Das Jahr 2020 markiert aus Sicht der New England Patriots nicht weniger als eine neue Zeitrechnung, eine gänzlich neue Ära: Nach 20 Jahren, 19 Winning Seasons, 17 Playoff-Teilnahmen und sechs Super-Bowl-Titeln schloss sich Tom Brady im Frühjahr den Tampa Bay Buccaneers an.
Der Status der Patriots veränderte sich praktisch über Nacht massiv: Statt eines Super-Bowl-Favoriten war die Franchise plötzlich nur noch ein möglicher Playoff-Aspirant. Statt das Team nuanciert verbessern zu müssen, stand plötzlich ein kompletter Rebuild der Mannschaft im Raum.
Umso spannender sollte die Offseason der Patriots in diesem Jahr werden. Wie würde Bill Belichick auf diese gänzlich neuen Umstände reagieren? Wer soll Bradys Nachfolger werden? Und wird dieser Quarterback einen verbesserten Supporting Cast bekommen?
Kurz gesagt: Was wird sich durch den Abgang von Brady verändern?
Etwas mehr als einen Monat später lässt sich überraschenderweise festhalten: Nicht allzu viel.
Patriots: Kein Starting Quarterback in der Free Agency
In der Free Agency hielten die Patriots den bald 33-jährigen Devin McCourty, auch Guard Joe Thuney bleibt, wenn auch vorerst nur für ein weiteres Jahr. Zudem verpflichtete das Team Defensive Tackle Beau Allen sowie Linebacker Brandon Copeland und Wide Receiver Damiere Byrd. Solide Verpflichtungen für mehr Tiefe, aber sicher nicht mehr.
Das Receiving Corps, im Vorjahr als die vielleicht größte Schwäche der Patriots ausgemacht, wurde - mit Ausnahme von Byrd, der allerdings kaum Starterpotenzial mitbringt - keineswegs adressiert. Die Tight-End-Position blieb ebenso dünn besetzt wie die der Wide Receiver.
Gleichzeitig gingen mehrere Top-Verteidiger und erhielten woanders große Verträge. Business as usual in Foxborough.
Auch auf dem Starting-Quarterback-Markt, der 2020 über deutlich mehr große Namen als noch in den Vorjahren verfügte, schlugen die Patriots nicht zu. Teddy Bridgewater? Nick Foles? Andy Dalton? Cam Newton? Josh Rosen? Fehlanzeige. Einzig Brandon Hoyer, der bereits zuvor vier Saisons als Backup in New England verbrachte, wurde verpflichtet.
Weder ein weiterer Angriff auf den Titel mit einem neuen Quarterback noch ein kompletter Rebuild also - der Draft sollte schließlich neue Hinweise auf die neue strategische Ausrichtung der Patriots liefern.
Doch auch diese drei Tage sorgten für mehr Frage- als Ausrufezeichen.
Patriots: Keine spektakulären Entwicklungen im Draft
Nach einem Downtrade zu Beginn des Drafts - auch hier: alles wie gewohnt für Pats-Fans - wählten Belichick und sein Front Office gleich drei Defensiv-Spieler aus: Kyle Dugger, einen Linebacker-Safety-Hybrid, sowie Josh Uche und Anfernee Jennings, die beide sowohl als Pass-Rusher als auch als Off-Ball-Linebacker eingesetzt werden könnten.
Anschließend tradeten die Patriots gleich zwei Mal nach oben, gaben also mehrere eigene Picks ab, um einen höheren Pick zu ergattern. In beiden Fällen war das Ziel ein Tight End, an Position 91 zunächst Devin Asiasi, zehn Plätze später dann auch noch Dalton Keene.
Dies sind zunächst keine allzu spektakulären Entwicklungen. Die Patriots schätzen Flexibilität in der Defense schon immer mehr als große Teile der NFL-Konkurrenz, zudem kommt der Tight-End-Position in der Patriots-Offense bereits seit vielen Jahren eine große Rolle zu. Zudem zeigte sich New England in der Vergangenheit bereits häufig offen dazu, zu Beginn des Drafts zurückzutraden, um mehr Picks einzustreichen. Und auch die Uptrades sind auf eine bereits etablierte Praktik zurückzuführen.
"Wir haben uns unser Board im Hinblick auf den weiteren Verlauf des Drafts angeguckt und uns gefragt, ob wir unsere Picks überhaupt alle gebrauchen würden", erklärte Director of Player Personell Nick Caserio dieses Vorgehen anschließend. Die Patriots sind bekannt dafür, kleinere Draft-Boards als die Konkurrenz zu haben, auch das ist also keineswegs eine neue Entwicklung in Foxborough.
New England Patriots: Zahlreiche Fragen bezüglich des Drafts
Und doch: Zahlreiche Fragen bezüglich des Drafts, den die Patriots in den späten Runden mit einem Kicker, drei Offensive Linemen und einem Pass-Rusher abschlossen, bleiben.
Warum entschied sich das Team ausgerechnet in einer äußerst schwachen Tight-End-Klasse für zwei relativ klare Reaches auf dieser Position? Sowohl Asiasi als auch Keene waren auf den meisten Boards mindestens eine Runde später gelistet worden.
Warum adressierte New England die wohl größte Schwäche im eigenen Team, das Receiving Corps, im vielleicht tiefsten Wide-Receiver-Draft seit vielen Jahren überhaupt nicht? Selbst äußerst spät ausgewählte Spieler wie James Proche oder K.J. Hill hätten dem Team womöglich direkt helfen können.
Wollten die Patriots Jalen Hurts?
Warum ignorierten die Patriots die Quarterback-Position komplett? Belichick erklärte anschließend, dies hätte nicht im Vorhinein festgestanden und sich im Laufe des Drafts erst ergeben, doch mit Jake Fromm, der in Runde fünf von den Bills gedraftet wurde, oder auch Anthony Gordon und womöglich sogar Tyler Huntley, die als Undraftet Free Agents in Seattle und Baltimore unterschrieben, gab es einige Quarterbacks, die vom Spielstil eigentlich gut nach New England gepasst und spät im Draft auch Value mitgebracht hätten.
Wen hatten die Patriots ins Auge gefasst? Möglicherweise war es Jalen Hurts, den die Eagles in Runde 2 sieben Picks vor den Patriots auswählten. Sofern Belichick nicht vermutet hatte, dass Justin Herbert oder Tua Tagovailoa fällt, scheint das der einzige plausible Name zu sein, sollte das QB-Board aus Pats-Sicht tatsächlich unglücklich gefallen sein.
Und, die vielleicht am wenigsten verständliche Entscheidung im gesamten Draft: Wieso drafteten die Patriots in der fünften Runde einen Kicker, von dem zu diesem Zeitpunkt praktisch noch nie irgendjemand etwas gehört hatte? Dass Justin Rohrwasser unmittelbar nach dem Draft durch das auf seinem Arm tätowierte Logo einer para-militärischen Rechtsaußen-Gruppe für Schlagzeilen sorgte, machte die Entscheidung noch unerklärlicher.
New England Patriots: Welchen Plan verfolgt Belichick?
Belichick lässt sich keineswegs in die Karten blicken, auch das hat sich im Frühjahr 2020 in Foxborough nicht verändert. "Ich bin sicher, dass sich alle unsere jungen Spieler verbessern werden", erklärte er in Bezug auf die eigenen Receiver. "Wir hatten N'Keal Harry als Erstrundenpick, wir haben einen Zweitrundenpick für Mohamed Sanu abgegeben. Natürlich haben wir auch noch Julian Edelman und einige andere junge Spieler. Ich glaube, das wird eine sehr schlagkräftige Gruppe."
Man darf davon ausgehen, dass der 68-Jährige einen konkreten Plan verfolgt. Die Frage ist nur: Welchen?
Traut er Quarterback Jarrett Stidham tatsächlich die Rolle des Starting Quarterbacks und Brady-Nachfolgers zu? Es würde zu den Meldungen passen, wonach Stidham im Training überzeugt haben soll und auch die Berichte aus New England vor dem Draft legten nahe, dass der Vorjahres-Rookie zumindest eine echte Chance erhält.
Hat er dahinter womöglich bereits einen anderen Quarterback für das Jahr 2021 im Auge? Oder bastelt er vielleicht tatsächlich perspektivisch an einem Scheme, das keinen klassischen Pocket Passer als Quarterback im Zentrum hat? Zuzutrauen wäre Belichick jede dieser Strategien. Unkonventionelle Wege oder Methoden scheute er noch nie.
Wenn es einen Head Coach gibt, dem es zuzutrauen ist, den Übergang in die Post-Brady-Ära erfolgreich zu gestalten, dann ist es wohl Belichick. Daran hat auch dieser Draft der Patriots vorerst noch nichts geändert.
Für allzu viel Zuversicht hat er allerdings auch nicht sorgen können. Eher im Gegenteil.