Reiner Calmund beschlich am späten Abend des 9. April 2002 ein mulmiges Gefühl, dunkle Gedanken, die sich eigentlich zur Unzeit im Kopf des damaligen Präsidenten von Bayer Leverkusen festsetzten. Nur wenige Augenblicke zuvor hatte die Werkself nämlich eines der wohl besten Spiele der Vereinsgeschichte abgeliefert, den FC Liverpool, immerhin amtierender englischer Rekordmeister zu jener Zeit, mit 4:2 aus dem Stadion gefegt und somit das Ticket fürs Champions-League-Halbfinale gelöst.
"Campino hat mir nach der Begegnung gratuliert, Michael Schumacher hat mir Glückwünsche geschickt. Aber als wir nach Hause gefahren sind, habe ich zu meiner Frau gesagt: 'Das war's, dieses Spiel wird uns die Deutsche Meisterschaft kosten'", erinnert sich Calmund im exklusiven Gespräch mit SPOX und Goal . Er führt aus: "Für die kommenden Englischen Wochen fehlte uns einfach die Breite im Kader." Seine Intuition sollte ihn nicht im Stich lassen, das Ausmaß an Dramatik, das der Saisonendspurt für Leverkusen noch bereithalten sollte, überstieg aber selbst Calmunds hellseherische Fähigkeiten.
Die ersten Anzeichen dafür, dass Bayer 04 auf den letzten Bundesliga-Metern die Luft ausgehen könnte, muteten zunächst harmlos an. Wenige Tage nach dem Spektakel gegen Liverpool sprang beim zwölftplatzierten Hamburger SV ein mäßiges 1:1 heraus, weil Verfolger Borussia Dortmund aber tags darauf mit 0:1 in Kaiserslautern verlor, deutete dennoch alles auf den ersten, so heiß ersehnten Meistertitel hin.
Bayer 04: Fünf Punkte Vorsprung, aber Unterhaching im Hinterkopf
Fünf Punkte Vorsprung bei noch drei ausstehenden Partien würde sich diese gefestigte Mannschaft, die auf dem Weg unter die letzten Vier der Königsklasse neben Liverpool unter anderem den FC Arsenal und Juventus Turin ausgeschaltet hatte, nicht nehmen lassen. Eine berechtigte Annahme derer, die einen Blick auf die nackten Zahlen warfen und die teils vorzüglichen Darbietungen als Argument anbrachten. Andererseits hatte Leverkusen nur zwei Jahre zuvor in Unterhaching eindrucksvoll bewiesen, wie schnell sich sicher geglaubte Silberware kurz vor der Ziellinie noch in Rauch auflösen kann.
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"Ein Punkt hätte uns gereicht, aber wir waren nicht in der Lage, diesen einen Zähler aus München mitzunehmen", hadert Bayers langjähriger Mittelfeldmann Carsten Ramelow mit Blick auf das legendäre 0:2 gegen den Münchner Vorortklub SpVgg Unterhaching, das dem benachbarten FC Bayern zugutekam. "Vielleicht waren einige Spieler dabei, die ihre Leistung nicht abrufen konnten, aus welchen Gründen auch immer. In diesem Spiel kamen Dinge zusammen, die danach nie wieder passiert sind. Zum Beispiel, dass Michael Ballack ein Eigentor geschossen hat. Unterhaching zählte schon zu den bittersten Niederlagen."
Medial wurde ebenjene bittere Niederlage zu einem Trauma hochstilisiert, das Leverkusen bis heute brandmarkt. 2002, als die Rheinländer erst vor heimischer Kulisse gegen Bremen verloren (1:2) und eine Woche später in Nürnberg die Tabellenführung an Dortmund herschenkten (0:1), wurde es erst recht mit großer Schadenfreude aus der noch nicht allzu verstaubten Archivkiste hervorgekramt. Ein gefundenes Fressen, weil Bayer 04 das Fünf-Punkte-Polster aus der Hand gegeben hatte und in der Liga erneut zu scheitern drohte.
Jens Nowotny, zwischen 1996 und 2005 Abwehrchef beim SVB, kann sich vorstellen, dass aufgrund der Negativerfahrungen mitunter Versagensängste ihren Teil zum Dilemma beigetragen haben. "Vielleicht trägt das Unterbewusstsein dazu bei, dass man in einigen Situationen falsche Entscheidungen trifft", sagt der mittlerweile 46-Jährige, als er von SPOX und Goal explizit auf die letztlich entscheidende Niederlage am 33. Spieltag in Nürnberg angesprochen wird.
Sensationeller Einzug ins Champions-League-Finale für "Kaiserslautern"
Aller Haching-Parallelen zum Trotz, sorgte Leverkusen, das sich übrigens schon Anfang März und somit lange vor dem Einbruch in Deutschlands Beletage für das DFB-Pokalfinale qualifiziert hatte, auf internationaler Bühne weiterhin für Furore. Viele Kritiker, die Bayer eine Versagermentalität andichten wollten, dürften sich verwundert die Augen gerieben haben, als die Toppmöller-Truppe im Champions-League-Halbfinale zunächst bei Manchester United ein überraschendes 2:2 einfuhr und nur drei Tage nach der quasi vergeigten Meisterschaft ein 1:1 folgen ließ und die BayArena in Ekstase versetzte.
Der verhältnismäßig kleine Klub von der Dhünn, der von Red-Devils-Coach Sir Alex Ferguson im Vorfeld des Rückspiels gleich zweimal mit "Kaiserslautern" verwechselt worden war, hatte dem nächsten Millionen-Kollektiv die Grenzen aufgezeigt und zog tatsächlich ins Endspiel der Königsklasse ein.
"Wenn ich mir die Erinnerungsstücke in meinem Keller anschaue und sehe, welche Mannschaften wir damals ausgeschaltet haben, macht das stolz", schwärmt Ramelow und ergänzt: "Es hat sich damals in Leverkusen etwas bewegt, auch innerhalb der Fanszene. Abends, unter Flutlicht, die Champions-League-Hymne zu hören, war für die Fans und die Spieler etwas ganz Besonderes. Das hat man auch an der Stimmung gemerkt. Nicht zuletzt deshalb haben wir im eigenen Stadion damals riesige Spiele abgeliefert." Allerdings bezahlte Leverkusen den Erfolg teuer: Nowotny zog sich einen Kreuzbandriss zu, der Brasilianer Ze Roberto handelte sich für das Finale in Glasgow, wo kein Geringerer als Real Madrid wartete, eine Gelbsperre ein.
"Ich hätte nie gedacht, dass wir ins Finale kommen würden. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht einmal, was das war", sagt Dimitar Berbatov, der die aufregende Saison ebenfalls bei SPOX und Goal Revue passieren lässt. Der Bulgare, der sich später zu einem Weltklassestürmer mausern sollte, war im Vorjahr als 20-Jähriger für 2,5 Millionen Euro von ZSKA Sofia nach Leverkusen gewechselt. "Ich war nur ein kleiner Junge, der auf der Bank saß. Wenn man die Wichtigkeit eines Moments nicht realisiert, macht man sich aber immerhin keine Gedanken, etwas falsch zu machen."
Bevor das Highlight gegen die Königlichen anstand, gab es - passend zur Achterbahnfahrt der Gefühle - jedoch zunächst wieder zwei Nackenschläge. Weil Dortmund sich am letzten Spieltag mit einem 2:1 über Bremen nicht die erhoffte Blöße gab, reichte Leverkusen ein 2:1 gegen Hertha BSC nicht, um doch noch an den Schwarz-Gelben vorbeizuziehen. Die Meisterschale wurde andernorts gen Himmel gestreckt. Mal wieder. "Man muss im Sport mit Niederlagen umgehen können", sagt Ramelow. "Es kann nicht immer positiv laufen, es geht auch mal in die andere Richtung. Ich persönlich habe das immer gut verkraftet und bin dementsprechend noch einmal besonders motiviert ins nächste Finale gegangen."
Niederlage im Pokal-Endspiel, Berbatov hat Angst vor Zidane
Der Optimismus des gebürtigen Berliners schien nicht auf alle Kollegen übergesprungen zu sein, schließlich war am 11. Mai, also nur vier Tage vor dem Champions-League-Duell mit Real, auch die nächste Hoffnung auf einen Titel dahin. Im Berliner Olympiastadion setzte es gegen Titelverteidiger Schalke 04 ein 2:4 im DFB-Pokalfinale. Das zwischenzeitliche 1:0 durch Berbatov hatte Jörg Böhme kurz vor dem Seitenwechsel egalisiert, nach der Pause schraubten Victor Agali, Andreas Möller und Ebbe Sand das Ergebnis zugunsten der Königsblauen in die Höhe, ehe Urgestein Ulf Kirsten sein letztes von insgesamt 238 Pflichtspieltoren für die Farbenstädter erzielte.
Doch all die Enttäuschungen wären vergessen gewesen, hätte Bayer die Galaktischen aus Madrid, die mit dem Starensemble um Zinedine Zidane, Roberto Carlos, Raul und Luis Figo aufwarteten, in der schottischen Fußballmetropole bezwungen.
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"Mir hat es keine Angst gemacht, im Finale zu spielen", sagt Berbatov und verrät: "Das, was mir Angst gemacht hat, war die Tatsache, Raul, Zidane, Figo und Roberto Carlos gegenüberzustehen. Man schaut zu ihnen auf wie ein kleiner Fanboy." Aus diesem Grund sei der Angreifer seinen Gegenspielern auch mit einer Spur zu viel Respekt begegnet. "Es war das erste Mal, dass mir so etwas passiert ist. Ich hatte Angst, diese Jungs zu berühren. Ich sah ihnen dabei zu, wie sie einfach an mir vorbeigingen und dachte mir: 'Berba, was zur Hölle machst Du? Attackier ihn, greif ihn einfach an. Aber es war Zidane, über den wir hier reden. Ich konnte es nicht glauben, gegen ihn zu spielen."
Etwas weniger hochachtungsvoll ging hingegen Ramelow zu Werke: "Ich glaube, dass bei Real jeder Spieler in der Lage war, das Spiel zu entscheiden. Wir wussten, dass wir Real mit Respekt, aber nicht mit Ehrfurcht begegnen müssen. Wir hatten keine Angst, sondern wollten zeigen, dass wir mithalten können."
Ein Vorhaben, das zunächst scheiterte: Raul schoss den haushohen Favoriten nach nur neun Minuten in Front. Einen langen Carlos-Einwurf brachte der Spanier mehr schlecht als recht auf den Kasten von Hans-Jörg Butt, der sich ausgerechnet im Champions-League-Finale einen folgenschweren Patzer leistete und die Kugel passieren ließ. Doch Bayer 04 warf der schnelle Rückstand nicht aus der Bahn, Lucio vergoldete eine Flanke von Bernd Schneider in der 14. Spielminute per Kopf zum 1:1. "Das Tor von Raul war das hässlichste aller Zeiten", sagt Berbatov und räumt ein: "Dafür war das zweite Ding von Zidane das schönste Tor überhaupt."
Berbatov: "Du denkst nur: Nein, nein, bitte nicht!"
Gemeint ist Zidanes Geniestreich, eine Volleyabnahme mit links, bei der sich jeder normale Kicker vermutlich das Hüftgelenk aus der Verankerung gerissen hätte. "Ich stand an der Mittellinie und hatte einen perfekten Blick auf den Schuss. Du denkst in diesem Moment nur: 'Nein, nein, bitte nicht. Irgendjemand muss ihn aufhalten.' Aber so etwas kannst du nicht verteidigen. Solche Tore möchte man normalerweise bei einem solchen Spiel sehen. Und Zidane war in der Lage, sie zu schießen."
Ramelow, der es als defensiver Mittelfeldspieler besonders häufig mit dem französischen Ausnahmespieler zutun bekam, pflichtet Berbatov bei: "Er war technisch natürlich versiert. Aber technisch versierte Spieler gibt es heute auch noch. Was ihn von anderen Fußballern abgehoben hat, war seine Eleganz. Alles, was er mit dem Ball gemacht hat, besaß eine gewisse Schönheit. Er hat den Ball gestreichelt, das perfekte Auge für den Mitspieler und brachte Torgefährlichkeit mit. Das fand ich an ihm bemerkenswert."
Doch nach Zizous Treffer zum 2:1 drehte sich die Partie immer mehr zugunsten des Underdogs aus Leverkusen. "Real ist heute gut, sie waren zu meiner aktiven Zeit gut und waren davor ebenfalls gut. Gegen uns stand eine absolute Top-Truppe auf dem Rasen, der wir mächtig Paroli geboten haben. Wir waren phasenweise sogar besser", sagt Ramelow.
Calmund lobt rückblickend: "Ich war froh, dass wir gegen Real Madrid mindestens gleichwertig waren, trotz des kleinen Kaders, der zur Verfügung stand." Mindestens gleichwertig könnte man sogar als untertrieben einordnen, ruft man sich vor allem die zweite Halbzeit ins Gedächtnis. Bayer schnürte die Blancos bisweilen ein, fuhr Angriff um Angriff. Als sich Cesar Lopez, Reals etatmäßige Nummer eins verletzte, wurde die Hoffnung auf ein Happy End weiter genährt. Ein Trugschluss.
Jens Nowotny: "Casillas hätte hinter sein Tor gehen können, wir hätten ihn trotzdem angeschossen"
"Wir hatten vermutlich ein Torschussverhältnis von 17 zu vier", mutmaßt Nowotny, der einen Tag vor seiner Kreuzband-Operation in Colorado am TV-Gerät mitfieberte. "Wir waren dermaßen überlegen und haben ein überragendes Spiel gemacht. Aber an diesem Abend ging der Stern des Iker Casillas auf", auch Ramelow hebt den damals erst 20 Jahre alten Keeper hervor: "Leider hat Iker Casillas einen super Tag erwischt. Er kam ins Spiel und hat alles gehalten, was es zu halten gab", erklärt der Blondschopf, während Nowotny sich in Zynismus übt: "Er hätte auch hinter sein Tor gehen können und wir hätten ihn trotzdem noch angeschossen."
Bayer drückte und drückte, Casillas parierte und parierte. "Wenn der Casillas nicht so überragend gehalten hätte, hätten wir das Spiel gewonnen", resümiert Calmund. Viele Konjunktive, die bekanntermaßen nicht eingetreten sind. Es blieb beim 2:1 aus Sicht der Spanier. Mit leeren Blicken und achtlos um den Hals geworfenen Silbermedaillen begleiteten die Bayer-Protagonisten im Anschluss die Zeremonie, an deren Ende der Gegner den prestigeträchtigen Henkelpott entgegennahm. Anders als nach der Pleite in Unterhaching, die eine landesweite Häme nach sich gezogen hatte, diente die Niederlage in Glasgow durchaus als Werbung in eigener Sache.
"Wir haben uns weltweit Sympathien erspielt. Das lag aber nicht nur an der Leistung, sondern auch an den Personen, die diese Leistung erbracht haben", weiß Nowotny. "Wir hatten keine Spinner, keine arroganten Hunde oder gehässige Typen in der Mannschaft. Das waren allesamt bodenständige Persönlichkeiten, die sich gesucht und gefunden haben. Ich denke, dass insbesondere Klaus Toppmöller einen großen Anteil daran hatte, dass wir unsere Normalität gewahrt haben."
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Carsten Ramelow: "Etwas Größeres gibt es nicht"
Calmund habe im Spanien-Urlaub sowohl von Real- als auch Barcelona-Fans Schulterklopfer und Lobeshymnen erhalten, weil Leverkusen derart zu begeistern wusste. "Letztlich muss man sagen: Je mehr sich das Jahr 2002 entfernt, desto besser realisiert man, was man erreicht hat", sagt Ramelow. "Dass wir in der Königsklasse sogar eine gewisse Rolle gespielt haben, war etwas ganz Besonderes. Wir standen im Champions-League-Finale - dessen muss man sich bewusst sein. Etwas Größeres gibt es nicht."
Er persönlich sei rückblickend nicht traurig, dass auch sein Name stets mit Platz zwei in Verbindung gebracht wird. "Heute würde mich eine Goldmedaille auch nicht weiterbringen als eine Silbermedaille. Für mich macht es keinen großen Unterschied, ob ich achtmal Zweiter geworden bin oder achtmal Erster."
Apropos Zweiter: Für einige Leverkusen-Akteure stand nach dem Champions-League-Finale die Weltmeisterschaft in Südkorea und Japan an. Ramelow, Ballack, Schneider und Oliver Neuville trugen ihren Teil dazu bei, dass Deutschland ins Endspiel gegen Brasilien einzog. Die Selecao gewann mit 2:0 dank eines Ronaldo-Doppelpacks.
"Ich war damals in Yokohama beim Finale", erzählt Calmund. "Ich habe zu Wolfgang Niersbach gesagt: 'Ich gehe nicht auf den Rasen. Nach dem DFB-Pokal-Finale haben sie mir blau-weißes Schalke-Konfetti auf den Kopf geschossen, in Glasgow strahlend weißes, ich brauche mir nicht zum dritten Mal die Farben des Gegners auf die Rübe rieseln zu lassen. Ich bin also auf der Tribüne sitzen geblieben - und plötzlich kam ein Schwall an grün-blau-gelbem Konfetti vom Stadiondach runter." Sinnbildlich.