Dieser Artikel erschien erstmals im März 2018.
So ziemlich jeder NBA-Fan hat schon einmal von den legendären 100 Punkten von Wilt Chamberlain gehört, gesehen haben es aber die Wenigsten. Wie auch, das Spiel wurde nicht im Fernsehen übertragen, es war nur ein einziger Fotograf anwesend. Es gibt lediglich kleinere Audioschnipsel vom Schlussviertel.
Im Nachhinein wirkt dies verwirrend, doch die NBA steckte im Jahr 1962 noch in den Kinderschuhen. College-Basketball dominierte, die NBA war von geringer Relevanz, sodass kein Mitglied der New Yorker Presse den Weg nach Hershey, Pennsylvania auf sich nahm. Dort absolvierten die Philadelphia Warriors zu dieser Zeit einige Spiele. Die Pressevertreter verfolgten lieber das Spring Training der Yankees und der im gleichen Jahr gegründeten Mets.
Der Gegner der Warriors, die New York Knicks, waren zu dieser Zeit das schlechteste Team der Liga mit einer Bilanz von 27-45. Auch Chamberlain schien dem Spiel nicht wirklich Bedeutung zu schenken. Er feierte am Abend zuvor lieber in New York mit einer Frau, die er um 6 Uhr in der Früh nach Hause brachte. Um 8 nahm er den Zug nach Philadelphia, um sich dann mit einigen Freunden ein ausgedehntes Katerfrühstück zu genehmigen.
Wilt Chamberlain: Eine Rekordnacht
Am Abend verloren sich nur offiziell 4.124 Seelen in die 8.000-Mann-Halle, die eigentlich für Eishockey gebaut wurde. Es wären wohl weniger gewesen, wenn nicht vorher die Football-Spieler der Philadelphia Eagles ein spaßiges Basketball-Spiel gegen die Baltimore Colts ausgetragen hätten.
Die, die gekommen waren, haben es sicher nicht bereut, sahen sie doch eine der verrücktesten Geschichten, die die Liga jemals produziert hat. Der verkaterte Wilt, der in dieser historischen Saison 1961/62 im Schnitt 50,4 Punkte erzielte, führte sein Team zu einem 169:147-Erfolg und knackte die 100 Punkte mit Statistiken, die heutzutage völlig absurd daherkommen.
The Big Dipper nahm insgesamt 63 Würfe (36 Treffer) und verwandelte 28 Freiwürfe bei 32 Versuchen. Dabei springen zwei Fakten ins Auge. Wilt war eigentlich ein historisch schlechter Werfer von der Linie mit mageren 51,1 Prozent, zwischenzeitlich versuchte er es auch mit dem Unterhandwurf, bevor er sich dann wieder dagegen entschied, weil der Wurf seiner Meinung nach nicht cool aussah.
Die Kuriosität erkannte auch Chamberlain selbst. "Ich bin der schlechteste Freiwerfer der Welt", gab der Center in seiner Autobiographie Wilt zu. "An diesem Abend traf ich 87,5 Prozent, das zeigt, dass jeder einmal Glück haben kann."
Der Boxscore der Starter der Warriors
Spieler MIN FG FGA FT FTA REB AST PTS Wilt Chamberlain 48 36 63 28 32 25 2 100 Guy Rodgers 48 1 4 9 12 7 20 11 Tom Meschery 40 7 12 2 2 7 3 16 Al Attles 34 8 8 1 1 5 6 17 Paul Arizin 31 7 18 2 2 5 4 16
Das 100-Punkte-Spiel verkam zu einer Farce
Dass Chamberlain überhaupt so viele Versuche bekam, hatte zwei Gründe. Die Mitspieler des Dippers foulten die Knicks im vierten Viertel ständig, damit sie den Ball zurückbekommen und Wilt seinen Rekord jagen konnte. Doch auch New York wollte sich nicht komplett demütigen lassen und foulte Chamberlain ebenfalls absichtlich, in der Hoffnung, dass Wilt an der Linie wie gewohnt verfehlen würde.
"Das Spiel war eine Farce", ätzte Knicks-Coach Eddie Donovan im Anschluss. "Sie foulten uns und dann haben wir sie gefoult." Warriors-Coach Frank McGuire wechselte sogar zum Schluss einige Backups ein, damit diese noch ein paar Fouls geben und Chamberlain den Ball servieren konnten. Interessant ist dabei, dass die Foulspielchen von Wilt in seiner Biografie überhaupt nicht erwähnt wurden. Stattdessen sprach der Rekordmann davon, dass die Knicks immer versuchten, die Shotclock herunterlaufen zu lassen, damit er nicht scoren könnte.
Dass Chamberlain überhaupt in die Position kam, dreistellig zu punkten, hatte auch mit dem Niveau der Liga zu tun. Wilt war eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit und überragte den Großteil seiner Gegenspieler um einen Kopf, auch die Center. Zudem spielten nur 37 afro-amerikanische Spieler in der NBA, die Bigs waren mit Ausnahme von Bill Russell meist weiß, hüftsteif und schon gar nicht athletisch.
Chamberlain: Kein Gegenspieler war ihm gewachsen
Die Knicks mussten zudem auf ihren startenden Center, Phil Jordon, verzichten. Offiziell wurde angegeben, dass er die Grippe hatte, doch sein Backup Darrall Imhoff gab später zu, dass Jordon einfach nur unglaublich verkatert war. Imhoff war mit 2,08 Metern recht groß gewachsen, hatte gegen Chamberlain aber auch keine Chance und spielte aufgrund von Foulproblemen nur 20 Minuten.
Imhoff erlangte zwar 1967 zwar All-Star-Ehren, legte 1962 aber nur 5,9 Punkte und 6,2 Rebounds auf. Angeblich soll er nach einem Foulpfiff gegen ihn Folgendes gesagt haben: "Warum geben wir ihm nicht einfach 100 Punkte und gehen alle nach Hause?" In der Folge wurde Imhoff vom noch kleineren Rookie Cleveland Buckner ersetzt.
Die Warriors gaben ihrem Star also immer brav den Spalding, der dann in der damals noch kleineren Zone (sie wurde 1964 wegen Wilt vergrößert und verbreitert) seine Gegenspieler folterte. 63 Wurfversuche sind bis heute unerreicht, nicht einmal Michael Jordan nahm in einem Spiel mehr als 49 Würfe. Zum Vergleich: Bei seinem abstrusen Abschiedsspiel ballerte Kobe Bryant 50 Mal für 60 Punkte auf den Korb. Die Black Mamba ist mit 81 Zählern im Jahr 2006 gegen die Toronto Raptors auch derjenige Spieler, der Wilts Punkterekord am nächsten kam.
100 Punkte von Chamberlain: Medien reagieren verhalten
"Meine Mitspieler wollten es so", berichtete Chamberlain später. "Sie gaben mir immer wieder den Ball, obwohl sie völlig freie Würfe hatten. Ich denke, ich habe wirklich zu viel geworfen, vor allem im vierten Viertel, als jeder wollte, dass ich 100 Punkte mache." Ein solches Verhalten in der heutigen Zeit? Undenkbar.
Ebenfalls unvorstellbar war dann, wie die Medien diesen Meilenstein auffassten. In Philadelphia gab es kleinere Hinweise auf den Titelblättern der lokalen Zeitungen, die Philadelphia Daily News hatte es gar nicht auf dem Cover, den New Yorker Medien reichte der Agenturbericht. Die Vereinigten Staaten konnten sich zu dieser Zeit eben nicht mit einem schwarzen Sportler identifizieren, der dazu auch noch zwei Köpfe größer als der Durchschnittsbürger war.
Außerdem schienen die Leute ein wenig müde von Wilt geworden zu sein, da dieser die Liga in dieser Saison völlig auseinander genommen hatte. "Es war nur eine Frage der Zeit", erklärte Mitspieler Al Attles. "Wir haben alle nur darauf gewartet." Ganz und gar nicht glücklich waren dagegen die Knicks, die Chamberlain später als unsportlich bezeichneten.
Standing Ovations für 58 Punkte
Spieler Richie Guerin stellte die These auf, dass Chamberlain nur 85 Punkte gemacht hätte, wenn das Spiel normal zu Ende gegangen wäre, Wilt konterte und sagte, dass er den Knicks 140 Punkte eingeschenkt hätte, wenn diese "aufrichtigen Basketball" gespielt hätten. So oder so: Wir werden es nie herausfinden, auch wegen der fehlenden Bilder, die Chamberlains Leistung einen mystischen Anstrich verpassten.
Zwei Tage später trafen die beiden Teams übrigens im Madison Square Garden wieder aufeinander und Imhoff musste sich wieder gegen Wilt behaupten. Die Warriors gewannen mit 129:128, Chamberlain erzielte "nur" 58 Punkte. Imhoff wurde mit stehenden Ovationen vom Publikum verabschiedet.