Goretzka spricht über das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, seine Tränen im Konzentrationslager Dachau, seine große Sorge ob des Wählerzuwachses der AfD - und Momente, in denen ein Gemeinschaftsgefühl beim Kampf gegen Rechts aufkommt.

Herr Goretzka, die Fans des FC Bayern München haben beim Heimspiel gegen den FC Schalke 04 anlässlich des 75. Jubiläums der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz eine Choreografie zu Ehren von Hugo Railing gezeigt, einem jüdischen Bayern-Mitglied, das dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallen ist. Sie selbst riefen bei Twitter dazu auf, dem offiziellen Account der Gedenkstätte zu folgen. Wie wichtig ist diese Erinnerungsarbeit?

Leon Goretzka: So etwas wie damals darf sich nicht wiederholen in unserer Geschichte. Daher ist es wichtig, dass diesem Thema Aufmerksamkeit geschenkt und immer wieder Erinnerung geschaffen wird. Insofern bin ich dankbar für jede einzelne Aktion wie diese Choreo. Sowohl die Fans als auch wir Spieler haben in dieser Hinsicht eine große Verantwortung. Fritz Walter hat mal gesagt, dass alle Nationalspieler Außenminister in kurzen Hosen sind. Den Spruch finde ich sehr gut. Wir Spieler sollten die große Aufmerksamkeit, die wir bekommen, nutzen, um für solche Themen zu sensibilisieren.

Wird das ausreichend gemacht?

Goretzka: Wenn ich mir die aktuellen Tendenzen anschaue: wohl eher nicht.

Sie äußern sich öffentlich sehr deutlich zu Themen abseits des Fußballs. Warum?

Goretzka: Ich kann meine Reichweite dazu nutzen, um eine gewisse Haltung zu vermitteln, sie im Optimalfall an junge Fußballfans weitergeben und so als Vorbild agieren. So kann ich meinen Teil dazu beitragen.

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Leon Goretzka über Reaktionen aus den sozialen Medien

Würden Sie anderen Fußballprofis also dazu raten, sich ebenfalls klar zu positionieren?

Goretzka: Ich würde sogar dazu aufrufen.

Haben Sie Vorbilder, die Sie inspiriert haben, öffentlich Haltung zu zeigen?

Goretzka: Neben dem erwähnten Fritz Walter alle Spieler, die sich im Rahmen der No-to-Racism-Kampagnen engagieren. Zudem die Kapitänin der US-Nationalmannschaft Megan Rapinoe. Sie hat sich super klar zu politischen und gesellschaftspolitischen Themen positioniert.

Haben Sie schon mal eine Aussage bereut, die Sie öffentlich getätigt haben?

Goretzka: Ich habe sicher schon viel Mist vor der Kamera erzählt - aber was dieses Thema angeht nicht.

Wie fielen die Reaktionen auf Ihren Tweet zum Auschwitz-Gedenktag aus?

Goretzka: Am intensivsten erreicht mich das Feedback aus meinem direkten Umfeld und das war durchweg positiv. Ich habe aber generell das Gefühl, dass sich die Gesellschaft darüber freut, wenn sich Leute aus dem öffentlichen Leben positionieren und dabei authentisch sind. In den sozialen Medien gehört es dazu, dass man für so etwas auch einen Shitstorm bekommen kann. Wie man damit umgeht, ist eine Frage der Einordnung.

Wie ordnen Sie das ein?

Goretzka: Man erkennt sehr schnell, ob sich jemand wirklich Gedanken macht und objektiv Kritik übt, oder ob es nur persönliche Beleidigungen sind.

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Leon Goretzka: "Im KZ habe ich angefangen zu weinen"

Lesen Sie alle Rückmeldungen auf Ihre Beiträge in den sozialen Medien?

Goretzka: Das ist schwer machbar. Vor allem, weil ich nicht zu viel Zeit in den sozialen Medien verbringen möchte. Wenn man dort aber auch mal Lob für sein Engagement liest, dann bestärkt einen das darin, weiterzumachen.

Zurück zum Thema Nationalsozialismus. Wann haben Sie sich erstmals mit diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte auseinandergesetzt?

Goretzka: In der Schule. Wenn ich mich an meinen Geschichtsunterricht erinnere, finde ich aber, dass man den noch attraktiver hätte gestalten können. Zum Beispiel durch den direkten Kontakt zu Leuten, die das miterlebt haben, oder mit Filmen und Dokus, die es ja zuhauf gibt. Oft kommt die Dramatik bei vielen nicht an. Auch ich konnte im Unterricht kein richtiges Gefühl dafür entwickeln. Das ist mir erst später richtig bewusst geworden.

Haben Sie sich also privat auf Eigeninitiative informiert?

Goretzka: Ich habe mir viele Dokus angeschaut und Interviews mit Betroffenen gelesen. Da bekomme ich jedes Mal nach kürzester Zeit eine Gänsehaut und ein ganz anderes Gefühl dafür, wie das damals gewesen sein muss. Das hat einen viel größeren Lerneffekt.

Waren Sie schon mal in einem Konzentrationslager?

Goretzka: Mit zwölf oder 13 Jahren war ich mit meinem Vater und der Familie eines Freundes im Konzentrationslager Dachau. Auf einmal war alles real. Ich habe Bilder an den Wänden gesehen und bin dann in den Hof gelaufen, wo ich gewisse Orte von den Bildern wiedererkannt habe. In dem Moment habe ich angefangen zu weinen, weil mich alles überkommen hat. Der Besuch eines Konzentrationslagers sollte für jeden eine Pflichtveranstaltung sein.

Lange herrschte in Deutschland der Konsens, dass etwas wie der Nationalsozialismus nicht nochmal passieren kann. Sind Sie sich da aktuell ganz sicher?

Goretzka: Ich habe auf jeden Fall die große Hoffnung - aber klar gibt es aktuell gewisse Tendenzen. Ich denke, dass viele Leute in Deutschland Angst vor der Zukunft haben und sich abgehängt fühlen. Für diese Leute ist oft die Lösung, das Problem in anderen Bereichen wie beispielsweise der Migration zu sehen.

Was lässt sich dagegen unternehmen?

Goretzka: Es ist die Aufgabe aller, diese Leute mit Wissen aufzuklären. Wenn man mit viel Verständnis auf sie zugeht und ihre wahren Probleme erkennt und behandelt, wird sich das Problem des Rechtspopulismus auch wieder lösen. Der Schlüssel zum Erfolg ist es, alle abzuholen - und zwar nicht mit hochgestochenen Worten, sondern mit Worten, die jeder versteht.

Leon Goretzka über die AfD: "Man fasst sich an den Kopf"

Was löst der starke Wählerzuwachs der rechtspopulistischen AfD in den vergangenen Jahren bei Ihnen aus?

Goretzka: Sorge. Man fasst sich an den Kopf und fragt sich, wie das passieren kann. Ich denke aber, dass viele Leute nicht aus Überzeugung, sondern aus Mangel an Alternativen die AfD wählen.

Über welche medialen Kanäle informieren Sie sich über politische und gesellschaftspolitische Themen?

Goretzka: Natürlich viel über das Internet, da kommt man um diese Informationen kaum herum. Außerdem habe ich das Handelsblatt abonniert. Darin dreht sich viel um Politik, es sind aber auch andere Themen präsent. Die Artikel sind sehr ausführlich und beinhalten viel Hintergrundinformationen. Wenn ich an einem freien Tag mal aus der Sportwelt herauskommen will, dient mir das als Ablenkung.

Sprechen Sie mit anderen Menschen viel über diese Art von Themen?

Goretzka: Wenn ich irgendetwas sehe, habe ich immer das Verlangen, mich darüber auszutauschen. Ich habe aber keinen speziellen Politik-Freund, sondern spreche darüber mit Familienmitgliedern und Freunden, mit denen ich mich genauso über andere Themen unterhalte.

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Leon Goretzka: "Die Kabine ist für so etwas der falsche Ort"

Wie sieht der diesbezügliche Austausch mit Ihren Mitspielern aus?

Goretzka: Die Kabine ist für so etwas der völlig falsche Ort, da geht es nur um unseren fußballerischen Alltag. Das soll so sein und wird auch immer so bleiben. Wenn ich mit Mitspielern wie Joshua Kimmich, Serge Gnabry, Niklas Süle, Manuel Neuer oder Thomas Müller aber essen oder einen Kaffee trinken gehe, stehen diese Themen auch auf der Agenda.

Ihr Kollege Jerome Boateng hat sich neulich über den zunehmenden Rassismus in Deutschland geäußert . "Ich dachte, wir sind schon weiter. Das waren wir auch schon mal. Aber da sind wir leider ein Stück zurückgefallen", sagte er. Haben Sie ebenfalls den Eindruck, dass es aktuell in die falsche Richtung geht?

Goretzka: Die Vorfälle werden gefühlt häufiger und auch ich dachte, dass wir in Deutschland schon weiter sind. Dieser Umstand hat mich dazu bewegt, wieder mehr Haltung zu zeigen und meine Meinung öffentlich kundzutun. Es gab zuletzt aber auch wieder positive Beispiele: Als Leroy Kwadwo von den Würzburger Kickers beim Spiel bei Preußen Münster rassistisch beleidigt wurde, halfen die Fans der Polizei dabei, den Täter ausfindig zu machen. Außerdem gab es im Stadion Jubelrufe für den betroffenen Spieler. Das ist ein Musterbeispiel, wie so eine Situation zu lösen ist. Es ist wichtig, dass solch schöne und vor allem wichtige Momente Aufmerksamkeit bekommen. Dadurch entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, bei dem jeder merkt, dass er im Kampf gegen Rechts nicht alleine ist.