kukoc noch einmal als erste Option versuchen, führte Chicago bei den Punkten, Assists und Rebounds an, allerdings waren die Bulls fortan kein Top-Team mehr. Es folgten weitere Jahre in Philly, Atlanta und Milwaukee, bevor er im Jahr 2006 endgültig seine Karriere beendete. Ohne große Award-Sammlung, dafür aber mit großer Zufriedenheit.
"Ich glaube, dass ich locker 20 (Punkte), 7 (Rebounds) und 7 (Assists) hätte auflegen können, wenn ich bei einem anderen Team mit einer größeren Rolle gelandet wäre", sagte Kukoc später. "Jedoch würde ich niemals meine Zeit bei den Bulls für All-Star-Teilnahmen oder sonstiges eintauschen. Jeder Spieler würde alles dafür geben, um Teil dieser Mannschaften zu sein. Es war die beste Zeit meiner Karriere."
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Toni Kukoc: Seine Karriere in Zahlen
Spiele Minuten Punkte Rebounds Assists FG% 3FG% 846 26,3 11,6 4,2 3,7 44,7 33,5
Toni Kukoc: Ein europäischer Pionier
Tatsächlich blieb er den Bulls nicht lange fern, wurde später zum Special Advisor von Besitzer Jerry Reinsdorf. Und auch mit Pippen & Co. hat er längst seinen Frieden gemacht. "Er war ein wichtiger Spieler für uns", erkannte Pippen später an. Für seine Karriere wurde er 2017 in die FIBA Hall of Fame gewählt, dreimal war er zudem bereits für die Naismith Memorial Hall of Fame nominiert. "Ich bin definitiv der Meinung, er hat es verdient", so Pippen.
Die Argumentation dafür ist eigentlich schnell gemacht: Für seine Größe war Toni Kukoc ein exzellenter Passer, Ballhandler und vor allem Werfer. Er scheute niemals vor Drucksituationen. Der Forward hat zwar keine MVP-Awards, All-Star-Teilnahmen oder Scoring-Titel vorzuweisen, trotzdem hat er sich als einer der ersten Europäer in der NBA durchgesetzt und seinen Abdruck hinterlassen.
Er war ein Wegbereiter späterer Spieler wie Dirk Nowitzki, Pau Gasol oder Luka Doncic. Wenn über die wichtigsten ausländischen NBA-Spieler aller Zeiten diskutiert wird, darf der Name Toni Kukoc nicht fehlen.