Wenn ein Mensch irgendwann mal in seinem Leben richtig in der Patsche sitzt, fragt er sich nicht selten, wie es so weit kommen konnte oder bereut seine Handlungen nach einer tiefgehenden Selbstreflexion. Arda Turan aber tickt da etwas anders.

Denn als ein Gericht im September 2019 den heute 33 Jahre alten Offensivmann von Basaksehir Istanbul für dessen Angriff auf den Popstar Berkay Sahin im Jahr 2018 zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilte, sah sich Turan immer noch als Sieger und nicht als die Persona non grata, zu der er sich aus der Sicht vieler türkischer Fußballfans in einem schleichenden Prozess entwickelt hatte.

"Ich sage euch, was die Schlagzeile für morgen ist. Sie lautet, dass ich von dem Vorwurf der Belästigung freigesprochen wurde", ließ Turan via Instagram nach der Urteilsverkündung die Öffentlichkeit wissen. Die Strafe für die Körperverletzung, den illegalen Waffenbesitz, den Schuss im Krankenhaus und die darauf folgende Panik? Eine Nebensächlichkeit für ihn. Hauptsache dieser Schandfleck - der Vorwurf, er habe die Frau von Sahin sexuell belästigt - ist vom Tisch.

Arda Turan? "Kein türkischer Sportler wird mehr verachtet"

Die Wahrheit war aber eine andere. Die Schlagzeile war nicht die, dass Turan von einem von insgesamt vier Anklagepunkten freigesprochen wurde. Sie hätte stattdessen lauten können: "Ein neuer Tiefpunkt in der Karriere des Arda Turan." Eine Karriere, die lange Zeit steil bergauf ging, Turan zu Atletico Madrid und zum FC Barcelona führte und aus ihm ein Idol in seinem Heimatland machte. Doch der Ruhm von einst ist einer großen Abneigung gewichen.

"Man findet keinen Fußballer in der Türkei, der vom Volk mehr verachtet wird, als Arda Turan", sagt Alp Colak. Für den Sportjournalisten von Goal Türkei hatte Turan ohnehin nie einen richtigen Superstar-Status. Man habe Turan in seiner Zeit bei Atletico Madrid, wo er in 178 Spielen an 55 Toren direkt beteiligt und ein Star der Mannschaft war, lediglich respektiert, "aber nicht mehr".

Fatih Demireli, Chefredakteur des Fußballmagazins Socrates und Experte für türkischen Fußball, sieht das aber etwas anders. Turan sei ein "Nationalheld" gewesen, der seinen Status mittlerweile aber "längst komplett verspielt" habe.

"Das ganz große Problem ist, dass Arda es selbst nicht begreift, warum es so gekommen ist", erklärt Demireli im Gespräch mit SPOX und Goal : "Es fällt schwer das jetzt zu glauben, aber eigentlich ist er ein richtig cooler Typ. Deswegen wundern sich viele in der Türkei, wie aus ihm so eine Figur entstehen konnte."

Eine Figur, die im Juni 2017 den Journalisten Bilal Mese im Flugzeug würgt und ihn als "Hurensohn" beschimpft, im Mai 2018 einen Linienrichter attackiert und 16 Spiele gesperrt wird. Eine Figur, die bei der EM 2016 eine Revolte gegen Trainer und einstige Vaterfigur Fatih Terim wegen Bonuszahlungen anzettelt und nach Ansicht vieler somit das frühe Aus einer verheißungsvollen türkischen Mannschaft mitverschuldete.

Arda Turan bei Galatasaray, Atletico, Barca und Basaksehir

Verein Spiele Tore Torvorlagen Istanbul Basaksehir 31 2 4 FC Barcelona 55 15 11 Atletico Madrid 178 22 32 Galatasaray 191 44 76

Der seltsame Fall des Doktor Arda und Mister Turan

"Er hat sich einfach zu viel erlaubt", stellt Demireli fest. Doch all die Skandale passen für ihn eigentlich nicht zu dem Arda Turan, den er einmal selbst in Istanbul kennengelernt hat. "Durch Zufall habe ich mal mitbekommen, wie Turan mit Straßenkindern in Istanbul bis tief in die Nacht Fußball gespielt und ihnen Trikots und Essen gegeben hat. Da waren keine Kameras, das war rein privat und diente nicht dazu, sein Image aufzupolieren", erzählt Demireli. Die Dr.-Jekyll-Variante des Profis sozusagen.

Dann gebe es aber eben "diese Kehrseite", sagt Demireli. Der Arda Turan im Mr.-Hyde-Gewand, der Journalisten und Popstars attackiert, seine Handlungen auch noch rechtfertige und nicht zu seinen Fehlern stehe. "Ihm hat sein früher Ruhm, wie so vielen anderen vor ihm auch, einfach nicht gutgetan", meint Alp Colak.

Nachdem er in der Jugend von Galatasaray ausgebildet worden war, machte er lediglich zwei Spiele für die Profis des Klubs, ehe Terim ihn im Alter von 19 Jahren für die türkische A-Nationalmannschaft nominierte. Die Versprechen an seine Eltern hielt er zuverlässig ein.

Seiner Mutter versprach er einmal, dass er noch vor ihrem 40. Geburtstag "ein großartiger Fußballer" sein und ihr ein Haus kaufen werde. Sie war 39, als es so weit war. Seinem Vater hatte er versprochen, einmal Kapitän von Galatasaray zu werden. In der Saison 2009/2010 hatte er mit erst 21 Jahren auch das geschafft.

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Arda Turan bei Atletico Madrid: "Everybody's Darling"

Sein Versprechen an Galatasaray, trotz vieler Angebote zu bleiben, brach er hingegen und wechselte nach knapp 200 Spielen für den Rekordmeister kurz vor Ende des Transferfensters im Sommer 2011 doch noch zu Atletico Madrid. Ein Umstand, der ihm Jahre später, wie auch der Affront bei der EM 2016 gegen Terim, auf die Füße fallen sollte.

Als eine Rückkehr von Turan 2017 zu Galatasaray im Raum stand, initiierten die Anhänger Social-Media-Kampagnen gegen einen Transfer. "Das war ein Riesenaufstand damals", erzählt Demireli. Der Klub wollte außerdem Terim als Trainer holen, was einen Wechsel von Turan letztendlich verhinderte. "Der Bruch zwischen ihm und Terim ist nicht mehr zu reparieren", sagt Colak.

Als sich Turan Atletico anschloss, war das alles noch ganz weit weg. Dort sei er "Everybody's Darling" gewesen, sagt Demireli. Ein Emporkömmling aus dem schwierigen Istanbuler Bezirk Bayrampasa, der es aus der Nebenstraße Kar Sokagi, wo er mit den anderen Jungs immer sechs gegen sechs gespielt hatte, bis in die spanische Hauptstadt geschafft hatte und sich dort zu einem Star entwickelte.

Turan beim FC Barcelona: "Attidüde galt als arrogant"

Ein Star, den im Sommer 2015 auch der große FC Barcelona unbedingt haben wollte. Als der Wechsel über die Bühne ging, flimmerte die Breaking News über die Bildschirme aller türkischen TV-Sender. Präsident Recep Tayyip Erdogan gratulierte dem neuen Volkshelden persönlich und alles, was Rang und Namen hatte, gab ein öffentliches Statement ab. Ehemalige Trainer meldeten sich. Sie hätten Arda zuerst entdeckt. Ehemalige Mitspieler ebenfalls. Sie hätten ihm erst die entscheidenden Tipps gegeben.

Und Arda? Der erfüllte sich selbst einen Kindheitstraum. Vielleicht würde "mancher darüber lachen", hatte er noch in Diensten Galas gesagt, "aber ich träume davon, einmal in Barcelona zu spielen". Aufgrund einer Transfersperre der Katalanen dauerte es jedoch ein halbes Jahr, bis es tatsächlich so weit war. Und als es so weit war, war auch schon fast Schluss mit Arda als "Everybody's Darling".

"Die öffentliche Wahrnehmung von ihm änderte sich dramatisch. Seine Attitüde galt als arrogant", erklärt Colak. Demireli fügt hinzu, dass sich Turan zunehmend zu allen möglichen Themen auch abseits des Fußballs geäußert habe. Das habe seiner Popularität geschadet. Obwohl er in 55 Spielen für die Katalanen an 26 Toren direkt beteiligt war, fristete Turan vornehmlich ein Dasein als Dauerreservist hinter den Superstars Lionel Messi, Neymar und Luis Suarez.

Und als die sportlichen Ausrufezeichen weniger und die außersportlichen Ausrufezeichen größer wurden - Gerüchten zufolge soll Turan das Nachtleben sowohl in Katalonien als auch in Istanbul durchaus genossen haben - begann der Status von Turan endgültig zu bröckeln. Mit seinem Rücktritt aus der türkischen Nationalmannschaft 2017 nach dem Würgevorfall und seinem Wechsel auf Leihbasis zum in der Türkei unpopulären Klub Basaksehir stürzte er endgültig ein.

"Es gibt Leute, die annehmen, dass sein Umfeld an Ardas Wandel schuld sei", sagt Colak. Man könne aber nicht sagen, ob Arda diese Fehler nur mache, weil er unter einem schlechten Einfluss stehe.

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Arda Turan bei Basaksehir: In der Sackgasse der Maschine

Mittlerweile ist es einsam geworden um Turan. Selbst Präsident Erdogan, der im März 2018 noch als Trauzeuge auf seiner Hochzeit zugegen war und den "Sündenbock" Arda sowohl nach dem EM-Aus 2016 als auch nach dessen Angriff auf den Journalisten Bilal Mese 2017 verteidigte, schwieg zum Schießerei-Skandal von Turan.

Auch sportlich ist er auf einem Tiefpunkt angelangt. Als Barca-Leihgabe war er bei Basaksehir weit davon entfernt, Stammspieler und Führungsfigur zu sein. "Er hat dort nie überzeugen können", stellt Demireli fest: "Als er kam, war das eine super intakte Mannschaft, die wie eine Maschine gespielt hat. Da hat er einfach nicht reingepasst."

Der einst als bester türkischer Spieler des Jahrzehnts betitelte 33-Jährige bat im Januar 2020 um eine vorzeitige Vertragsauflöung. Er wolle "ein neues Kapitel in seiner Karriere" aufschlagen, hieß es in der offiziellen Mitteilung. Diesem Wunsch habe Basaksehir entsprochen.

Eine Rückkehr zum FC Barcelona gilt als unwahrscheinlich, obwohl die Katalanen aktuell auf Stürmersuche sind, um den langzeitverletzten Suarez zu ersetzen. Turans Vertrag bei den Katalanen läuft noch bis zum Sommer. Türkische Medien berichteten zuletzt über einen bevorstehenden Transfer zu Galatasaray Istanbul, dort soll er einen Vertrag über eineinhalb Jahre erhalten. Angesichts seiner Vorgeschichte wird er dort jedoch nicht mit offenen Armen empfangen werden, sollte er tatsächlich zu Gala zurückkehren.

Turan hat sich in seiner Karriere in eine Sackgasse manövriert. "Dass er da sportlich noch einmal zurückkommt, wage ich zu bezweifeln", sagt Demireli.