Anhand des Platzverweises von Gladbachs Alassane Plea gegen RB Leipzig erklärt er die Probleme der neuen Regel. Meier hält den Aktionismus des DFB für ehrenwert, sieht jedoch die internationalen Verbände wie UEFA und FIFA in der Pflicht.

Herr Meier, was halten Sie vom Commitment der DFB-Schiedsrichter, bei gestenreichem Reklamieren härter durchgreifen zu wollen?

Urs Meier: Es ist wichtig, dass im Spitzensport respektvoll miteinander umgegangen wird. Für mich ist Rugby in dieser Hinsicht das Maß aller Dinge. Bis dahin ist es ein langer Weg. Grundsätzlich begrüße ich diese Verschärfung absolut. Aber das ist zu wenig, das verpufft. Am Ende zählt das Ergebnis. Sollte diese neue Weisung tatsächlich Früchte tragen, wäre das wunderbar. Aber erreicht man das auch?

Was denken Sie?

Meier: Dafür müssten alle, wirklich alle Schiedsrichter das konsequent über mehrere Spieltage hinweg durchziehen, damit die Botschaft bei den Spielern und Trainern ankommt. Die Auslegung muss aber berechenbar sein, Entscheidungen dürfen nicht willkürlich getroffen werden. Ansonsten ist die Mission zum Scheitern verurteilt.

© getty

Meier: "Wenn du wegen so einem Scheiß vom Platz fliegst ..."

In der Bundesliga zeigt Manuel Gräfe in dieser Saison im Schnitt zwei Gelbe Karten pro Spiel. Tobias Welz hingegen greift durchschnittlich über fünfmal in die Brusttasche. Inwiefern ist eine einheitliche Regelauslegung realistisch?

Meier: Es wird ewig Diskussionen geben. Einmal geht es um eine Geste, ein andermal geht es um ein Wort. Es wird keine Schwarz-Weiß-Entscheidungen geben. Das wird ganz schwierig für die deutschen Schiedsrichter. Es wird immer Schiedsrichter geben, die über das Ziel hinausschießen.

Schoss Tobias Stieler im Spiel zwischen RB Leipzig und Borussia Mönchengladbach mit seinem Platzverweis gegen Alassane Plea über das Ziel hinaus?

Meier: Ja, ganz klar. Wenn du wegen so einem Scheiß vom Platz fliegst ... da gibt es ganz andere Szenen. Jedes Spiel ist ein Kunstwerk in sich. Manchmal muss ein Schiedsrichter eingreifen, manchmal sollte er ein Auge zudrücken. So, dass es zum Bild passt. Das Spiel zwischen Leipzig und Gladbach war ein großartiges, ein schnelles und faires Spiel. Der Platzverweis passte da nicht rein. Das war so, als ob jemand mit einem roten Pinsel durch dieses Kunstwerk fährt. Wir haben offiziell 17 Spielregeln , ein Schiedsrichter hat aber eigentlich 18 Regeln. Diese 18. Regel ist der gesunde Menschenverstand. Den sollte man nicht ausblenden. Es gehört auch Verständnis für die Spieler dazu.

Die Empörung und die Kritik an Stieler waren und sind groß. Lothar Matthäus warnte etwa vor dem Verlust von Emotionen im Fußball. Wie nehmen Sie die ersten Reaktionen wahr?

Meier: Es ist immer schwierig, Fans, Spielern und Trainern Regel-Änderungen schmackhaft zu machen. Das ist normal. Aber es ist noch schwieriger, wenn eine Liga sowas im Alleingang durchzieht, während links und rechts andere Regeln gelten. Der DFB als größter Verband der Welt kann das machen, aber die Initiative müsste eigentlich von der FIFA kommen. Das muss international umgesetzt werden. Aber man sollte nicht bis zur nächsten WM warten. Das muss bei der EM 2020 beginnen. Wenn der DFB Druck ausübt, muss die FIFA Stellung beziehen.

© getty

Meier: "Verdammt nochmal! Denkt ihr, ich bin ich ein Idiot?"

Sie waren zwischen 1994 und 2004 FIFA-Schiedsrichter. Würden Sie sagen, das Meckern von Spielern und Trainern ist einfach Teil der Fußball-Kultur?

Meier: Nein, das hat sich in den vergangenen Dekaden sehr verändert. Früher diskutierten meist nur Spielführer mit dem Schiedsrichter. Heute wird jede Entscheidung, jeder Einwurf, jedes noch so klare Foul von jedem Spieler kritisiert. Als Schiedsrichter denkst Du dir: 'Verdammt nochmal! Denkt ihr, ich bin ein Idiot? Denkt ihr, ich habe keine Ahnung? Ich bin nicht hier, weil ich einfach irgendwo blind herumlaufe. Ich bin hier, weil ich das kann.' Aber die Schiedsrichter sind zu einem gewissen Grad auch selbst schuld.

Inwiefern?

Meier: Ich bin ein totaler Verfechter, die Persönlichkeit der Schiedsrichter viel höher zu gewichten. Es geht um klare Kommunikation, um Gestik, um das richtige Maß an Distanz. Der Richter hat Distanz zu seinen Delinquenten, da steht ein großer Schreibtisch dazwischen. Schiedsrichter lassen heute zu viel Nähe zu, oft suchen sie diese sogar. Man muss sich als Schiedsrichter nicht ständig erklären. Diese ewigen Diskussionen. Das sind einfach keine guten Bilder. Das nervt jeden. Ich würde mir wünschen, dass nur die Spielführer mit den Schiedsrichtern diskutieren dürften - so wie es ursprünglich einmal vorgesehen war.