Marty Blake blickte entschlossen in die Kamera. "Dieser Draft ist extrem gut besetzt. Es passiert nicht oft, dass sechs potenzielle Superstars teilnehmen", klärte der damalige Draft-Guru und schier allwissende Superscout das größtenteils ahnungslose oder desinteressierte Fernsehpublikum auf, als am Nachmittag des 19. Juni 1984 die TV-Übertragung des NBA Drafts begann.

Wenige Tage zuvor hatte die NBA eines der besten Finals der Geschichte erlebt. Über sieben Spiele hatten sich die Celtics um Larry Bird und die Lakers mit Magic Johnson eine wahre Schlacht geliefert. Da passte es nur gut, dass der bevorstehende Draft als einer mit sehr viel Potenzial galt.

David Stern: "Mussten für Übertragung zahlen"

Diese Tatsache bedeutete aber nicht, dass deswegen besonders großes Interesse an der Veranstaltung bestand. In der NBA anno 1984 war der Draft ein unscheinbares Ereignis. "Wir mussten USA Network bezahlen, damit der Draft überhaupt im Fernsehen übertragen wurde. So schwer war es damals, überhaupt Zuschauer für die Veranstaltung zu gewinnen", erklärte David Stern später.

Als der zu dieser Zeit frisch ins Amt gewählte Commissioner nach seinem ersten durchgeführten Draft die Bühne in New York City verließ, wird er höchstens erahnt haben, dass dieser Abend die Geschichte und Struktur der National Basketball Association wohl so sehr beeinflusst hatte wie kaum ein anderes Ereignis in der Historie der Liga.

Mit Hakeem (damals noch Akeem) Olajuwon, Michael Jordan, Charles Barkley und John Stockton hatte er kurz zuvor nicht nur vier zukünftigen Mitgliedern der Basketball Hall of Fame den Weg in die Liga geebnet, sondern auch jene Gesichter entdeckt, welche die NBA im Zuge von Sterns Globalisierungsprozessen auf der ganzen Welt berühmt machen sollten.

Mittlerweile ist die Veranstaltung ein mediales Großereignis, die Top-Picks bereits zuvor landesweit bekannt, die Hoffnungen und Erwartungen riesig. Das alles hat seinen Ursprung in diesem unscheinbaren Juni-Nachmittag vor 36 Jahren. Dabei begann alles mit einem Traum. Back in the summer of '84 ...

With the first pick, the Houston Rockets select Akeem Olajuwon from the Houston University ...

Bereits weit vor diesem Draft-Nachmittag ist völlig klar, wer an erster Stelle direkt gen Texas geschickt wird. Der Nigerianer Akeem "The Dream" Olajuwon hielt erst mit 16 Jahren seinen ersten Basketball in der Hand, ein paar Jahre später nahm der 213 Zentimeter große Afrikaner aber bereits die halbe NCAA auseinander. Der Center vereint Größe und Defense mit riesigem Potenzial und einer nie dagewesenen Fußarbeit. Kurzum: Olajuwon ist der absolute Traum eines jeden Scouts.

Aus diesem Grund begannen die talentierten Houston Rockets, die einen Monat vor Ende der Saison noch weit vor den abgrundtief schwachen San Diego Clippers lagen, plötzlich zu verlieren, so dass sie am Ende auf dem letzten Platz der Western Conference standen. In der Liga spricht man von einem neuen Phänomen, dem sogenannten Tanking, das Houston erst in eine derart luxuriöse Lage gebracht hat.

Geburtsstunde des Tankings

Ein Team regt sich ganz besonders über die Niederlagenserie der Rockets auf: Die Philadelphia 76ers halten die Rechte am Draft-Pick der Clippers und hätten bei normalem Saisonverlauf anstelle der Rockets am Münzwurf teilgenommen, der in diesem Jahr zum letzten Mal durchgeführt werden sollte.

Es kam alles anders, die Rockets entschieden den Coin Flip gegen Portland zum zweiten Mal in Folge für sich. So macht sich Euphorie breit in den Gesichtern der Rockets-Verantwortlichen, als ein kleiner Mann mit Schnauzbart die Bühne emporsteigt und erstmals als Commissioner in Erscheinung tritt.

Dass Olajuwon dann an erster Stelle genannt wird, ist in etwa so überraschend wie ein getroffener Jumper von Larry Bird. Schon als Houston den Münzwurf gewann, riss der anwesende Rockets-Broadcaster Jim Foley sein Jackett auf und präsentierte ein T-Shirt mit der Aufschrift "Akeem". Owner Charles Thomas jedenfalls hatte bereits kurz darauf bestätigt: "Ja, Akeem wird unser Pick".

Rockets verzichten auf Wunder-Trio

Der Center bringt alles mit, um die NBA in den kommenden Jahren zu dominieren. Nun ziehen die Rockets also folgerichtig den Lokalhelden, der bereits für die Houston University brillierte. Stern scheint nicht erstaunt zu sein, als er seinen ersten Handschlag an den Nigerianer verteilt.

Viel interessanter ist aber, was zu dieser Zeit hinter den Kulissen vor sich geht. Die Rockets hatten bereits im Jahr zuvor mit dem ersten Pick Center Ralph Sampson gezogen, der gleich eine starke Rookie-Saison aufs Parkett zauberte. Sowohl die im Draft folgenden Blazers wie auch die Bulls sind scharf auf Sampson. Die Rockets sind zu diesem Zeitpunkt kurz davor, den Rookie of the Year an Portland abzugeben, um im Gegenzug den zweiten Pick und einen gewissen Clyde Drexler von den Blazers zu erhalten.

Der Trade scheitert in letzter Sekunde und die Rockets verpassen die Chance auf ein Trio bestehend aus Olajuwon, Drexler und Michael Jordan. Denn eines ist sicher: Houston hätte an zweiter Stelle Jordan gezogen. So nimmt allerdings alles seinen Lauf...

With the second pick Portland selects Sam Bowie from the University of Kentucky ...

Portland steht nun vor der Entscheidung zwischen Shooting Guard Michael Jordan , dem College Player of the Year, der die UNC Tar Heels zum NCAA-Championship 1982 geworfen hatte und bei den Tryouts für das US-Olympiateam '84 überragte, oder Center Sam Bowie, der zwar Potenzial besaß, wegen einer Stressfraktur im Fuß aber ganze zwei Saisons am College verletzt aussetzen musste.

Bob Knight, Trainer von Team USA, in dessen Trainingscamp Jordan sich an diesem Nachmittag befindet, hatte Blazers-GM Stu Inman vor dem Draft noch wärmstens zu Jordan geraten. Auf den Hinweis von Inman, dass man aber Clyde Drexler als Shooting Guard habe und einen Center suche, meinte Knight nur: "Dann stell Jordan halt als Center auf."

Der Nationalcoach ist angetan, das spärliche Publikum in New York will Jordan an zweiter Stelle sehen und so gut wie jeder Experte scheint überzeugt zu sein, dass Jordan nicht nur das größere Talent ist, sondern das Potenzial zum globalen Superstar besitzt.

Noch bevor er ein NBA-Spiel bestritten hatte, entwarf Nike eine komplette Sneaker-Reihe nur für den College-Star. Der Firmenstandort von Nike? Portland.

Portland zieht Sam Bowie vor Michael Jordan

Trotz aller Vorzeichen sind die Trail Blazers aber fixiert darauf, einen Center zu ziehen. Und so lässt der sichtlich nervöse neue NBA-Chef Stern, der beim zweiten Pick glatt vergisst, den Teamnamen der Franchise aus Portland auszusprechen, den Namen Sam Bowie erklingen.

In der NBA der 80er-Jahre gilt: "Never take a flea if you can take a giant". Heißt: Im Zweifel immer die großen Jungs nehmen. Doch was ist mit Bowies Verletzungsanfälligkeit? Der Big Man erklärt umgehend im Interview auf der Bühne: "Ich war bereits in Portland und sie haben mich einem sieben Stunden andauernden ärztlichen Test unterzogen. Sie haben nichts ausgelassen und ich habe alles zu 100 Prozent bestanden."

Mickrige sieben Stunden, um darüber zu urteilen, ob der so wichtige zweite Pick wirklich fit ist - unfassbar. Derweil macht sich am Schreibtisch der Chicago Bulls beinahe Partystimmung breit, Freudenstrahlen in den Gesichtern der Verantwortlichen...

Die College-Statistiken von Michael Jordan und Sam Bowie 83/84

Spieler Spiele Punkte FG% Rebounds Assists Jordan 31 19,6 55,1 5,3 2,1 Bowie 34 10,5 51,6 9,2 1,9

With the third pick the Chicago Bulls pick Michael Jordan from the University of North Carolina ...

Während Bowie noch vom Publikum ausgebuht wird und die Kommentatoren zurückhaltend von einem "kalkulierbaren Risiko und einem Spieler mit Durchhaltevermögen" sprechen, herrscht bei Jordans Namensnennung nun pure Begeisterung. Das Publikum jubelt, die Kommentatoren in New York sprechen von einem "großartigen Spieler, einer sicheren Sache und dem legitimen Nachfolger von Julius Erving."

Jordan selbst erlebt seine Wahl gar nicht live. Er weilt mit Team USA im Trainingscamp in Bloomington und hat schon zuvor betont, dass er mit Sicherheit nicht das Training abbrechen würde, nur um dem Draft beizuwohnen. Warum auch?

Rod Thorn, General Manager der Bulls, äußert sich nach dem Pick jedenfalls zurückhaltend und meint nur: "Wir würden uns wünschen, Michael wäre größer als 2,10 Meter. Es war einfach kein vernünftiger Center mehr da. Jordan wird diese Franchise nicht alleine umkrempeln und nach vorne bringen, das verlange ich auch nicht."

Alles andere wäre wohl auch eine zu große Herausforderung für einen Shooting Guard, der in seiner Collegekarriere für die Tar Heels gerade einmal 17,7 Punkte im Schnitt erzielt hat. Und so geht es weiter...

With the fifth pick the Philadelphia 76ers select Charles Barkley from Auburn University ...

An vierter Stelle entscheiden sich die Dallas Mavericks für eine vermeintlich sichere Sache und nehmen Power Forward Sam Perkins, Jordans kongenialen Teamkollegen bei den Tar Heels. Beim Aufrufen des fünften Picks kommt aber wieder Unruhe in die Veranstaltung. Philly holt sich einen kleinen, untersetzten Power Forward mit dem Herzen eines Stieres: Charles Barkley . Dessen berühmtestes Zitat am College soll Folgendes gewesen sein: "Ich esse gar nicht so viel, dafür aber die ganze Zeit."

Ein übergewichtiger Power Forward, der nicht einmal zwei Meter groß ist? Barkley scheint ein noch riskanterer Zug zu sein als Bowie an zweiter Position. Immerhin sind die 76ers auch ohne den gar nicht einmal so großen Big Man gut aufgestellt.

Die wenigen Draftniks vor Ort überschlagen sich trotzdem vor Begeisterung. Barkley ist ein Spieler genau nach ihren Vorstellungen: Clever, offensivstark, spektakulär und mit unbändigem Willen ausgestattet. Die Sixers müssen sich ohnehin mit ihrem Schicksal abfinden, nachdem Plan A (Olajuwon) wie auch Plan B (Jordan) bereits am Ende der Saison das Klo heruntergespült wurden.

Philadelphias General Manager Pat Williams meint nur: "Charles ist gerade mal 1,95 Meter groß, aber 130 Kilogramm schwer. Trotzdem ist er ein unfassbarer Rebounder und unglaublich stark im Fastbreak. So einen wie ihn hat es noch nie gegeben. Ich werde ihm allerdings sofort sagen, dass er sich ausgewogener ernähren muss. Ein Big Mac in jeder Hand ist jedenfalls nicht die richtige Art von ausgewogen."

© GEPA

With the sixteenth pick the Utah Jazz select John Stockton from Gonzaga University ...

Es geht zügig voran. Der Wirbel um Jordan, Bowie und Co. ist verflogen. Mit Alvin Robertson, Otis Thorpe und Kevin Willis begrüßt Commissioner Stern drei weitere Spieler in der Liga, die später einmal All-Stars werden sollten, ehe Utah an Position 16 dran ist und einen gewissen John Stockton wählt.

Daraufhin herrscht einige Zeit Stille gefolgt von Gemurmel. Weder das Publikum vor Ort noch die Kommentatoren am Mikrofon haben irgendeine Information über diesen völlig überraschenden Pick. "Viel weiß man nicht über Stockton. Mit Green und Griffith haben die Jazz schon einen guten Backcourt. Anscheinend geht GM Frank Layden hier auf Risiko", erläutert Kommentator Al Albert im Anschluss an den Pick.

Stockton ist nicht einmal in New York anwesend und verfolgt die Übertragung stattdessen vor seinem eigenen Fernseher. Niemand kann sich ein Bild von ihm machen, vor Ort ist man sich sicher, dass Utah den eigenen Pick verschwendet hat.

Stockton selbst muss daheim ein wenig lachen. "Das Beste an diesem Draft war, den ahnungslosen Kommentatoren dabei zuzusehen, wie sie durch ihre Notizen gingen, um irgendetwas über mich zu finden", wird der Point Guard aus Spokane, der sich später zum All-Time Leader bei den Assists und Steals aufschwingen soll, einmal sagen. Kurz darauf ist die erste Runde vorbei und die Fernsehübertragung wird beendet.

With the 131st pick the New Jersey Nets select Oscar Schmidt from Juventus Caserta ...

Kein Mensch interessiert sich mehr für den weiteren Draft und deshalb wird niemand es bemerkt haben, dass die New Jersey Nets in der sechsten Runde einen Spieler ziehen, der 30 Jahre später einen festen Platz in der Basketball Hall of Fame haben wird, ohne je ein NBA-Spiel bestritten zu haben.

Mit dem 131. Pick sichern sich die Nets die Rechte am Brasilianer Oscar Schmidt, der zum Zeitpunkt des Drafts bereits 26 Jahre alt ist und bei den anschließenden Olympischen Spielen in Los Angeles 24,1 Punkte im Schnitt auflegt. Schmidt darf bei den Nets vorspielen und erhält nach starken Leistungen ein Vertragsangebot, das er allerdings ausschlägt, damit er weiter für Brasiliens Nationalteam spielen kann.

Das klappt ganz gut. Bei Olympia 1988 in Seoul legt er durchschnittlich 42,3 Punkte auf. Zudem erzielt der größte brasilianische Spieler aller Zeiten später in seiner Vereinskarriere insgesamt 49.703 Punkte und wird damit zum absoluten Rekordhalter im professionellen Basketball.

Noch als Basketballer-Rentner ist Schmidt beleidigt, 1984 erst in der sechsten Runde beachtet worden zu sein. Das lässt er bei der wohl witzigsten Hall of Fame Antrittsrede aller Zeiten raus.

Weitere Picks: Carl Lewis, Rick Carlisle und Co.

Kurz vor Schluss, in der zehnten und letzten Runde, wird dieser unvergessene Draft mit einem weiteren verrückten Pick abgerundet. Die Bulls sichern sich an 208. Stelle die Rechte an Carl Lewis, einem der größten Leichtathleten aller Zeiten. Natürlich bestritt der mehrfache Olympiasieger aber nie ein NBA-Spiel.

Es blieben bei weitem nicht die einzigen nennenswerten Picks. An zehnter Stelle beispielsweise kam Leon Wood in die NBA, der noch immer einer der besten Referees der Liga ist, an Position 70 zogen die Boston Celtics einen gewissen Rick Carlisle, der bekanntlich als Trainer mitverantwortlich für den einzigen Championship-Ring von Dirk Nowitzki war.

All das waren dann aber nur noch Randerscheinungen eines schönen Nachmittags im Juni 1984, an dem beinahe unbemerkt NBA-Geschichte geschrieben wurde.