Außerdem zieht er Bilanz über die durchwachsene ÖSV-Saison und erklärt, warum die Finanzprobleme der Weltcup-Austragungsorte eigentlich nicht zu lösen sind.

Herr Büchel, wie macht sich die Coronakrise bei Ihnen bemerkbar?

Marco Büchel : Es war ein harter Bruch in meinem Alltag. Mein Kopf war noch nicht bereit, Knall auf Fall ständig zuhause zu sein. Ich liebe meine Frau über alles, bin aber womöglich ein schwieriger Zeitgenosse, wenn ich bestimmte Dinge nicht tun kann. Ich wollte im Sommer einen Marathon laufen, mittlerweile wurde der abgesagt. Mir fehlen Ziele und Struktur im Alltag. Ich bin quasi arbeitslos. Ich fühle mich nutzlos und ungebraucht. Ich habe mental gute und schlechte Tage, stelle mir viele Fragen über meine persönliche Zukunft, aber auch über jene des Skiweltcups.

Normalerweise hätten in den vergangenen Wochen Materialtests stattgefunden. Mit Ausnahme von Schweden gab es diese aber nicht. Welche Auswirkungen hat das auf den Skirennsport?

Büchel : Es wurde alles über den Haufen geworfen. Schweden hat einen merklichen Vorteil, weil der Lockdown nicht so umfassend war wie in den Alpenländern. Die Schweiz und Österreich verfügen über Gletscher, die können also problemlos mit dem Training beginnen. Deutschland etwa hat aber keine Möglichkeit, umfassend zu trainieren. Das könnte das Bild verzerren, das ist für mich nicht ganz in Ordnung.

Inwiefern?

Büchel : Vor Corona konnten Verbände aus Ländern ohne Trainingspisten den Nachteil mit Reisen nach Neuseeland, Chile oder Argentinien kompensieren. Letztlich kamen alle Athleten grob auf dieselbe Anzahl an Trainingstagen. Jetzt ist die südliche Hemisphäre nicht erreichbar, es kommt daher zu einer Verzerrung. Ich sehe keine Möglichkeit, wie man für Gerechtigkeit sorgen könnte.

Der finanzielle Aufwand, um es in den Weltcup zu schaffen, wird immer größer. Wäre eine gewisse Form einer Budgetobergrenze sinnvoll, um für eine große Basis an Nachwuchsathleten zu sorgen?

Büchel : Diese Gespräche fanden schon vor Corona statt. Die Gletscherschmelze macht es immer schwieriger, auf solche Reisen für Sommertrainings zu verzichten. Alle Nationen in den wenigen noch vorhandenen Trainingsgebieten auf Europas Gletschern zu vereinigen, ist unmöglich. Deshalb geht es oft nach Südamerika oder Ozeanien. Das ist unglaublich teuer, der ökologische Aspekt kommt noch erschwerend hinzu. Für die Skigebiete auf der Südhalbkugel sind die Trainingslager allerdings auch ein großer Wirtschaftsfaktor. Verbände werden größere Probleme haben, Geld für solche Reisen aufzutreiben. Vielleicht wird sich deshalb in diese Richtung etwas korrigieren. Aber das Speed-Training ist in jedem Fall beeinträchtigt.

Warum?

Büchel : In Zermatt liegt die einzige Abfahrts-Trainingspiste, die selbst im Sommer gut befahrbar ist. Die Grenzen machen aber erst frühestens im September auf, der Sommer ist also gelaufen. Sollten sie schon früher öffnen, wird der Schweizer Skiverband schauen, dass er den Heimvorteil perfekt ausnützt. Der kann ja auch nicht nach Südamerika. Dann reservieren sie diese Piste den gesamten Sommer über für sämtliche Leistungsstufen. Ein Argument wäre, einzelne Spitzenfahrer wie etwa einen Thomas Dreßen einzuladen, um sich im Training mit einer wahren Granate zu messen. Dieses Argument gilt beispielsweise für Slowenien nicht.

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Büchel: "Brauchen jemand, der Milliarden für TV-Rechte zahlt"

Wir werden also sportliche Auswirkungen der Coronakrise sehen?

Büchel : Definitiv. Ich gehe noch einen Schritt weiter und frage mich, ob wir überhaupt einen Weltcup-Winter erleben werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir Rennen fahren. Der Kalender wird sich definitiv stark verändern.

Falls es Rennen gibt, müssen diese wahrscheinlich ohne Zuschauer stattfinden.

Büchel : Die Veranstalter leben von den Zuschauern, und zwar auch aus finanzieller Sicht. Es ist absolut undenkbar, dass wir vor der Entdeckung eines Impfstoffs Zuschauer zulassen können. Diese Abstandsregeln sind einfach nicht durchsetzbar. Wir werden ausschließlich Geisterrennen fahren. Die Frage ist: Können sich das die Veranstalter leisten?

Können Sie?

Büchel : In einer normalen Saison haben Adelboden und Wengen schon Existenzängste. Die schreiben rote Zahlen ohne Ende. Nennen Sie mich einen Pessimisten, aber Rennen ohne Zuschauer sind dort nicht machbar. Sponsoren werden pleitegehen, Skifirmen kämpfen ebenso wie Verbände - ja, selbst ganze Tourismussektionen straucheln. Wer reist nächsten Winter schon nach Italien zum Skifahren - falls wir das überhaupt dürfen?

Das spricht nicht für den Weltcup, wenn solch namhafte Weltcuporte nicht positiv bilanzieren. Ist das ein schlechtes Geschäftsmodell?

Büchel : Adelboden hatte vor 20 Jahren ein Budget von knapp unter einer Million. Heute stehen sie bei sieben Millionen. Sie haben den Kanton und den Staat um Unterstützung angefragt, um überleben zu können - und das in noch "gesunden" Zeiten. Der Aufwand ist um vieles größer geworden. Die Anzahl der Gäste, die zum Rennen kommen, ist auf der anderen Seite aber gleichgeblieben. Kitzbühel ist ziemlich weitläufig. Dort können mit dem Zug tausende Menschen kommen. Wengen oder Adelboden sind aber schwer erreichbar. Es geht nicht, die Zuschauerzahlen zu steigern. Die Fernsehrechte sind nicht vergleichbar mit jenen aus dem Fußball und machen nur einen verschwindend kleinen Anteil der Einnahmen aus.

Wie könnte man solche Finanzprobleme in Zukunft vermeiden?

Büchel(überlegt lange) : Wenn ich das genau wüsste. Wir bräuchten jemanden, der unverschämt viele Milliarden Euro für die Fernsehrechte bezahlt. Bleiben wir realistisch: Ski Alpin ist die schönste Sportart überhaupt. Aber es ist eine Randsportart, nicht vergleichbar mit Tennis oder Golf. Einschaltquoten bestimmen den Preis. Wenn sie die Normen sprengen, wären wir finanziell abgesichert. Dem ist aber leider nicht so.

Muss in der Vermarktung ein größeres Publikum angesprochen werden?

Büchel : Schauen Sie, vor 40 Jahren gab es bei mir Zuhause fünf Fernsehsender. Bei vier dieser fünf Sender liefen Skirennen. Alle liefen nach Hause und haben vor dem Fernseher Mittaggegessen. Heute haben wir 200 TV-Sender, Millionen Internet-Streams - wenn man möchte, kann man rund um die Uhr Sport schauen. Das Angebot ist riesig geworden, es gleicht nur mehr einem Verdrängungskampf. Die Bevölkerung wächst, aber gleichzeitig tun das die TV-tauglichen Sportarten auch. Dass der Skisport die TV-Quoten halten kann, ist ein riesiger Erfolg! Sie auszubauen, ist ein fast utopisches Ziel. Möglicherweise ist TV nach Corona wieder in.

Hätte Ihnen jemand vor der Saison gesagt, dass Aleksander Aamodt Kilde den Gesamtweltcup gewinnen würde, was hätten Sie gesagt?

Büchel : Ein spannender, legitimer Tipp, aber ich hatte ihn nicht auf der Rechnung. Ich sah nur einen Zweikampf zwischen Pinturault und Kristoffersen. Aber es war faszinierend, was Kilde gezeigt hat. Dass er im Riesenslalom die großen Punkte abräumt, war die große Überraschung. Die beiden Top-Favoriten haben währenddessen Schwächen gezeigt.

Bei den Frauen scheint es, dass die Spitze etwas näher zusammengerückt ist. Teilen Sie diesen Eindruck?

Büchel : Das ist schön zu sehen. Shiffrin war nicht über jeden Zweifel erhaben - auch vor ihrer Wettkampfpause. Da ist etwas passiert, ich weiß nicht genau, was. Brignone ist die perfekte Allrounderin. Vlhova war dazu gezwungen, auch mehrere Disziplinen zu fahren. Das wird sie in Zukunft vermehrt trainieren. Das nicht zu forcieren, wäre dumm.

Der ÖSV verzeichnete trotz des Kitzbühel-Triumphs und Premierensiegerin Nina Ortlieb eine ernüchternde Saison. Wie fällt ihr Fazit aus ÖSV-Sicht aus?

Büchel : Weit unter dem Wert geschlagen. Keine Mannschaft der Welt kann bei Frauen und Männern in jeder Disziplin Weltspitze sein. Der ÖSV war verletzungsgeplagt wie kein anderer Verband. Der Riesenslalom war die Sorgendisziplin. Marcel Hirscher hat das in den letzten Jahren überdeckt. Die Mannschaftsleistung wurde wegen seinen Erfolgen kulant weggeredet. Die Schwächen wurden jetzt schonungslos aufgedeckt. Der Unterbau hat mich enttäuscht, da kam nichts. Ich hoffe auf Anna Veith, dass sie zu alter Stärke zurückfindet. Dann müsste man sich bei den Technikerinnen keine Sorgen machen. Die Speed-Fahrerinnen haben Großteils unter ihren Leistungen performt.

Swiss Ski hat im Gegenzug eine perfekte Saison abgeliefert.

Büchel : Es ist der Lohn für die Arbeit der letzten Jahre. Es war ja eine Schmach, von Österreich in den letzten 30 Jahren vorgeführt worden zu sein. Der Skirennsport hat in der Schweiz ein unglaublich hohes Standing. Die Leistungen der Schweizer haben mich umgehauen. Sie sollen diesen Erfolg genießen. Wenn ich das Haar in der Suppe finden müsste: Wendy Holdener hat im Slalom nicht mehr die Konstanz der letzten Jahre gezeigt.

Marco Büchel: "Ich hatte manchmal höllische Angst"

Sie waren selbst 19 Jahre lang im Weltcup aktiv und nahmen an sechs Olympischen Spielen teil. Nach einer Panikattacke bei der WM 2009 entschieden Sie sich, nur noch eine Saison zu fahren. Braucht es im Weltcup mehr psychologische Unterstützung?

Büchel : Das ist eine persönliche Entscheidung. Ich arbeitete acht Jahre lang mit einem Sportpsychologen. Es macht keinen Sinn, dass der Verband etwas drüber stülpt und jedem einen Psychologen vor die Nase setzt. Zu Schwäche zu stehen ist eine schwierige Sache. Ich habe es selbst erlebt: Beim Start in Kitzbühel geben die Läufer das auch einmal offen zu. Nach außen vertritt man aber immer nur das Image eines Gladiators und spricht allerhöchstens von Respekt. Ich kann es als zurückgetretener Läufer ja zugeben: Ich hatte manchmal höllische Angst.

Heute sind Sie als ZDF-Experte tätig. Konnten Sie sich nicht vom Ski-Weltcup lösen?

Büchel : Ich fühle mich dabei wohl wie ein Fisch im Wasser. Daneben habe ich verschiedene Jobs, die mich auch erfüllen.

Unter anderem bei Right to Play , einer karitativen Einrichtung.

Büchel: Ich konnte mich verwirklichen, bin auf der Sonnenseite des Lebens aufgewachsen. Ich sehe es als Pflicht an, anderen zu helfen. Sehr viele Stiftungen fördern Kinder in der Schule. Mein Charakter wurde aber überwiegend durch Sport und Spiel geformt. Es gibt so viele Länder, in denen Grundregeln, die wir als selbstverständlich ansehen, kein Thema sind. Durch diese Sportprogramme werden diese Regeln spielerisch eingeführt.

Außerdem betreiben Sie eine Trainingsgruppe mit dem Namen Rotor. Was hat es damit auf sich?

Büchel : Es ist ein Trainingszentrum, vergleichbar mit einem Olympia-Stützpunkt aus anderen Ländern. Ich erkannte während meiner Karriere, dass es in Liechtenstein an solch einer Einrichtung fehlt. Da das verpasst wurde, wollte ich jenen Athleten, die den Sprung in eine Profikarriere wagen, einen Ort kreieren, eine Schaltzentrale für den Profisport. Wir betreuen mittlerweile 21 Sportler, etwa Tina Weirather oder Dario Cologna. Wir betreuen aber auch Tennisspieler, Judoka oder Triathleten.

Hinweis: Das gesamte Interview gibt es bei Après Ski - Der Alpin-Podcast zu hören.

Marco Büchel: Siege im Ski-Weltcup

Marco Büchel feierte vier Siege im Weltcup, je zwei in Abfahrt und Super-G.

Jahr Ort Disziplin 2003 Garmisch-Partenkirchen Super-G 2005 Gröden Abfahrt 2006 Lake Louise Abfahrt 2008 Kitzbühel Super-G