Die Wortmeldung der Woche kommt von Gianni Infantino. Der FIFA-Präsident wandte sich in der Gazzetta dello Sport mit ein paar Ideen an das Fußballvolk, die man wirklich jedem zugetraut hätte - außer Infantino selbst. "Vielleicht können wir den Fußball reformieren, indem wir einen Schritt zurück machen", sagte er also und führte konkret aus: "Weniger Turniere, dafür interessantere. Vielleicht weniger Teams, dafür größere Ausgeglichenheit. Weniger Spiele, um die Gesundheit der Spieler zu schützen, dafür umkämpftere Partien."
Kaum zu glauben, dass der Schweizer nun plötzlich den Pfad der Vernunft einschlagen will. Infantino war es, der die Weltmeisterschaften von 32 auf 48 Mannschaften aufstocken wollte. Der die Klub-WM, die bisher ein stiefmütterliches Dasein fristete, auf 24 Mannschaften aufblähte und innerhalb des Gastgeberlands China auch am Austragungsort Wuhan festhält - dem Epizentrum der Coronakrise. Im FIFA-Papier "Die Vision 2020 bis 2023" forderte Infantino vor vier Wochen unter dem Deckmantel, "den Fußball zum Wohle der ganzen Welt zu globalisieren, zu popularisieren und zu demokratisieren" einschneidende Maßnahmen mit einer Stoßrichtung: Noch mehr Spiele, noch mehr Wettbewerbe und damit zwangsläufig noch mehr Einnahmen.
Nun macht Corona alles anders, selbst Chefverkäufer Infantino geht - zumindest vordergründig - davor auf die Knie. Die Welt wird nach einer ihrer größten Krisen nicht mehr so sein, wie sie war. Und der Fußball wird sich auch grundlegend verändern. "Wir müssen alle Opfer bringen", sagt Infantino also. Nur: Wie sehen diese Opfer aus? Welche Veränderungen stehen im Raum? Wie könnte es weitergehen - sofern es irgendwann einmal weitergeht? So schlimm das ausgesetzte Tagesgeschäft derzeit die Klubs von der Kreisklasse bis zur Champions League trifft, nun wäre endlich auch einmal Zeit für wichtige Debatten, um ein paar Entwürfe für die Zukunft zu formulieren. Denn das Fundament des Profifußballs, das zeigt die Krise bereits in ihren Anfangstagen, ist auf Sand gebaut.
Coronavirus und der Fußball: Das ist die Lage
Der Fußball orientiert sich in der Hauptsache am Geld. Fast schon entschuldigend wird von den Klubs die Tatsache ins Feld geführt, dass es sich längst um Wirtschaftsunternehmen handeln würde, die gewinnmaximierend arbeiten müssten. Daraus hat sich ein in sich geschlossenes System entwickelt, in dem viele Protagonisten zwar auf dem Papier mit schönen Drei- oder Fünfjahresplänen agieren, in der Realität aber quasi von Woche zu Woche leben. "Von der Hand in den Mund", hat dies zuletzt Martin Kind im Sport1-Doppelpass genannt. "Meiner Meinung nach haben eigentlich alle Bundesliga-Vereine alle Fehler gemacht, die man in den unterschiedlichen Feldern machen kann", fällte er ein vernichtendes Urteil.
Vergleichsweise monströse Einnahmen wandern schnurstracks weiter auf die Konten überbezahlter Endabnehmer, die Klubs wirken dabei nicht wie Unternehmen, die an grundsätzlichen wirtschaftlichen Grundfesten wie etwa der Rücklagenbildung interessiert sind, sondern wie ein Durchlauferhitzer in einem ohnehin schon überdrehten Markt. Die reine Umverteilung von Einnahmen sei kein tragfähiges Geschäftsmodell, kritisierte Kind.
"Es geht ums Überleben", sagte DFL-Geschäftsführer Christian Seifert in der vergangenen Woche. Die Situation fühle sich an "wie ein Science-Fiction-Film". Bis zur letzten Patrone hatte die DFL versucht, den überall in Europa schon vollzogen Shutdown zu ignorieren, um dann doch mit harten, aber endlich auch ehrlichen Aussagen klein beizugeben. "Wir müssen jetzt zugeben, wir stellen ein Produkt her", sagte Seifert. Man sei deshalb auf größtmögliche Einnahmen angewiesen. "Medienerträge, Sponsoren und Zuschauereinnahmen sind die größten Einnahmequellen der Klubs. Wenn sie das alles nicht mehr haben, wird es nur noch eine Weile gutgehen, aber nicht mehr lange." Das war offen und schonungslos und die Vertreter der Bundesliga und zweiten Liga sollten froh sein, einen wie Seifert auf der Kommandobrücke zu wissen, der als absoluter Profi gilt.
Finanzieller Schaden bis zu einer Milliarde bei Saisonabbruch
Aber auch Seifert wird die Krise nur moderieren können, an den Gegebenheiten gibt es derzeit nichts zu rütteln. Der Faktor "Personal Spielbetrieb", also die die Gehälter für Spieler, Trainer und Staff, verschlang in der vergangenen Bundesliga-Saison 1,43 Milliarden Euro, was mehr als ein Drittel der Gesamtausgaben der Klubs entsprach.
Die vierte Rate der Rechteinhaber steht noch aus und wird wohl nur bezahlt, wenn auch noch entsprechende Gegenleistungen der Liga kommen, sprich Spiele durchgeführt werden. Wird die Saison dagegen abgebrochen, steht ein finanzieller Schaden von 500 Millionen bis einer Milliarde Euro im Raum. Eine Versicherung dagegen gibt es nicht.
"Kein Verein wird in der Lage sein, eine seriöse Finanzierung sicherzustellen. Das ist wirtschaftlich der Tod", sagt Kind. Die Insolvenzgefahr für zahlreiche Klubs der ersten und zweiten Liga ist so real wie noch nie. Sportökonomen sähen sogar mehr als Dreiviertel der Klubs mit so gravierenden Problemen konfrontiert, dass eine Insolvenz im Raum stünde. Übrigens geht auch der Deutsche Fußball-Bund mittlerweile von hohen Verlusten aus. "In einem Worst-Case-Szenario wird uns Corona für das Wirtschaftsjahr 2020 einen Verlust von 50 Millionen Euro bringen", sagte DFB-Generalsekretär Friedrich Curtius dem Magazin "Sponsors".
Gesundheit, Wirtschaft, Gesellschaft, öffentliches Leben - der Fußball komme ganz zum Schluss, sagt der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit. Und das ist ja schon ein ziemlicher Kulturschock für den Fußball, der sich doch wie selbstverständlich immer ganz vorne sieht.
Coronavirus und der Fußball: Das sind mögliche Folgen
Womöglich führt die Pandemie zu einem zwangsweisen Umdenken. Erste positive Ansätze zeigt das Engagement einiger Profis, die auf Gehälter verzichten beziehungsweise damit schnell und sehr direkt und konkret Gutes tun. "#WekickCorona" ist eine Initiative, immer öfter steht ein vorübergehender Gehaltsverzicht der Spieler auf der Agenda. Dazu ist niemand vertraglich verpflichtet, aber als Zeichen ist das unabdingbar. Mit ein paar Tagen Verzögerung bewegt sich der Fußball in Deutschland nun in jene Richtung, die aus den großen Ligen Nordamerikas vorgegeben wurde, wo etwa in der NBA einzelne Spieler die Monatsgehälter aller Angestellten ihrer Klubs übernehmen.
Nachdem der DFB, die DFL und die große Zahl der Klubvertreter noch viel zu lange lamentierten und lediglich auf Zeit spielten, ihrer sozialen Verantwortung aber nicht gerecht werden wollten, findet derzeit ein Umdenken statt. "Demut" ist ein großes Wort, angesichts von rund 56.000 gefährdeten Jobs allein rund um den Profifußball sollte aber nichts anderes angebracht sein. Einlassungen wie jene von BVB-Boss Hans-Joachim Watzke haben mittlerweile keine Konjunktur mehr. "Wir sind Konkurrenten und ein Wirtschaftsunternehmen. Am Ende des Tages können nicht die Klubs, die die letzten Jahre gut gearbeitet haben, diejenigen belohnen, die es nicht getan haben", hatte Watzke vor ein paar Tagen in der Sportschau noch jeglichen Solidargedanken vermissen lassen. Auch hier hat Dortmunds Geschäftsführer in der Sache vielleicht Recht, der Zeitpunkt und die Darreichungsform seiner Worte hätten aber unpassender nicht sein können.
Salary Cap: Eine Diskussion wert?
Stattdessen stehen andere Dinge auf dem Prüfstand. Es ist völlig offen, ob und in welcher Form in diesem Sommer ein Transfermarkt geöffnet sein wird. Der "normale" Stichtag bleibt der 30. Juni, eine dreistellige Zahl an Spielerverträgen läuft dann aus. Was passiert mit diesen Spielern, mit den Verträgen? Darauf gibt es derzeit keine Antworten. Als gesichert gilt, dass sich der Markt in den kommenden Jahren herunterregeln wird.
"Der Transfermarkt wird in der Gesamtheit, und auch was den Umsatz betrifft, in diesem Sommer nicht die Dimensionen erreichen wie in den letzten zwei oder drei Jahren." Der Profifußball steuere nun in eine Situation, "wo wir uns kurzfristig, aber vielleicht auch mittelfristig auch mit weniger Einnahmen auseinandersetzen müssen". Das sagt Werder Bremens Geschäftsführer Frank Baumann. Mit weniger Geld im Kreislauf dürften sich ziemlich sicher auch die Gehälter der Protagonisten verkleinern, auch Beraterhonorare schrumpfen. Personalkosten, Transfersummen, Liquiditätsflüsse - all das wird sich ändern, der Markt wird sich normalisieren und angleichen müssen.
Die Debatten um eine Lockerung der 50+1-Regelung in Deutschland werden früher oder später aufflammen. Das leckgeschlagene System bietet nun wieder eine konkrete Angriffsfläche. Womöglich gehen Klubs schon bald neue Wege, die sich derer bisher verwehrt haben. Aus Tradition, aus Loyalität, oder auf Druck ihrer Mitglieder. Als eine Art doppelter Boden wird hinter den Kulissen schon über einen Solidarfonds in der Bundesliga diskutiert. Vielleicht ist auch eine Gehaltsobergrenze ein Mittel, der Salary Cap wird in den nordamerikanischen Profiligen schon lange praktiziert und hat sich bewährt. Allerdings sind die Franchise-Systeme dort nicht eins zu eins auf den Bundesliga-Fußball umzurechnen. Die grundsätzliche Idee wäre eine Debatte wert, aber dafür braucht es Zeit - und vor allen Dingen auch Planungssicherheit.
Der Fußball muss sich seiner sozialen Verantwortung bewusst und dieser auch gerecht werden. Sich immer nur abzuschotten, aus gesellschaftlichen Fragen rauszuhalten, passt längst nicht mehr zur Bedeutung und Popularität des Fußballs. Diese Wagenburg-Denke ist überholt. Vielleicht ist das wenigstens ein kleiner positiver Effekt, den die Krise bewirkt.