Daniel Weimar ist Sport- und Medienökonom, arbeitet am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen und forscht unter anderem über Insolvenzen im Fußballgeschäft. 2019 veröffentlichte er etwa zusammen mit Mike Szymanski von der University of Michigan die Studie "Insolvencies in Professional Football: A German Sonderweg?"
Dr. Weimar, wenige Wochen Lockdown haben gereicht, dass zahlreichen Fußballklubs das Wasser finanziell bis zum Hals steht. Nun rufen sogar hochrangige Funktionäre zur finanziellen Mäßigung auf, DFL-Chef Christian Seifert oder Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge haben eine Gehaltsobergrenze ins Spiel gebracht. Könnte da gerade wirklich ein Umdenken stattfinden?
Daniel Weimar: Dass jetzt alle ihr Verhalten ändern, und Überinvestitionen vermeiden würden oder dass Klubs in Notlagen den Abstieg in die vierte oder fünfte Liga akzeptieren: Das wird nicht passieren. Dafür ist der Anreiz des Sportwettkampfes zu groß.
Der Hang zur Überschuldung ist also im Sport systemimmanent?
Weimar: Der Sport ist ein hochemotionaler Markt. Das oberste Ziel für jeden Klub in einem Ligensystem ist zunächst, nicht abzusteigen. Darum werden alle Klubs alles dafür tun, um den Abstieg zu verhindern und somit nicht aus dem Markt ausgeschlossen zu werden. Solange man noch die Hoffnung hat, den Abstieg verhindern zu können, nimmt man jeden Euro, den man noch hat und vielleicht auch jeden Euro, den man schon nicht mehr hat, in die Hand und verschuldet sich. Weil die Konkurrenten ja genau dasselbe tun. Das ist der relative Wettbewerb, den es so nur im Sport gibt. Jeder versucht, den Abstieg zu verhindern. Doch strukturell gesehen steigt mindestens einer immer ab! Und da geht das Rattenrennen schon los.
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Weimar: "Klubs müssten sich von diesem Fahrstuhldenken entfernen"
Die Klubs verschulden sich.
Weimar: Der Aufstieg ist immer teurer als der Klassenerhalt. Der erste, der spart, wird voraussichtlich absteigen. Also wird er nicht sparen. Und wer trotzdem abgestiegen ist, versucht in der Regel alles, um wieder hochzukommen und verschuldet sich oft nur noch mehr. Die Klubs müssten sich erst mal von diesem Fahrstuhldenken befreien, bräuchten eine gewisse Demut, den Abstieg zu akzeptieren und sich in der neuen Liga einzurichten. Doch dann dürfte ein Abstieg auch von Fanseite nicht so kritisch gesehen werden. Schon im untersten Amateurbereich werden in den zweiten Mannschaften in der Saisonschlussphase so viele Spieler wie möglich aus der ersten Mannschaft eingesetzt, nur, um den sportlichen Wettkampf nicht zu verlieren und nicht abzusteigen. Dieses Verhalten ist im Sport inhärent. Darum ist es utopisch, auf ein Umdenken oder eine finanzielle Mäßigung zu hoffen. Sobald der erste Klub ausscheren würde, wäre das wieder vorbei, würde das Rattenrennen wieder losgehen.
Was wäre mit Regulierungsinstrumenten wie Gehaltsobergenzen?
Weimar: Ein Salary Cap ist arbeitsrechtlich nicht möglich. Die Klubs sind selbstständige Unternehmen - das ist auch der Unterschied zum nordamerikanischen System mit den Franchises als eine Art Konzern. Deswegen kann in den nordamerikanischen Profiligen ein Spieler innerhalb kurzer Zeit vom Standort Chicago zum Standort New York transferiert werden.
Weimar: "... dann wird China noch mehr Spieler anziehen"
Könnte ein Tarifvertrag zwischen Klubs und Spielern nicht eine Gehaltsobergrenze regeln?
Weimar: Rechtlich schwierig. Und es bliebe immer das internationale Problem. Selbst wenn der DFB in Deutschland irgendwie ein Gentlemen's Agreement hinkriegen würde und sich die Klubs mit ihren Spielern auf eine Gehaltsobergrenze einigen, würde sich das Problem verlagern. Wenn Deutschland ein Salary Cap hätte und beispielsweise Spanien und Italien nicht, dann wären alle Spieler, die momentan in Deutschland mehr verdienen als die künftige Gehaltsobergrenze, schnell weg. Dann hätte die Bundesliga nur noch Drittliganiveau. Selbst wenn UEFA-weit eine Einigung besteht, wird China noch mehr Spieler anziehen.
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Seifert will die EU ins Boot holen und glaubt, dass dann auch UEFA-Chef Alexander Ceferin zustimmen würde. Weimar: Dass alle Mitgliedsverbände der UEFA ein Agreement schaffen, das irgendwie, warum und wie auch immer kompatibel wäre mit EU-Recht und lokalen und nationalen arbeitsrechtlichen und kartellrechtlichen Bestimmungen? Letztlich würde ein Salary Cap ja auch eine Absprache bedeuten, was rechtlich schwierig ist. Ich sehe da ganz hohe Hürden. Rechtlich, aber auch aus Wettbewerbssicht.
Man kann also nichts machen?
Weimar: Ein Instrument, um das Rattenrennen einzudämpfen und in der Hand der Verbände liegen würde, wäre z.B. der Verzicht auf absolute Auf- und Abstiegsgrenzen.
Das heißt?
Weimar: Wenn nicht der Letzte, Vorletzte und Drittletzte automatisch absteigen würde, sondern beispielsweise die Klubs, die weniger als 30 Punkte haben. Das würde den Druck etwas herausnehmen und dazu führen, dass Klubs sich entsprechend positionieren und nicht überinvestieren würden. Weil sie frühzeitig absehen könnten, dass sie die Punktzahl erreichen - oder eben nicht. Dann würde der relative Wettbewerb wegfallen. Eine andere Möglichkeit wäre, das Transferfenster im Winter zu schließen. Auch die Abschaffung des Wintertransferfensters könnte eventuell das Rattenrennen verlangsamen.
Für Klubs aus unteren Ligen wäre der Aufstieg dann aber überhaupt nicht mehr planbar.
Weimar: Ich habe nicht gesagt, dass dies eine optimale Lösung wäre. Aber es wäre eine Reform, die der DFB durchführen und im Sportrecht durchgesetzt werden könnte. Solche Regelungen scheinen viel einfacher durchsetzbar als Gehaltsobergrenzen. Man könnte auch, um Klubs in den dritten und vierten Ligen zu helfen, die TV-Einnahmen deutlich mehr nach unten verteilen. Dann wäre der Reiz, den Abstieg unbedingt vermeiden zu wollen und die Bereitschaft zur Überschuldung etwas geringer.
Weimar: "Insolvenz ist kein Wahlrecht"
Der DFB hat als Folge der Coronakrise den automatischen Abzug von neun Punkten im Insolvenzfall für diese Saison ausgesetzt. Kommende Saison würden drei Punkte abgezogen ...
Weimar: Früher folgte auf eine Insolvenz automatisch der Zwangsabstieg. Dies war rechtlich so problematisch, dass es von DFL, DFB und Regionalverbänden wieder abgeschafft wurde. Auch die Punktabzüge erscheinen mir willkürlich. Der DFB versucht dadurch, den Anreiz zu schaffen, keine Überinvestitionen zu tätigen, löst aber nur wieder das Rattenrennen aus. Die Androhung der Punktabzüge führt letztlich dazu, dass finanziell in Schieflage geratene Klubs zur Kommune gehen und um Stundung der Stadionmiete bitten können. Nach dem Motto: "Wenn wir insolvent gehen, bekommen wir neun Punkte abgezogen und dann steigen wir ab und dann können wir noch weniger Miete bezahlen." Die Punktabzugsdrohungen folgen wieder der Logik im Sport, Abstiege unbedingt verhindern zu müssen und dienen letztlich vor allem als Argumentationskriterium für Gläubiger, auf ihre Ansprüche zu verzichten.
Nun, da die Punktabzüge wegfallen, könnten Klubs einfach Insolvenz anmelden, sich entschulden - und neu anfangen?
Weimar: Um es mal ganz deutlich zu sagen: Insolvenz ist kein Wahlrecht. Wenn Insolvenzgründe vorliegen, muss man Insolvenz anmelden. Dass der Karlsruher SC seine Fans über die geplante Insolvenz abstimmen lassen möchte, ist für mich völlig unverständlich. Die Antragsfrist für coronabezogene Überschuldung wurde zwar bis zum 30.9. verlängert, doch eine bilanzielle Überschuldung lag beim KSC voraussichtlich schon vor Corona vor. 2018 jedenfalls war der KSC bilanziell überschuldet. Generell ist es ein offenes Geheimnis, dass viele Klubs bis hinunter zur vierten Liga seit Jahren ein negatives Eigenkapital aufweisen, damit strukturell überschuldet sind. Diese Klubs müssten eigentlich auch ohne Corona Insolvenz anmelden, retten sich nur immer wieder durch positive Fortführungsprognosen. Sie sind zwar verschuldet, planen jedoch mit steigenden Einnahmen in ihren Büchern. Die brechen jetzt natürlich weg.
Was müsste dann passieren?
Weimar: Im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens könnten sich die Klubs, natürlich nur, wenn die Gläubiger zustimmen, nun tatsächlich entschulden. Solche Insolvenzplanverfahren sind in der Realwirtschaft außerhalb des Sports relativ selten. Unternehmen melden in der Regel Insolvenzen an, weil der Absatz nicht mehr passt, das Produkt nicht nachgefragt wird oder die Kosten zu hoch sind. Dann gibt es keine Möglichkeit der positiven Fortführung und damit auch kein Isolvenzplanverfahren. Das Spezielle im Sport und speziell im Fußball ist, dass die Nachfrage im Grunde nur abhängig ist von der Liga. Die Leute wollen Fußball sehen und wenn es sportlich wieder läuft, ist auch die Nachfrage beim Klub wieder da. Dazu kommt: Sportvereine haben eine gewisse lokale Systemrelevanz. Sportvereine sind Repräsentanten der Region. Das macht es allen Stakeholdern - Politikern, Kommunen, Banken, Mäzenen, Sponsoren etc. - so schwer, das Insolvenzplanverfahren zu sprengen. Keiner will der Totengräber des Klubs sein.
Weimar: "Nicht abwegig, dass Klubs - sollte 50+1 fallen - gute Investoren finden würden"
Der Ruf nach der Abschaffung der 50+1-Regel wurde mit Beginn der Coronakrise wieder lauter. Aus Ihrer Sicht nachvollziehbar?
Weimar: Aus wissenschaftlicher Sicht können wir empirisch nicht nachvollziehen, welchen Effekt der Wegfall der Regel haben könnte - uns fehlt schlicht eine Vergleichsliga. Wir kennen den kausalen Effekt von 50+1 nicht. Wir können nur aus Zahlen schlussfolgern, die wir aus der Vergangenheit haben. Und da haben wir gesehen, dass wir in Deutschland - vielleicht auch in Verbindung mit 50+1 - seit der Gründung der DFL im Jahr 2000 keine Insolvenzen in der Ersten und Zweiten Liga hatten und auch davor seit 1994 nur zwei in der Zweiten Liga. In Frankreich und England gab es in den ersten beiden Ligen hingegen mehr Insolvenzen in diesem Zeitraum. Aber wenn wir weiter runterschauen, in die dritte, vierte und fünfte Liga, hatten wir in Deutschland sogar mehr Insolvenzen als in den Vergleichsligen. Wir sehen: Der deutsche Sonderweg mit 50+1, der wirtschaftliche Stabilität suggeriert, geht zu Lasten einer finanziellen Instabilität in der dritten, vierten und fünften Liga.
Würde man in Krisenzeiten überhaupt Investoren finden können?
Weimar: Das wäre jetzt Glaskugelschauen. Aber ich halte es nicht für abwegig, dass Klubs in Deutschland - sollte 50+1 fallen - gute Investoren finden würden, welche die nötigen strukturellen Veränderungen in den Vereinen durchführen würden. Die Frage ist, welche Art von Investoren das derzeitige System anlockt. Bei 1860 München oder KFC Uerdingen sind etwa Investoren tätig, die Meister darin sind, über die sozialen Netzwerke Druck aufzubauen, um ihre Meinung durchzusetzen. Fans dürfen Emotionen haben. Doch im Geschäft braucht es rationale, gut durchdachte Entscheidungen auf allen Ebenen. Bei RB Leipzig und der TSG Hoffenheim haben die Eigentümer ihre Erfahrungen von außen eingebracht und haben die Klubs eben nicht wie klassische Sportunternehmen strukturiert.
Ganz grundsätzlich: Was glauben Sie, wie der Fußball nach Corona aussehen wird?
Weimar: Sponsoren, Fans, TV, Zuschauer finanzieren den Profisport. Da alle weniger Einnahmen haben, werden voraussichtlich die Gehälter der Sportler sinken. Doch weil alle weniger Geld haben werden, wird die Struktur bestehen bleiben: Fußballer werden weiter mehr verdienen als Basketballspieler, Bundesligaspieler weiter mehr als Drittligaprofis. Ich sehe nicht, dass der Fußball in Gefahr ist. Der Ball wird weiterrollen. Jedoch müssen sich die Spieler klarwerden, dass sie vielleicht ab einer gewissen Liga nicht mehr leben können vom Fußball und ein zweites Standbein brauchen. Das könnte für andere Sportarten sogar eine Chance sein.
Inwiefern?
Weimar: Ich bin etwa im Futsal bei Fortuna Düsseldorf ziemlich aktiv und da hoffen wir schon, dass durch die fallenden Gehälter im Fußball nun der Weg frei ist, dass sich Sportler vom Fußball lösen und anderen Sportarten zuwenden. Dass etwa ein Student, der bisher seinen Lebensunterhalt mit Fußball verdient, jetzt eben Futsal, Basketball oder Volleyball ausprobiert, wenn der Fußball auch nichts mehr zahlt.