Außerdem verrät Gysi, wie sich sein Verhältnis zu Uli Hoeneß verändert hat und warum er von Union in seinen Zeiten als Anwalt gut leben konnte.
Herr Gysi, aktuellgibt es in Deutschland praktischkeinanderesThemamehrals das Coronavirus. Die DFL hat nun den Spielbetrieb erstmalunterbrochen, die EM wirdwohlabgesagt. Müsstenichtnochvielentschiedenergehandelt und die restliche Bundesliga-Saison jetztschon komplett abgesagt werden?
Gregor Gysi: Wahrscheinlich wird es nicht anders gehen. Auch wenn damit viele Probleme verbunden sind, aber der Fußball lebt ja nicht in einem eigenen Kosmos, auch wenn das manche glauben. Und wenn die Bedrohung durch die immer schnellere Verbreitung des Virus so groß ist, kann der Fußball nicht so tun, als ob ihn das nichts angeht.
Wie gehen Sie persönlich mit der Lage um? Reisen Sie nicht mehr?
Gysi: Ich bin kein ängstlicher Mensch, weil mir die Fantasie fehlt, mir auszumalen, was alles passieren kann. Doch inzwischen werden immer mehr Veranstaltungen abgesagt, wofür ich Verständnis habe. Das reduziert automatisch auch meine Fahrten durch das Land.
Eigentlich wollten wir ja vor allem über Union sprechen. Wie ist Ihre Liebe zu Union entstanden?
Gysi: Ich bin in Berlin-Johannisthal aufgewachsen, nicht weit entfernt von der Alten Försterei. Alleine dadurch war ich schon auf Seiten von Union.
Um kurz einzuhaken: Haben Sie auch selbst gespielt?
Gysi: Ja, ich war Torwart. Die Position des Torhüters hat mich schon immer fasziniert. Die meiste Zeit stehen sie nur herum, aber dann kommt es doch ganz entscheidend auf sie an. Und wenn sie ein Tor bekommen, pfeifen sie die Verteidiger zusammen. Torhüter sind wie Schlagzeuger im Orchester - eine ganz besondere Spezies. Ich wollte in der Schule alleine deshalb immer ins Tor, weil ich zu faul war, die ganze Zeit hin und her zu rennen. Das Problem war nur, dass ich ja etwas kurz geraten bin und schauen musste, wie ich an die Latte komme. (lacht) Aber so schlecht war ich gar nicht, ich durfte immer im Tor bleiben und wurde nicht rausgenommen.
© imago images
Gregor Gysi: "Ich konnte als Anwalt von Union leben"
Aber zurück zu Union.
Gysi: Ich habe mich auch in den Klub verliebt, weil er zwar nie ganz vorne gelandet ist, aber mit so einer komischen Art Fußball spielte. Und Union war der frechste Klub in der DDR. In der DDR gab es eine Regel, dass Vorbestrafte nicht mitspielen durften. Union hat das aber nicht interessiert. Union hat mir damals auch beruflich geholfen. Ich konnte als Anwalt von Union leben, weil sie mir regelmäßig neue Mandanten beschert haben. (lacht) Die saßen in der Untersuchungshaft in Rummelsburg. Wenn ich mit ihnen zu tun hatte, konnte ich ihre unvergleichliche Bindung zu Union spüren. Ich habe dem Gericht dann immer erklärt, dass sie einfach eine so große Leidenschaft haben und man da eben leicht mal durchdreht, gerade wenn man jung ist. In der Regel habe ich sie relativ schnell wieder rausbekommen.
Stimmt es, dass Sie quasi durch die Gefägnissstrafe für Uli Hoeneß ein anderes Verhältnis zu ihm bekommen haben?
Gysi: Das ist richtig. Uli Hoeneß und Franz Beckenbauer mochten mich aus offensichtlichen Gründen natürlich nicht, aber dann ist etwas passiert. Zu der Zeit, als das Ermittlungsverfahren gegen Herrn Hoeneß lief, habe ich ihn im Stadion gesehen, wie niemand mehr mit ihm gesprochen hat. So etwas kann ich nicht leiden. Ich habe mich dann ausführlich mit ihm unterhalten und so haben wir uns ganz anders kennengelernt. Seitdem pflegen wir einen guten Umgang miteinander.
Was man von der Hertha und Union nicht wirklich sagen kann.
Gysi: Leider nicht. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, als es gute Beziehungen zwischen den Klubs gab, aber diese sind leider zerbrochen. Das bedauere ich. Ich habe persönlich nichts gegen die Hertha, aber mir hat es gar nicht gefallen, als in der Hinrunde beim Derby die Feuerwerkskörper abgeschossen wurden. In der Misere spiegelt sich auch das Ost-West-Verhältnis in Berlin wider, das leider nicht Schritt für Schritt besser geworden ist. Es gibt eine Spannung, gar nicht mal so sehr bei der jüngeren Generation, aber sie hat sich auf diese übertragen. Man müsste sich überlegen, ob man vielleicht einen Vermittler einschalten könnte. Im Kern sind sich beide Vereine ja einig: Die sportliche Rivalität darf und soll natürlich bleiben, aber wir müssen wieder einen halbwegs vernünftigen Umgang miteinander hinbekommen. Bestimmte Sachen dürfen einfach nicht mehr passieren, da muss man auf einen gemeinsamen Nenner kommen mit den Fans.
© imago images
Gregor Gysi: "Bei Union würde auch kein Fan abspringen, selbst wenn wir in der achten Liga spielen würden"
Aktuell ist Union ja der erfolgreichere Klub in der Stadt. Und die Hertha war nach der Episode mit Jürgen Klinsmann völlig im Chaos.
Gysi: Das kann man wohl so sagen. Ich bin ja jetzt 72 Jahr alt und damit weise. Ab 70 darf man sich als weise bezeichnen, vorher allenfalls als klug und intelligent. (lacht) Ich habe gelernt: Wenn einmal Mist in einer Geschichte drin ist, dann hört das so schnell nicht mehr auf. Genau so war es bei Klinsmann, der dann einfach abgehauen ist. Das war natürlich keine große Leistung von ihm.
Die Hertha hat mit Lars Windhorst jetzt einen Investor im Rücken. Stichwort: Big City Club. Genau das, was gerade Union-Fans verabscheuen. Wie schauen Sie generell auf die Über-Kommerzialisierung im Fußball?
Gysi: Natürlich schaut man als Union-Anhänger mit Unverständnis darauf. Es gibt Klubs in Deutschland, die eben nicht aus eigener Kraft an die Spitze gekommen sind, sondern dank eines einzelnen Geldgebers. Union ist auch deshalb so ein besonderer Klub, weil seine Anhänger am liebsten alles selbst aufbauen. So wie wir es beim Stadion gesehen haben. Bei Union würde auch kein Fan abspringen, selbst wenn wir in der achten Liga spielen würden. Es würde bei Union auch keine Pfiffe gegen die eigene Mannschaft geben. Und man könnte niemals Union von der Alten Försterei in ein anderes Stadion verpflanzen. Das ist eine andere Mentalität. Klar tun wir uns dann schwer, in einer Liga mitzuspielen, in der du nunmal Geld brauchst. Wir müssen alle akzeptieren, dass wir jetzt in einer kapitalistischen Welt leben.
Also lohnt es sich auch nicht mehr, sich darüber aufzuregen.
Gysi: Nur begrenzt. Vieles müssen wir einfach akzeptieren. Wir sollten uns nur Aufgaben stellen, die wir auch bewerkstelligen können. Zu glauben, wir können den Fußball entkommerzialisieren, ergibt wenig Sinn. So romantisch der Gedanke auch wäre.
Aber die Fan-Proteste der letzten Zeit mit Dietmar Hopp als Symbolfigur haben gezeigt, wie unglaublich groß die Kluft zwischen beiden Seiten ist. Was ist Ihre größte Lehre, wenn Sie sich angeschaut haben, was da alles passiert ist? Wie undifferenziert da vor allem geurteilt wurde.
Gysi: Die Geisterspiele haben noch einmal deutlich gemacht, dass der Fußball ohne Fans nicht mehr die schönste, sondern einfach nur noch eine Nebensache ist. Deshalb muss der Dialog zwischen Verband, Vereinen und Fans wieder aufgenommen werden und zwar so, dass niemand von vornherein suggeriert, am längeren Hebel zu sitzen.
Es betrifft ja auch nicht nur den Fußball. Auch die Olympischen Spiele haben selbst für die Athleten einiges an Zauber verloren.
Gysi: Ohne Frage, auch Olympia wurde so sehr kommerzialisiert, dass es seinen Charakter verliert. Deshalb verstehe ich auch, warum viele Menschen in Deutschland zuletzt ablehnend einer Bewerbung gegenüberstanden. Die Menschen haben Sorge, dass Olympia in ihre Stadt kommt und ihr Leben beeinträchtigt wird. Dass Busse und Bahn wegen der Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr fahren. Aber wenn wir Olympia nicht abschaffen wollen, und das will ich nicht, müssen wir uns entscheiden. Wir können uns nicht über die Austragungsorte beschweren und gleichzeitig ablehnen, es bei uns stattfinden zu lassen. Ich bin ein großer Fan der Olympischen Spiele. Wenn Olympia läuft, schaue ich mir sogar Bogenschießen an, das würde ich sonst natürlich niemals machen. Man müsste es schaffen, Olympia zu einem Höhepunkt für die ganze Bevölkerung zu machen, nicht nur für den betuchten Teil. Dann würde es auch wieder Mehrheiten für eine Bewerbung geben. Persönlich würde ich mir wünschen, dass Olympia nochmal nach Berlin kommt. Alleine deshalb, weil ich Olympia in Berlin nicht mehr mit einem Bild von Adolf Hitler verbinden will.
© imago images
Gregor Gysi erzählt eine Anekdote aus Kairo
Bevor das Coronavirus über die Welt hereingebrochen ist, haben wir uns alle zurecht viel über Rassismus unterhalten, den wir auch im Fußball in diesem Jahr wieder erleben mussten, wir denken zum Beispiel an Jordan Torunarigha von der Hertha. Wen sehen Sie hier in der Verantwortung, um dem mit voller Stärke entgegenzuwirken?
Gysi: Ganz ehrlich: Uns alle. Das gilt in der Politik von der Linken bis zur CSU, das betrifft die Sportvereine, die Gewerkschaften, die Kirchen, die Wirtschaft, die Wissenschaft, Kunst und Kultur und vor allem auch die Medien - es ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag, den wir haben. In Zeiten, in denen der nationale Egoismus so viel Macht gewonnen hat. Wir denken an Leute wie Trump, Erdogan oder Orban. Nationaler Egoismus erzeugt immer Nationalismus und Rassismus. Und die Medien spielen da eine wichtige Rolle. Ich kann ihnen dazu eine Geschichte erzählen.
Bitte.
Gysi: Ich war in Kairo. Zusammen mit drei Leuten vom BKA, einem Mitarbeiter von mir und einem Dolmetscher. Wir waren zu sechst. Zu der Zeit war gerade Ramadan, sie mussten dort bis zum Sonnenuntergang warten, bis sie etwas essen konnten. Wir sind dann an vielen Tischen vorbei gegangen und an jedem einzelnen Tisch hat uns der Tisch-Herr gefragt, ob wir uns nicht setzen und gemeinsam mit ihnen essen wollen. Wann hat denn in Deutschland das letzte Mal einer das Fenster aufgemacht und sechs Ägypter zum Essen eingeladen? Ja, es entspricht nicht unserer Kultur, aber darum geht es nicht. Es geht darum, ein starkes Bild zu transportieren. Völker und Menschen näherzubringen, anders entsteht keine Zuneigung und keine Solidarität. Ich habe mit einem Journalisten darüber gesprochen und er meinte zu mir, dass das keine Nachricht sei. Vielleicht ist es aber zur Zeit die Hauptnachricht, darüber sollten wir mal nachdenken.
© imago images
Gregor Gysi: "Mich hätte die Fraktion wahrscheinlich auch noch mit 90 gewählt"
Positiv ist zu erwähnen, dass wir es jetzt schon gesehen haben, dass Fans aufstehen und sich aktiv gegen rassistische Äußerungen zur Wehr setzen. Auch Fußballer wie Leon Goretzka positionieren sich deutlich. Müsste da noch mehr kommen?
Gysi: Definitiv. Wir müssen alle unduldsamer werden gegenüber diesen schizophrenen Menschen, die einen farbigen Spieler in ihrer Mannschaft anfeuern, ihn in der gegnerischen Mannschaft aber wegen seiner Hautfarbe diskriminieren. Das hat auch nichts mit Denunziation zu tun. Diese Leute müssen merken, dass sie in den Reihen ihrer eigenen Fans auf totale Ablehnung stoßen. Das ist wichtig. Dann halten sie sich als Reaktion wenigstens zurück, oder es wird vielleicht tatsächlich ein Prozess des Umdenkens in Gang gesetzt.
Leon Goretzka im Interview: "Im KZ habe ich angefangen zu weinen"
Und die Rolle der Sportler selbst?
Gysi: Wir sollten nicht verlangen, dass ein Fußballer zu allen Themen Stellung nehmen muss. Aber dort, wo Grenzen klar überschritten werden, müssen sie sich meiner Meinung nach auch hinstellen und schützend vor einen Mitspieler stellen. Wenn Stars, die bei den Fans sehr beliebt sind, sich klar positionieren, hat das eine Wirkung, die nicht zu unterschätzen ist.
Letzte Frage: Sie waren so lange an vorderster Front in der Politik und sind dem Fußball so eng verbunden. Erkennen Sie manchmal Parallelen?
Gysi: Parallelen und Unterschiede. Der größte Unterschied ist, dass eine Karriere im Fußball zeitlich begrenzt ist. In der Politik werden die Leute ja uralt und können nicht aufhören, wie wir es vielfach gesehen haben. Mich hätte die Fraktion wahrscheinlich auch noch mit 90 gewählt. Wahrscheinlich hätte ich nur noch Unsinn erzählt und viele hätten es gemerkt, aber ich ja nicht. (lacht) Deshalb war es mir so wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, an dem ich mich verabschiede und an die nächste Generation übergebe. Dass es vielen extrem schwerfällt, den Absprung rechtzeitig zu schaffen, ist glaube ich auf jeden Fall eine Parallele zwischen der Politik und dem Fußball.