Dieser Artikel erschien erstmals am 03. August 2015.

"Nur eines hat ihm keiner attestiert: den Genie-Status", schrieb die Zeit einst über Ringo Starr. Der Beatles-Drummer habe das Glück gehabt "acht Jahre lang mit drei Genies in einer Band zu spielen." Ähnliches sagt man über Wim Suurbier, den rechten Außenverteidiger des vielleicht besten Teams aller Zeiten: Gloria Ajax um Johan Cruyff der Siebziger-Jahre.

Glück habe er gehabt, er, der technisch limitierte Läufer mit der Pferdelunge, der wohl einzige Akteur des Wunderteams, der die eingesprungene Grätsche besser beherrschte als eine filigrane Pirouette oder einen Außenrist-Pass in den Raum. Glück, dass er 13 Jahre lang im Verein und zwölf in der Nationalmannschaft mit den Heroen des niederländischen Fußballs zusammen spielen durfte.

Mit Ballsport-Virtuosen wie Gerrie Mühren, der 1973 das ehrwürdige Santiago Bernabeu zum Toben brachte als er während der Partie begann den Ball hochzuhalten oder Piet Keizer, der manchen als das größere Genie als Johan Cruyff gilt.

Mit Pionieren wie Sjak Swart, dem Mitschöpfer der Bananenflanke oder Ruud Krol, dem Grund dafür, dass in den Niederlanden plötzlich die Kinder lieber Außenverteidiger als Stürmer werden wollten. Mit inszenierenden Taktgebern wie Barry Hulshoff oder Johan Neeskens. Und natürlich mit seiner Heiligkeit, dem König von Holland, Johan Cruyff.

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Loyalität als oberste Maxime

Wohl keinen Ajax-Spieler der legendären Elf, die drei Mal in Folge den Europapokal der Landesmeister gewinnen konnte und eine Kulturrevolution vollzog, die viele Paradigmen des modernen Fußballs kreiert und ästhetisch unter Michels und Thronfolger Stefan Kovacs auf den Rasen gezaubert hat, kennen heute nur noch so wenige Menschen wie Wim Suurbier.

Dabei war er sowohl auf dem Rasen als auch außerhalb ein unverzichtbarer Spieler. Einer, der als Spaßvogel, Playboy und loyaler Freund, aber auch als dynamischer Antreiber, zuverlässiger Zweikämpfer und stürmender Verteidiger galt.

In den Niederlanden gilt es als Nationalsport der Boulevardpresse unermüdlich zu versuchen die Gloria-Ajax-Spieler dazu zu bringen die feuchtfröhlichen und mitunter wohl durchaus skandalösen Anekdoten der auch bei Profifußballern von "Sex, Drugs and Rock n' Roll" dominierten Siebziger-Jahre preiszugeben.

Die Wunderelf von einst hält sich allerdings an einen ungeschriebenen Kodex, der die Skandale ruhen lässt. Vor Jahren bekam Wim Suurbier Besuch von einem Verleger und einem Autoren, die seine Biografie veröffentlichen wollten und insgeheim natürlich auf allerlei schmutzige Details von Cruyff und Co. hofften. Suurbier lehnte ab - und das, obwohl ihm finanziell das Wasser seit dem Karriere-Ende bis zum Hals stand. Niemals hätte er diesen Verrat an seinen ehemaligen Mitspielern begangen.

Plötzlich stand er vor Cruyffs Haus

Als es ganz schlimm wurde, und er nicht einmal mehr die Miete bezahlen konnte, wusste er wohin mit sich. In Barcelona stand er plötzlich vor dem Haus der Familie Cruyff. Johan dachte nicht daran, ihn ins Hotel zu schicken. Er bezog das Gästezimmer und am nächsten Morgen staunte Cruyff nicht schlecht, als in der Küche nicht seine Frau, sondern Wim Suurbier am Herd stand, Eier und Speck briet und Orangen auspresste.

Er blieb und arbeitete im Haushalt mit, um bei den Cruyffs schlafen zu dürfen. Nach sechs Wochen verließ er Barcelona gen Florida. Cruyff hatte ihm einen Job bei Ajax Orlando besorgt.

Diese Episode sagt viel aus über den Zusammenhalt der Ajax-Elf. Und viel über Suurbiers Stellung im Team. Er war einer der Ersten des späteren Teams, das von 1970 bis 1973 den Europapokal der Landesmeister gewinnen konnte. Schon früh traf ihn das Leben, wie sooft danach. Doch schon damals war er einer, der Verantwortung übernahm und sich nicht unterkriegen ließ. "Meine Eltern sind jung verstorben und so mussten mein Bruder und ich früh für uns selbst sorgen. Man könnte darüber klagen, aber was hat man davon?", erzählte er auf wk74.com .

1965 begann der Mythos

In Amsterdam ging er auf die Schule mit Piet Keizer, dem späteren Linksaußen. Beide wurden bei einem Spiel der Schülermannschaft gescoutet und wechselten zum großen Ajax. "Ich hatte nicht gut gespielt, aber drei Tore geschossen", erinnert sich Suurbier. Zusammen mit Johan Cruyff, dessen Bruder Henny und dem späteren Vorstopper Barry Hulshoff wurden sie auf Anhieb niederländischer Jugendmeister.

Mitte der Sechziger wurden sie Mitglied der ersten Mannschaft, wo sie auf einen Trainer trafen, der vielen als größtes Genie der Fußball-Geschichte gilt. Rinus Michels war ein Tüftler, ein Architekt, ein General, der den Totaalvoetbal kreierte, der Ajax zwischen 1965 und 1973 sechs niederländische Meistertitel, vier Pokalsiege, drei Europapokaltitel, einen Weltpokaltitel und einen UEFA-Supercup bescherte - und eine Legende schuf, die bis heute andauert.

577 Tore durch Michels' Totaalvoetbal

Michels löste das starre Positionskonzept auf, ließ permanent rochieren. Er ließ Pressing, Raumdeckung und mit Abseitsfalle spielen - alles im modernen Fußball fest verankerte Begrifflichkeiten. "Spitzenfußball ist wie Krieg. Bist du zu lieb, bist du verloren", sagte Michels und ließ seine Spieler überfallartig und mit technischer Brillanz angreifen.

79, 122, 96, 90, 100, 90 - 577 Ligatore erzielte Ajax in der Michels-Ära von 1965 bis 1971. "Es ist eine Kunst für sich eine Startformation zu entwerfen, die Balance zwischen kreativen Spielern und denen mit zerstörerischen Kräften zu finden, und zwischen Verteidigung, Aufbau und Angriff - ohne dabei die Qualität des Gegners und die spezifischen Zwänge eines jeden Spiels zu vergessen", beschrieb Michels sein Ziel und fasst so die Philosophie seiner Ägide besser zusammen als jede theoretische Abhandlung. Ebenfalls fest verankert in seinem Konzept: stürmende Außenverteidiger.

Während in Klub und Nationalteam vorne der überragende Mann Cruyff überall zu finden war, Libero, Außenstürmer, Mittelstürmer und Spielmacher in einem war, und auch Keizer, Mühren, Haan oder Neeskens sich frei bewegten und eine Offensivwucht schufen, die in der Geschichte des Fußballs ihresgleichen sucht, hatte Suurbier einen recht begrenzten Radius.

Die rechte Außenlinie war sein Territorium, dieses beackerte er. Er war technisch nicht schlecht, wenn auch schwächer als seine Mitspieler, er konnte beidfüßig flanken und schießen. Und er stürmte dynamisch und nimmermüde bis zur Grundlinie. "Er war eigentlich Verteidiger, aber unfassbar offensiv im Endspiel, ich musste gegen ihn fast linker Verteidiger spielen, dabei war ich ja Stürmer", erinnert sich Bernd Hölzenbein in der Frankfurter Rundschau an seinen Gegenspieler Suurbier beim WM-Finale 1974. Am Wichtigsten aber war seine Härte. Er war der rustikale Part in einem Orchester voller filigraner Solisten. Wie Ringo Starr eben.

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"Aber wir hatten Wim"

In der Zwischenrunde der WM 1974 etwa, setzte er mit zwei harten Tacklings ein Zeichen gegen überhart auftretende Brasilianer. Bei der zweiten Grätsche gegen Blondschopf Francisco Marinho traf der ihn beim Fallen absichtlich im Gesicht. Suurbier sprang sofort auf, mit wehender Mähne und vorgeschobenem Unterkiefer, ganz im Gegensatz zu heutigen Spielern, die bei einer solchen Aktion schreiend liegen geblieben wären.

"Brasilien versuchte uns mit Tritten zu zermürben. Besonders Johan (Cruyff, Red.) wurde regelrecht gejagt. Tja, was soll ich sagen. Sie traten uns, aber wir hatten Wim", erinnerte sich Johnny Rep im Telegraaf . Holland gewann 2:0 und scheiterte erst im Finale an Deutschland.

Auf Suurbier konnten sie sich verlassen, die Künstler vorne. Er kam über seine Kraft und sprintete dynamisch nach vorne und noch dynamischer nach hinten bei Ballverlusten. Gegenangriffe beendete er schon einmal mit einer Grätsche mit offener Sohle. Auf dem Platz ein funktionierendes Rädchen, in der von Michels entwickelten Maschinerie, war er neben dem Platz ungleich wichtiger, er war der Kitt, der die Stars zusammen hielt.

Er trommelte das Team zusammen, um bis vier Uhr durch die Pubs zu ziehen, er hielt nach Niederlagen schon einmal eine Rede und er sorgte für die feuchtfröhlichen Abende, die einen heute undenkbaren Teamgeist schufen. "Das Einzige, was im Leben wirklich zählt, sind echte Freunde und Loyalität ihnen gegenüber", sagte er einmal. "Wim hatte alles, was Gott verboten hat", beschrieb Willy de Kerkhof den "Teufelskerl".

Er war eine Frohnatur, die selbst dem disziplinierten Michels ein Lächeln abgewinnen konnte, während seine Mitspieler sich vor Lachen bogen. Und er war ein verrückter Hund. 1978 in Argentinien urinierte er aus dem fahrenden Bus, um die wüst schimpfenden Gaucho-Fans zu provozieren und es kam vor, dass er Neuzugängen Whiskey in die Trinkflasche goss.

Die Ära endete, das Schlitzohr blieb

1971 ging Michels zum FC Barcelona, 1973 folgte ihm Johan Cruyff, der gerade als Kapitän abgewählt worden war und sich mit dem neuen Trainer Knobel nicht verstand. Die Ära war zu Ende. Nach Cruyffs Weggang dauerte es bis 1995 bis Ajax wieder die Champions League gewinnen sollte. 1977 verließ dann auch Suurbier den Verein, für den er 13 Jahre gespielt hatte.

Er ging als Held. Noch heute liegt er mit 393 Einsätzen auf dem zweiten Platz der Ajax-Spieler mit den meisten Einsätzen. Nach Stationen bei Schalke, wo er gegen das Konditions-Training aufgebehrte und deshalb auf die Bank verbannt wurde, Metz, in den USA und in Shanghai beendete er 1984 seine Karriere. Als zweifacher Vize-Weltmeister, mit 16 Titeln und als einer, der immer ein Schlitzohr gewesen war.

1980 spielte Suurbier gerade für Sparta Rotterdam. Zusammen mit Rene van der Gijp fuhr er "betrunken wie ein Affe" nach Hause, wie van Gijp erzählte. Plötzlich Blaulicht. Geistesgegenwärtig setzten sich Suurbier und sein Saufkumpane auf den Rücksitz. "Der Fahrer ist gerade weggelaufen", sagte Suurbier zum Polizisten. Der glaubte die Lüge und am Ende wurden die beiden von einem Polizisten nach Hause gefahren.

"Hier können sie halten", sagte Suurbier vor einem Stripclub - und sie entschwanden torkelnd. Der Charakterkopf, den sie alle geliebt hatten und dem Hollands Trainer Ernst Happel wegen seiner großen Wertschätzung ihm gegenüber 1978 im Finale gegen Argentinien das letzte Länderspiel geschenkt hatte, obwohl der Wechsel taktisch wenig Sinn machte, versuchte sich als Unternehmer an einem Salon und einem Sportgeschäft. Beides scheiterte krachend und er fiel. Schnell und tief.

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Geldsorgen, Alkohol und Frauen

Er war ständig abgebrannt, wurde in den Neunzigern per Haftbefehl gesucht, er arbeitete für 35 Dollar am Tag in einer Bar in Hermosa Beach, USA. Er fuhr Pflanzen aus, er reinigte Teppiche und arbeitete als Gärtner. Nie zu kurz kamen der Alkohol und vor allem die Frauen, bei denen er allerdings ebenso wenig Glück hatte, wie mit seinen beruflichen Projekten.

Seine Freundin Anna aus New Mexiko etwa lieh sich 50.000 Dollar und verschwand mit dem Geld. Er arbeitete Tag und Nacht, auch als Trainer und Motivationscoach. Doch mit Geld konnte er nie umgehen, den Lebensstandart als Profi wollte er nur ungern aufgeben, und seine Liebe zum Feiern ebenso wenig. Er erlebte zusammen mit Rene Meulensteen ein Abenteuer als Co-Trainer der Nationalmannschaft Katars. Er wohnte in der Villa eines Scheichs und fuhr einen Chevrolet Cavalier. Dennoch: Meistens ging es ihm schlecht, er war arbeitslos und pleite.

Das Leben war nie besonders gütig zu Wim Suurbier. 2007 lief sein Visum in den USA ab, er musste den Job in Florida, den ihm Cruyff verschafft hatte, aufgeben und war zurück in den Niederlanden, ohne Job, Gehalt und mittellos. Er hielt sich über Wasser, mit kleinen Arbeiten, Piet Keizer half ihm finanziell. "Ich rette mich überall. Ich bin ein Einzelgänger. Ich mach immer das Beste aus allem. Fußball war und ist für mich immer Spaß. Fußball, ohne das Geschäft, das er heute ist, bleibt das Beste, was es gibt", sagte Suurbier, der bei der WM 2010 als Experte für das Fernsehen arbeitete, wo man aber mehr an seinen Erfahrungen und Problemen interessiert war, als an seiner Einschätzung als Experte.

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Wie Ringo Starr

Dies brachte einen Journalisten von Voetbal International so zur Weißglut, dass er in einer Kolumne mit dem Umgang der Branche mit dem großen Helden Suurbier abrechnete. Wenige Tage später klingelte das Telefon des Journalisten. In der Leitung: Wim Suurbier.

"Ihre Kolumne hat mir viel bedeutet. Ich möchte mich aufrichtig dafür bedanken und sie zum Essen einladen", sagte Suurbier zum sprachlosen Journalisten und zeigte, was für ein aufrichtiger Mann er ist. Einer, der das Herz auf der Zunge trägt. Und einer, der die Tragik der Siebziger-Jahre symbolisiert, wenn Fußball-Helden nach der Karriere keinen Pfennig mehr in der Tasche hatten.

Ringo Star, der "größte Glückspilz der Popgeschichte" ( FAZ ) und Wim Suurbier der "Ringo Star des Fußballs" ( 4dfoot.com ) - zwei Männern, denen man nachsagt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein und nur deshalb in den Genuss gekommen zu sein, Genies aus nächster Nähe beim Arbeiten zusehen zu dürfen.

Doch Bands und auch Fußballteams funktionieren nur im Kollektiv. Und so wie Starr der Taktgeber, Rythmusmacher und ruhige Pol von Lennon und Co. war, so war Suurbier der dynamische Aggressive Leader von Gloria Ajax. Ein treuer Freund und der Klebstoff, der Cruyff und Co. zusammen hielt. Ein "Einzelgänger" und tragischer Mann, der Fußballgeschichte mitschrieb und den dennoch heute kaum noch jemand kennt. Das hat ihm Ringo Starr dann doch voraus. Leider.