"Die Emotionen in der Kabine waren geradezu surreal. Es war eine Stimmung, die ich nie zuvor erlebt hatte", beschrieb Jimmy Garoppolo nach der Niederlage der 49ers gegen die Chiefs die Gefühlslage im Locker Room seines Teams. "Das sind die Momente, von denen du träumst. Wir hatten einen guten Start, wir sind ins Rollen gekommen, doch wir konnten es nicht zu Ende bringen."
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Jede Niederlage im Super Bowl schmerzt. Jahr für Jahr kämpfen mehr als 1500 Spieler um den Einzug in das große Spiel. Den Titel als einer der wenigen, die diese Bühne tatsächlich erreichen, letztlich doch noch zu verpassen, zählt sicherlich zu den härtesten Erfahrungen, die ein NFL-Profi machen kann.
Und doch dürfte die Enttäuschung der 49ers in diesem Jahr besonders groß sein. "Es schmerzt definitv. Am Ende des Tages hatten wir sie genau da, wo wir sie haben wollten", gab Fullback Kyle Juszczyk nach dem Spiel zu. "Ich denke, das verstärkt den Schmerz noch ein wenig mehr. Wir hätten uns keine bessere Situation wünschen können."
San Francisco 49ers: Kyle Shanahan in der Kritik
Tatsächlich konnte San Francisco über den Großteil der Begegnung sein Spiel durchziehen: Die 49ers liefen den Ball erfolgreich, ermöglichten Garoppolo immer wieder offene Würfe und zwangen die Chiefs in der Defensive zu ungewöhnlichen Fehlern. Die Gelegenheit, die Uhr mit einer Handvoll erfolgreicher Runs weiter herunterlaufen zu lassen und sich so den Titel zu sichern, schien bereits zum Greifen nah. Doch sie sollte nicht ergriffen werden.
"Der Wendepunkt des Spiels war als wir einen Turnover bekamen, offensiv aber nichts Zustande brachten und ihnen den Ball sofort zurückgegeben haben", analysierte Tight End George Kittle die Geschehnisse später. "Sie sind dann 87 Yards oder so das Feld herunter marschiert. Als Offense müssen wir in diesem Moment das Spiel beenden. Und das haben wir nicht getan."
Coach Kyle Shanahan steht dabei nach der Niederlage seiner 49ers besonders in der Kritik. Der 40-Jährige traf einmal mehr fragwürdige Entscheidungen als Game-Manager: Unter anderem gab er sich am Ende der ersten Halbzeit mit dem 10:10-Unentschieden zufrieden, statt einen weiteren aggressiven Drive zu starten und setzte in den finalen Minuten des Spiels auf den Pass, statt mit dem lange Zeit erfolgreichen Laufspiel mehr Zeit von der Uhr zu nehmen.
Nach dem 3:28-Desaster der Atlanta Falcons in Super Bowl LI steht Shanahan einmal mehr nach einer komfortablen Führung im Super Bowl als Verlierer da; wenngleich berücksichtigt werden muss, das seine Play-Calls auch in der kritischen Phase der Partie mehrfach griffen, doch entweder Garoppolo das Play nicht umsetzen konnte, oder Chris Jones den Ball an der Line of Scrimmage abblockte.
"Wir werden unsere Wunden lecken und darüber hinweg kommen", zeigte sich der Head Coach nach der Partie betont optimistisch. "Ich erwarte, dass wir fast alle der Jungs im nächsten Jahr zurückbekommen und plane, noch einige andere zu holen. Wir werden uns ein wenig ausruhen und dann wieder richtig heiß aufs nächste Jahr sein."
San Francisco 49ers: Die Zukunft ist ungewiss
In Wahrheit steht den 49ers zunächst allerdings eine wegweisende Offseason bevor, in der sie nicht nur die Enttäuschung aus der Super-Bowl-Niederlage hinter sich lassen müssen, sondern auch so manche kritische Entscheidung im Hinblick auf ihre Zukunft treffen müssen werden. Shanahan könnte dabei in seiner Erwartung, alle Spieler zurückzubekommen und weitere Leistungsträger zu verpflichten, enttäuscht werden. Ob die 49ers auch in der Zukunft weiter zu den besten Teams der Liga zählen werden, steht noch in den Sternen.
Dabei kann die Organisation durchaus auf ein gutes Fundament bauen: Einige von Shanahans Entscheidungen im Super Bowl stehen zwar völlig zurecht in der Kritik, dennoch ist und bleibt er einer der genialsten offensiven Play-Caller und Play-Designer der gesamten NFL.
Dieser Eindruck wurde im Spiel gegen die Chiefs, worin Shanahan vor allem in der ersten Halbzeit Katz und Maus mit Kansas Citys Linebackern spielte, nur noch weiter verstärkt. Zudem kehren sowohl Defensive Coordinator Robert Saleh als auch Passing Game Coordinator Mike LaFleur sowie Running Game Coordinator Mike McDaniel zum Team zurück.
Darüber hinaus verfügt San Francisco mit Spielern wie Kittle, Nick Bosa, Mike McGlinchey, Fred Warner, Deebo Samuel und Emmanuel Moseley über einen jungen und talentierten Kern. Die besten Tage der zahlreichen Youngsters im Team sollten ihnen erst noch bevorstehen.
San Francisco 49ers: Defense vor Rückschritt?
Und doch wird die Franchise ihr bestehendes Team in dieser Form nicht langfristig zusammen halten können. Mit Defensive End Arik Armstead, Safety Jimmie Ward und Wide Receiver Emmanuel Sanders werden drei wichtige Leistungsträger in den kommenden Wochen Free Agents. Der Cap Space für die kommenden Jahre ist bei den 49ers knapp, erst recht wenn wichtige Stützen wie Kittle und DeForest Buckner neue, hochdotierte Verträge unterschreiben sollten.
Mit Left Tackle Joe Staley, der zu Beginn der kommenden Saison 36 Jahre alt sein wird, und Cornerback Richard Sherman, der im März seinen 32. Geburtstag feiert, gehen zwei andere Eckpfeiler des Teams zudem geradewegs auf den Spätherbst ihrer Karriere zu. Wer kann schon sagen, wie viele Saisons die beiden den 49ers noch auf hohem Niveau zur Verfügung stehen werden?
Den Erfolg der zuletzt so herausragenden Defense auch in der kommenden Saison aufrecht zu erhalten, dürfte obendrein ein beinahe unmögliches Unterfangen werden - auch unabhängig von der Zukunft von Spielern wie Ward, Armstead und Sherman. San Francisco landete in puncto Takeaways in den Top-5 der Liga, eine Platzierung, die sich anschließend kaum wiederholen lässt. Beispiele wie die der Bears oder der Jaguars in den vergangenen Jahren haben dies eindrucksvoll untermauert.
Jimmy Garoppolo: Mehr Frage- als Ausrufezeichen
Ein weiteres Fragezeichen steht zudem hinter der Zukunft von Garoppolo. Der Quarterback, der von den 49ers immerhin zeitweise zum bestbezahlten Spieler des Planeten gemacht wurde, ist den Beweis, dass er auch über Shanahans brillantes System hinaus effektiv und erfolgreich sein kann, nicht nur im Super Bowl schuldig geblieben.
Die Play-Designs der 49ers ermöglichen Garoppolo durch Motions, klar definierte Reads und jede Menge Play Action mehr einfache und offene Würfe als jedem anderen Quarterback der Liga. Gegen die Chiefs sah er in der ersten Halbzeit zwar über weite Strecken sehr gut aus, arbeitete dabei jedoch auch beinahe ausschließlich mit kurzen Pässen, die immer wieder lange Runs nach dem Catch nach sich zogen. Wirklich anspruchsvolle Würfe musste er kaum tätigen. In einzelnen Spielen in der Regular Season konnte Garoppolo darüber hinaus glänzen; doch es waren mehr einzelne Spiele als ein sich fortsetzendes Muster.
Als Shanahan am Sonntag in den Schlussminuten schließlich mehr Verantwortung auf den Schultern seines Quarterbacks abladen musste, brach dieser unter dem Druck zusammen: In den letzten vier Drives der 49ers kam San Francisco auf gerade mal 59 Yards, drei First Downs, 3,5 Yards pro Play und zwei Turnover. Garoppolo übersah bei einem Third-and-Five einen freien Kittle, überwarf wenig späten mit einem tiefen Pass einen offenen Sanders und beendete das Spiel schließlich mit seiner zweiten Interception.
San Francisco wird auch die kommende Saison mit dem 28-Jährigen als seinem Quarterback angehen, das steht außer Frage. Gelingt ihm 2020 allerdings kein weiterer Schritt nach vorne, könnte sein Status innerhalb der Franchise mehr und mehr ins Wanken geraten. Garoppolos Vertrag ist teamfreundlich strukturiert, er könnte schon in naher Zukunft beinahe ohne Dead Money entlassen werden. Nachdem er 2019 von seinem Kreuzbandriss zurückkam, wird Garoppolo zu Beginn der kommenden Saison unter einem ganz anderen Druck stehen.
San Francisco 49ers: Rams und Co. als schlechtes Omen
Die 49ers blicken somit einer ungewissen Zukunft entgegen. Das Team verfügt über einige wichtige Elemente, um auch längerfristig erfolgreich sein zu können. Ob dieses Potenzial tatsächlich vollends abgerufen werden kann, wird allerdings von der Struktur rund um diese Schlüsselteile abhängen.
In den vergangenen 20 Jahren verpassten neun der 20 Super-Bowl-Verlierer im darauffolgenden Jahr die Playoffs. Einzig die New England Patriots schafften es in diesem Zeitraum gleich in der anschließenden Saison den Titel zu holen. Die Rams aus der Vorsaison dienen obendrein als ein mahnendes Beispiel für San Francisco, sogar konkret innerhalb der eigenen Division.
"Es ist super enttäuschend. In diesem Moment ist es sehr hart", beschrieb Staley seine Gefühlslage unmittelbar nach der Super-Bowl-Niederlage seines Teams. "Du kämpft mit Leib und Seele dein gesamtes Leben dafür, Super-Bowl-Champion zu werden. Am Ende deiner Karriere realisierst du, wie selten diese Gelegenheiten wirklich sind."
Auch wenn Staley nicht an einen Rücktritt denkt und ein weiteres Jahr für die 49ers auflaufen will: Für ihn könnte diese Saison tatsächlich die letzte Gelegenheit gewesen sein.