Von 1988 bis 1993 spielte Michael Rummenigge für Borussia Dortmund. 36 Tore gelangen dem Mittelfeldspieler in 157 Spielen. Heute betreibt der jüngere Bruder von Bayern-Vorstandsboss Karl-Heinz eine Sportmarketing-Agentur sowie eine Fußballschule und wohnt in Dortmund. Rummenigge ist auch Mitglied der BVB-Traditionsmannschaft.
Ein ungeschriebenes Gesetz des Sportjournalismus will es augenscheinlich, dass ehemalige Kicker wie er sich zu den Geschehnissen des heutigen Profifußballs oder dort bevorzugt zur Situation ihrer Ex-Klubs äußern dürfen oder sollen. Häufig grenzen diese Aussagen dann an Populismus - oder sie sind es schlichtweg.
"Normalerweise suche ich mir keinen einzelnen Spieler raus, aber Julian Brandt beim Spiel gegen Inter Mailand - das war C-Jugendfußball ohne Körperkontakt und Durchsetzungsvermögen", polterte Rummenigge also im vergangenen Oktober. Der BVB hatte in der Champions League 0:2 bei den Nerazzurri verloren und in der Tat kein gutes, vor allem ein offensiv sehr harmloses Spiel gemacht.
Julian Brandt muss im Zentrum spielen
Das galt freilich auch für Sommer-Neuzugang Brandt, der als falscher Neuner aufgestellt war und für Torgefahr hätte sorgen sollen. Wer Brandt kennt weiß, dass er Rummenigges (hoffentlich?) überspitztes Urteil mit einem Schmunzeln abgetan haben wird. Ein Mehrwert wäre es stattdessen gewesen, hätte Rummenigge analysiert, woran es im BVB-Spiel hakte, so dass Brandt in vorderster Front kaum zur Geltung kam.
Denn bereits damals stand fest: Brandt ist keiner für ganz vorne, sein Platz muss zwingend eine tiefere Offensivposition im Zentrum sein. Es überraschte und dauerte jedoch, bis auch Dortmunds Trainer Lucien Favre das einsah. Dabei hatte es doch genug Anschauungsmaterial für den Schweizer gegeben. Schließlich blühte Brandt in Leverkusen unter Coach Peter Bosz erst dann richtig auf und zeigte konstante Leistungen, als er vom Flügel auf die Zehn gezogen wurde.
Favre ließ Brandt bei der Borussia aber ebenfalls zunächst auf der Außenbahn ran und verschob ihn einige Male in die Spitze. Gefruchtet hat das selten, es sei denn, Brandt ließ sich im Umschaltspiel sehr tief fallen und setzte seine Mitspieler mit Pässen ein - wie zum Beispiel beim 2:0-Auswärtssieg bei Slavia Prag, als er auf diese Weise beide Tore von Achraf Hakimi vorbereitete.
Brandt ist beim BVB nun das Scharnier
Beim BVB habe er "gefühlt schon alles gespielt", sagte der auch in der sportlichen Dürrephase im Spätherbst immer auskunftsfreudige Brandt zwischendurch. Häufig ließ er dabei durchblicken, wie gerne er einen Platz im Zentrum inne hätte. Doch es musste erst richtig knallen, ehe ihm dieser gewährt wurde.
Und zwar in zweifacher Hinsicht: Erst rissen die Bänder im Sprunggelenk von Sechser Thomas Delaney, wenig später blamierte sich der BVB beim 3:3 gegen den SC Paderborn 07. Die anschließende Krisensitzung förderte eine Systemumstellung auf 3-4-1-2 zutage - und für Brandt die nächste neue Position, auf der er seitdem glänzt.
Brandt ist nun Dortmunds Scharnier, er ist als Nebenmann von Axel Witsel im zentralen Mittelfeld die Verbindung zwischen Defensive und Offensive. "Für mich ist das optimal, ich fühle mich da richtig wohl. Ich habe lange darauf gewartet, mich im Zentrum zeigen zu können. Als ich in der Spitze gespielt habe, war ich zwar auch im Zentrum, aber als Stoßstürmer war es nicht so einfach für mich. Ich bin eben kein Spielertyp wie Romelu Lukaku", sagte Brandt.
Brandts Aufschwung: Mehr Genie als Wahnsinn
Brandt gibt nun den Sechser gegen den Ball und einen Achter, wenn Dortmund das Spielgerät besitzt. Dem 23-Jährigen ist seither sicherlich nicht alles gelungen, Brandts Spiel pendelt immer wieder zwischen Genie und Wahnsinn. Komprimiert war dies im Duell mit RB Leipzig zu sehen, als ihm mit dem 2:0 eines der brillantesten Tore der Saison gelang, er den Sachsen schließlich aber mit einem arglosen Rückpass den zwischenzeitlichen Ausgleich schenkte.
Leichtsinnige Pässe und unnötige, bisweilen gar haarsträubende Ballverluste sind bei Brandt nicht selten zu beobachten, das Genie hat den Wahnsinn zuletzt aber immer mehr verdrängt. Brandts Selbstvertrauen ist wie das der gesamten Mannschaft deutlich gewachsen. Erst recht durch die 15-Tore-Trilogie im Jahr 2020.
Brandt bestach dabei mit seiner Ballsicherheit, tollen Spielverlagerungen, guten Pässen in die Tiefe und klugen Läufen wie beispielsweise vor Erling Haalands 5:0 am Wochenende gegen Union Berlin, als Brandts Sprint in den Sechzehner die Torgefahr der Szene überhaupt erst ermöglichte. Dazu hat sich sein Defensivverhalten verbessert. Brandt führt mit die meisten direkten Duelle bei den Schwarzgelben, seine Antizipation brachte dem Team schon einige frühzeitige Balleroberungen ein.
Brandt: "Ich habe ein gesundes Selbstvertrauen"
Brandts derzeitiger Wert für den BVB lässt sich nicht an einer glanzvollen Statistik ablesen, mit drei Toren und drei Vorlagen ist er noch weit entfernt von seinem persönlichen Liga-Bestwert aus dem Vorjahr als Zehner bei Bayer (sieben Treffer, 14 Assists). Gegen die Eisernen aber war Brandt laufstärkster Dortmunder und legte sechs von 14 Torschüssen auf. Die vergleichsweise läppischen 25 Millionen Euro, die die Westfalen im Sommer nach Leverkusen überwiesen, scheinen sich immer mehr zu rentieren.
"Ich würde nicht sagen, dass ich vorher in einem Loch gesteckt habe", sagt Brandt zu seinem Aufschwung. "Ich habe ein gesundes Selbstvertrauen. Ich weiß, dass viele gute Dinge in mir stecken. Ich bin auf dem Weg dahin, dass es bei Borussia Dortmund so ist, wie viele es schon von mir kennen."
Wahrscheinlich auch Michael Rummenigge.
Julian Brandt: Leistungsdaten in der Bundesliga
Saison Verein Spiele Tore Assists 2013/14 Bayer Leverkusen 12 2 3 2014/15 Bayer Leverkusen 25 4 2 2015/16 Bayer Leverkusen 29 9 5 2016/17 Bayer Leverkusen 32 3 11 2017/18 Bayer Leverkusen 34 9 5 2018/19 Bayer Leverkusen 33 7 14 2019/20 Borussia Dortmund 20 3 3